Im Gespräch mit Morrissey

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Die auf seinen Covern abgebildeten Stars waren stets Charaktere aus Film oder Literatur, die gegen den Status quo angekämpft hatten, insbesondere im Zusammenhang mit der Sexualität. Einige waren zwar an den engen Moralvorstellungen ihrer Zeit zerbrochen, hatten aber dennoch Ruhm oder wenigstens zweifelhaften Ruhm erlangt oder hatten allen Vorurteilen zum Trotz große Kunst geschaffen.

Es zeichnete sich klar ab, dass Morrisseys persönlicher ästhetisch-künstlerischer Geschmack im Auswahlprozess der Smith’schen Ikonografie eine enorme Rolle spielte. Ich wusste, dass auf musikalischer Ebene zwar eine kreative Partnerschaft mit Johnny Marr bestand, doch war Morrissey eindeutig der Schöpfer des Smith’schen Manifests. Häufig gab es einen inhaltlichen Grund, warum ein bestimmtes Bild für eine Single oder ein Album ausgewählt wurde, doch ging es dabei immer auch um Stil und Präsentation dieser künstlerischen Bilder. Sofern es die Umstände zuließen (bei „What Difference Does It Make?“ war dies nicht der Fall), dienten sie eindeutig dazu, jemand anderen als die Smiths selbst zu feiern oder ins Schlaglicht zu rücken. Das allein war radikal, selbstlos und beinahe selbstironisch.

Seit „This Charming Man“ – der ersten Top-40-Single, die aber ohne den Einsatz auf Radio One nur einen unglaublich enttäuschenden 25. Platz erreichte – war jede Single-Veröffentlichung der Smiths ein mit gewaltiger Spannung erwartetes Ereignis. Paul Morley erklärte im NME, „This Charming Man“ sei „einzigartig und unentbehrlich, wie ‚Blue Monday‘ und ‚Karma Chameleon‘“.

Es ging dabei aber nicht nur darum, dass man die Stücke zum ersten Mal hörte – diese bewusst andersartigen, beinahe sturen, gekonnt gestrafften und Radio-One-unfreundlichen Singles. Nicht minder wichtig waren die hervorragenden B-Seiten (wie „Jeane“ und „Back To The Old House“), die kunstvolle Verpackung und die in den letzten Rillen verborgenen Botschaften: „Kiss my shades“2, „Schlag mich auf der Veranda“, „Für immer krank“, „Wird die Natur endlich einen Mann aus mir machen“.

Den Hinterbacken aus Margaret Walters The Nude Male auf „Hand In Glove“ folgte auf „This Charming Man“ ein narzisstisches Foto von Jean Marais aus Orphée, auf welchem dieser sein eigenes Spiegelbild betrachtet wie in leidenschaftlicher Selbstliebe und Autosexualität versunken.

Die dritte Single der Smiths, „What Difference Does It Make?“, mit ihrer bekenntnisartigen Eingangszeile („Alle Männer haben Geheimnisse …“), schien den Weg der Band in den Mainstream vorzuzeichnen: Im Januar 1984 erreichte der Titel Platz zwölf in den Charts. Doch dieser Schwenk von relativer Unbekanntheit in Richtung eines kommerziellen Erfolges brachte seine eigenen Probleme mit sich.

Morrissey wollte auch diesmal ein künstlerisch wertvolles Cover gestalten und hatte sich bereits für ein Bild eines seiner Lieblingsschauspieler entschieden – ein Foto von Terence Stamp aus einer Verfilmung von John Fowles’ Roman The Collector (Der Sammler). Darin spielt Stamp einen Schmetterlingssammler, der eine Frau entführt und gefangen hält, was Morrissey zu der Zeile „Du kannst mich aufspießen …“ in „Reel Around The Fountain“ inspiriert hatte.

Stamp verweigerte zunächst seine Zustimmung, so dass Morrissey für die offizielle Veröffentlichung selbst Modell stand. Er versuchte, wie ein grinsender Stamp auszusehen, hielt jedoch statt Chloroform ein Glas Milch in der Hand. Später sagte er mir: „Ich wollte eigentlich nicht auf dem Cover abgebildet werden, und außerdem war es das hässlichste Bild, das meine Augen je erblickten.“ Schließlich legte Sandie Shaw ein gutes Wort für die Smiths ein, und Terence Stamp änderte seine Meinung, doch war dies längst nicht das einzige Problem, das der erste Top-20-Hit der Band mit sich brachte.

Johnny Marr hatte nicht einmal gewollt, dass „What Difference Does It Make?“ überhaupt erschien, und zudem offen über Probleme bei den Aufnahmen zum Album gesprochen. Er hatte den ersten Mixen von Troy Tate skeptisch gegenübergestanden („Sie klangen wie Demoaufnahmen“), und schließlich hatte man den Ex-Roxy-Music-Mann John Porter herbeigeholt, um das Debüt der Smiths zu retten.

In den achtziger Jahren waren Singles noch sehr wichtig, wurden jedoch viel zu häufig als Wegwerfprodukte und Eintagsfliegen behandelt. Alben hingegen mussten Gewicht und Langlebigkeit besitzen. Sie mussten substanzieller sein als eine zusammengeschusterte Sammlung von 45er-Scheiben, sie mussten eine großartigere Aussage haben, um eine Fangemeinde zu begründen und die Künstler von den vielen flüchtigen Popsternchen der damaligen Zeit abzugrenzen.

Eine gute Produktion und ein nach außen getragener schillernder Lifestyle (wie bei „Rio“ von Duran Duran) reichten dazu nicht aus. Echte Meilensteine mussten schon etwas Besonderes bieten. Nicht zwingend ein Konzept im Stil von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band oder, Gott bewahre, ein durchgehendes Thema wie bei Pictures At An Exhibition von ELP – aber doch das Gefühl einer emotionalen Einheit, einen einzigartigen Stil, der den Zuhörer magisch anzog, ihn in seinen Bann schlug und hungrig auf mehr machte. Außerdem musste ein „Independent“-Album deutlich anders klingen als die Mainstream-Musik der frühen Achtziger: Es durfte sich nicht in sinnlosen Gitarren- und Schlagzeugsoli erschöpfen oder mit Synthesizern und mehrspurigen Gesangsaufnahmen überladen sein. Es musste alles viel menschlicher, direkter klingen.

Ich erinnere mich daran, dass ich The Smiths in J.G. Windows Plattenladen in der Central Arcade in Newcastle kaufte und es auf der alten Sharp-Kompaktanlage meiner Eltern in deren Wohnzimmer in der Bentinck Road zum ersten Mal abspielte.

Als ich dasaß und zusah, wie sich das graue Label drehte und sich die stumpfe Nadel lautstark auf das statisch aufgeladene Vinyl senkte, war ich auf eine Enttäuschung gefasst. Schon zuvor hatte ich mich gefragt, ob Morrissey eine ausreichend starke Persönlichkeit wäre, um der zunehmend scharfen und spöttischen Kritik standzuhalten, die sich allzu gerne gegen sein Aussehen, seinen Gesang, seine Ansprachen und seine kontroversen Themen richtete. Außerdem bezweifelte ich, dass die Smiths in der Lage wären, ein Album abzuliefern, das es mit ihren ersten Singles aufnehmen könnte. Viele andere Gruppen (zum Beispiel The Police) schienen für mich reine „Single-Bands“ zu sein, die ihre 45er zusammenstellten und ein Album daraus machten; das Album als Ganzes schien indes keine erkennbare Aussage zu besitzen.

Die Smiths bewiesen jedoch, dass sie noch weit mehr konnten, als gute (und doch aus verschiedenen Gründen kommerziell erfolglose) Singles einzuspielen. Die Musik war wunderschön, komplex, emotional und kraftvoll. Über alledem schwebte ein visionärer Text, der einen mitleidigen und doch ermutigenden Blick auf schwierige Zeiten warf.

Je öfter ich dieses erste Album anhörte, desto mehr klang und erschien es mir wie eine bewusste Absichtserklärung: kontrovers, sexuell zweideutig, provokativ und gleichzeitig originell und stilvoll. Das Cover offenbarte eine von Morrisseys Obsessionen: Andy Warhol. Es zeigte den nackten, muskulösen Oberkörper des schwulen Pin-Ups Joe Dallesandro. Dieser war der Star von Warhols Flesh gewesen, ein Film aus dem Jahre 1968, bei dem bezeichnenderweise Morrisseys Namensvetter Paul Morrissey Regie geführt hatte. Das Warhol-Thema tauchte auch im Text von „Reel Around The Fountain“ auf, welches mehr vom Verlust der Jungfräulichkeit und Unschuld zu handeln schien als vom Sex unter Minderjährigen: „Die Leute sagten, du seiest leicht zu beeinflussen, und sie hatten halb recht damit.“ („Reel Around The Fountain“ sollte eigentlich die Nachfolgesingle von „Hand In Glove“ werden, doch dann kam das makellose „This Charming Man“ ins Spiel.)

An anderer Stelle bewegte sich The Smiths mit schlafwandlerischer Sicherheit von der Komik eines „Miserable Lie“ („Ich würde gerne deine Unterwäsche stibitzen“) zur süßen Poesie von „Pretty Girls Make Graves“, das sich in fröhlichen Tönen mit unerfüllter Leidenschaft, Ablehnung und Sterblichkeit befasste, und der wahrhaft anmutigen Poesie von „The Hand That Rocks The Cradle“. Letzteres baute auf einer Zeile von Al Johnsons „Sonny Boy“ auf und war aus der Perspektive eines liebenden Elternteils oder eines Schutzengels geschrieben. Es handelte auf einer fast spirituellen Ebene vom Schutz eines verletzlichen Kindes und der Furcht, dass es bald mit der verdorbenen Außenwelt in Kontakt geraten könnte: „Mein Leben werde ich geben, dich zu behüten, sollte der schwarze Mann versuchen, deiner heiligen Seele einen Streich zu spielen …“

Symmetrisch betrachtet (im Sinne der beiden Seiten des Original-Vinylalbums) war „The Hand That Rocks The Cradle“ der wohlbehütete Zwilling des kontroversen, schaurigen und doch bewegenden „Suffer Little Children“, eines der einfühlsamsten, eindringlichsten und umstrittensten frühen Songs der Smiths. Der Text von „Suffer Little Children (Leidet, ihr kleinen Kinder)“3 ließ das entsetzliche Grauen der Moormorde Revue passieren: Ian Brady und Myra Hindley hatten zwischen 1963 und 1965 fünf Kinder aus Manchester gefoltert, sexuell missbraucht und schließlich ermordet. Als das volle Ausmaß der Verbrechen bekannt wurde, war der kleine Steven Patrick Morrissey erst sechs oder sieben Jahre alt und durch diese Ereignisse vor seiner Haustür und auf den Straßen, wo er spielte, sicherlich stark verängstigt. (In späteren Texten kehrte er zu ähnlich mörderischen Themen zurück, etwa in „Michael’s Bones“, „Ambitious Outsiders“ oder auch „The Youngest Was The Most Loved“.)

Obwohl sich die meisten Leute mit Morrisseys und Marrs ersten Erklärungen zufriedengaben, dass ihre gemeinsame Liebe zur Musik von Patti Smith letztendlich zur Wahl des Bandnamens geführt habe – Smithdom und The Smith Family hätten ebenfalls zur Debatte gestanden –, so erschien es trotzdem signifikant, dass eines der ersten Kapitel des viel beachteten Buches Beyond Belief (A Chronicle Of Murder And Its Detection) des Schauspielers Emlyn Williams mit den Worten „The Smiths …“ begann.

 

Warum spielte Morrissey mit diesem Tabuthema? War das nicht glatter Karriereselbstmord, insbesondere, nachdem man ihn in der Regenbogenpresse bereits fälschlicherweise bezichtigt hatte, er habe in „Reel Around The Fountain“ und „Handsome Devil“ Sex mit Minderjährigen und Pädophilie beschönigt? (Eine Schlagzeile in der Sun vom 25. August 1983 hatte gelautet: „Kindersex-Song bringt Sänger in Verruf“) Nach einem negativen Bericht in der Manchester Evening News, der auf die seelischen Leiden abhob, welche „Suffer Little Children“ bei den Familien der Opfer ausgelöst habe, gab Rough Trade schließlich eine Pressemitteilung heraus. Darin legte Morrissey dar, dass der Song ein „Mahnmal für die Kinder und alle anderen, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren ist“ sei. (Die Tantiemen wurden der NSPPC (National Society for the Prevention of Cruelty to Children) gespendet. Ann West, der Mutter von Lesley-Ann Downey, dankte man auf dem Cover von Meat Is Murder für ihr Verständnis.)

Von Anfang an schien Morrissey auf maximale Provokation aus zu sein, um all jene, die ihn nicht „kapierten“ oder mochten oder verstanden, möglichst stark zu irritieren – insbesondere die eindimensionalen Betonköpfe, die damals die britischen Medien beherrschten, jene aufrechten männlichen Schwulenhasser, die gegen den Feminismus eingestellt waren und Morrisseys Ikonen samt und sonders jegliche Bedeutung absprachen.

Trotz seiner schauriger Themen – insbesondere jenes Augenmerks auf gefährdete Kinder und die Moormorde, welche die in den späten Fünfzigern geborene Generation ebenso traumatisiert hatte wie der Fall von James Bulger die Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger geborenen Kinder – verströmte das Album viel Hoffnung und Wärme. Dies empfanden insbesondere all jene von uns, die verzweifelt nach einem Job suchten, um genug Geld zum Überleben zu verdienen – jene von uns, die allein in ihren Kämmerchen saßen und mit dem Zustand, in dem sich die Welt und insbesondere die Popmusik befand, völlig unzufrieden waren.

War The Smiths wirklich ein so trostloses Album, wie viele meinten? Suhlte es sich in seinem eigenen Unglücklichsein? Paul Du Noyer beschrieb es im NME als „sparsame Beatmusik“, was damals die perfekte Beschreibung der „unabhängigen“ Produktionstugenden war, für jenen schnörkellosen Rough Trade-Sound, der den vielspurigen elektronischen Aufnahmen der großen Labels den Stinkefinger zeigte. Du Noyer ging sogar so weit, zu sagen, „die Smiths machen eine Musik, die perfekt ist für jenen nicht unbeträchtlichen Teil der britischen Jugend, dem die Imperative von Disco und Dancefloor nichts sagen und der gegen die Reize des eskapistischen Glamours immun ist.“

Abermals wurde die Bedeutung von Morrisseys alternativem Weltbild durch die politische und wirtschaftliche Situation in Großbritannien in den Jahren 1983 und 1984 hervorgehoben. Nach dem auf den Falkland-Konflikt folgenden Wahlsieg war der Thatcherismus in seiner ganzen Brutalität spürbar geworden. „Ich bete nur, dass es irgendwo noch einen Sirhan Sirhan gibt“, hoffte Morrissey Anfang 1984, womit er sich auf das Attentat auf Robert Kennedy bezog. Die Arbeitslosigkeit nahm zu, als traditionelle Industriezweige des Nordens wie Stahl, Schiffsbau und Kohle zusammenbrachen – und mit ihnen die Arbeitergemeinden, die von ihnen abhingen.

Die politischen Kommentatoren sprachen überzeugend von einem Nord-Süd-Gefälle und merkten an, Thatcher regiere das Land möglicherweise nur zugunsten jener 20 Prozent der Wählerschaft, die tatsächlich für ihre Partei gestimmt hatten, hauptsächlich im Süden und in den Bezirken um London. Man darf nicht vergessen, dass Thatcher, wie ein ungeliebter mittelalterlicher König oder ein Diktator der Dritten Welt, damals Teile ihres eigenen Landes nicht ohne einen fast schon militärischen Schutz bereisen konnte.

Morrissey besaß vielleicht kein Parteibuch der Linken, auch war er alles andere als politisch korrekt und äußerte sich zu seinen eigenen sexuellen Ansichten niemals unmissverständlich offen, doch da in der Labour-Partei nach der Gründung der Sozialdemokraten ein heilloses Durcheinander herrschte, war er zumindest eine kritische Stimme aus dem Norden, die man nicht überhören konnte.

Tatsächlich war Johnny Marr der politisch aktivere der beiden musikalischen Partner. Die Smiths spielten in Glastonbury, auf dem Greater London Council’s Festival For Jobs und später auch für die sozialistische Jugend-Musik-Polit-Organisation Red Wedge. Morrissey indes unterstützte die Frauenproteste von Greenham Common, die vegetarische Lobby und die Tierschutzbewegung.

Angesichts seiner Schüchternheit, seiner Vergangenheit und seiner regelmäßigen Hinweise auf eine unglückliche Kindheit war es schier unglaublich, dass sich Morrissey zu einer starken, lautstarken und (zumindest meiner Meinung nach) gleichzeitig äußerst humorvollen Persönlichkeit entwickelte. Er schien weitaus vernünftiger daherzureden als die meisten seiner Zeitgenossen und betrachtete die unsichere Welt, in der wir alle lebten, obendrein mit einem gewissen enttäuschten Realismus (den man ihm oft fälschlicherweise als Pessimismus auslegte). Er war nicht selbstgefällig oder zuversichtlich, aber sehr direkt und rechthaberisch. Insbesondere war es ihm offenbar völlig egal, ob er irgendwo Anstoß erregte.

Als Bürger Manchesters irischer Herkunft, dem die Todesfälle einiger im Hungerstreik befindlicher IRA-Häftlinge noch gut im Gedächtnis waren, konnte Morrissey vielleicht nicht anders, als seiner Enttäuschung darüber Ausdruck zu verleihen, dass Thatcher im Oktober 1984 nicht bei einem Bombenanschlag der IRA auf ein Hotel in Brighton umgekommen war. Das Attentat hatte dort logierenden Delegierten gegolten, die an einer Konferenz der Konservativen Partei teilnahmen. „Das Traurige an dem Bombenanschlag von Brighton ist, dass Thatcher ungeschoren davongekommen ist. Das Traurige ist, dass sie immer noch am Leben ist.“ Vielleicht können Popstars nicht die Welt verändern. In einer Zeit aber, als es den Besten an Überzeugung mangelte, während die Schlechtesten voller Leidenschaft zu Werke gingen (um es in Anlehnung an den großen Dichter William Butler Yeats zu sagen), schien dies eine ziemlich mutige Aussage.

Ob im Radio, in der Presse oder der Flimmerkiste in der Zimmerecke – an Morrissey kam man nicht vorbei. Er sagte viele großartige Sätze, schnitt in seinen Texten komplexe und unbequeme Themen an, klaute von großen Schriftstellern und aus unbekannten Filmen. Er benahm sich nicht wie andere Rockstars, die normalerweise unter dem Einfluss von Alkohol, Drogen und Lust oder durch Wohlstand und Apathie (oder durch alle fünf) jeden Bezug zur Realität verloren. „Ich bin nicht manisch depressiv, sondern nur realistisch“, sagte er im Jahre 1986. „Ich bin niemand, der singend in einem Heuschober herumstolziert und eine Cognacflasche schwenkt.“

Wie Prefab Sprout satirisch anmerkten, reichte es den meisten Popstars, radiotaugliche Songs über Autos und Mädchen zu schreiben. Selbst wenn ihre politischen Standpunkte anfangs noch radikal wären, wurden sie doch bald durch satte Tantiemenzahlungen und die Verlockungen des Ruhmes korrumpiert. Dann sammelten sie Sportwagen und eröffneten Forellenzuchten.

Nicht so Morrissey. Kaum hatten sie (wer immer sie auch sein mögen) ihn aus seiner Kiste und auf die Bühne gelassen, stach er in ein Wespennest nach dem anderen. Er pries die Arbeitslosigkeit und sexuelle Verirrungen, sang vom Verlust der Unschuld und erinnerte die britische Gesellschaft an die schlimmsten Verbrechen und ihre Täter.

Irgendwoher schien er den Mut zu nehmen, kontroverse, komische Aussagen zu machen, welche die meisten anderen in der Öffentlichkeit stehenden Personen tunlichst vermieden hätten. Als zum Beispiel Ende 1984 „Do They Know It’s Christmas“ erschien, die Anti-Hunger-Single des Band-Aid-Projekts, kommentierte Morrissey dies folgendermaßen: „Schön und gut, wenn man sich um die Menschen in Äthiopien sorgt, aber muss man deshalb gleich die englische Bevölkerung tagtäglich der Folter aussetzen?“ Das war zwar weder politisch korrekt noch auch nur im Entferntesten förderlich für Geldofs Kampagne „Feed The World“, dafür aber ungeheuer lustig.

Der Thatcherismus war selbstherrlich und geldgeil. Demgegenüber stellte es Morrissey als etwas Positives dar, wenn man seine Unzufriedenheit mit der aktuellen Lage in Großbritannien offen äußerte. Das gesamte Jahr 1984 hindurch befand sich die konservative Regierung in einem zunehmend erbitterten Konflikt mit der von Arthur Scargill geführten National Union of Mineworkers. Ich lebte damals wieder bei meinen immer noch trauernden Eltern im Nordosten, hatte keine Freundin, trank zu viel und arbeitete für eine Abendzeitung namens The South Shields Gazette. Der perfekte Soundtrack für meinen traurigen Sommer im Jahr des Bergarbeiterstreiks war „Heaven Knows I’m Miserable Now“ von den Smiths: „Ich suchte nach einer Arbeit, und dann fand ich Arbeit …“

Es klingt vielleicht ein wenig übertrieben, aber die Smiths waren mir definitiv eine Hilfe, ja, veränderten mich sogar. Seit dem Konzert im Venue spürte ich, dass ich Teil eines fantastischen, neuen und exklusiven Untergrundkults war. Musikalisch war es mit nichts vergleichbar, was ich zuvor gehört hatte (und seither gehört habe), und im Zentrum stand dieser seltsame Typ, den man sexuell nicht genau einordnen konnte, die Geißel des Äthers, der Mann, bei dem man höchstwahrscheinlich in die Suppe prusten musste oder vor Lachen an seinen Nudeln erstickte, wenn man ihn mit Perlen behängt bei Top Of The Pops herumhüpfen sah.

Man konnte Morrissey entweder mögen oder hassen, dazwischen gab es nichts. Er trug zu große Klamotten mit Blumenstickereien auf der Gesäßtasche zu Ehren von Oscar Wilde. Auf seinen nackten Bauch hatte er mit Lippenstift die Worte „initiiert mich“ geschrieben, auf seinen Hals „schlecht“; nicht zu vergessen diese Johnny-Ray-Hörhilfe und die geklebte Gemeindeschwestern-Brille mit Kassengestell. Was für ein seltsames, sonderliches und doch auf seltsame Weise gut aussehendes Wesen er Anfang der Achtziger doch war! Schwule Männer wollten mit ihm ins Bett gehen, Frauen wollten ihn bemuttern, sensible heterosexuelle Männer wollten wie er sein oder von ihm gemocht werden.

War er wirklich so seltsam? Bei näherer Betrachtung schien Morrissey wie ein moderner Kaspar Hauser aus Manchester einer Höhle entsprungen zu sein, in der er Jahre damit zugebracht hatte, a) im Fernsehen Coronation Street4 anzusehen, b) Filme des Sixties Social Realism anzuschauen, c) sich zu weigern, den Tod von James Dean zu akzeptieren, d) über die schlecht gemachten, unbeholfenen Carry-On-Filme zu kichern, e) Geschmack am Schock-Rock der New York Dolls und der Anti-Establishment-Aggression des Punk zu finden, f) die Füße von Sandie Shaw zu küssen und dem üppigen Busen von Diana Dors zu huldigen, g) sich in die Androgynität von Bowie und Bolan verlieben und vor allem h) Leben und Werk von Oscar Wilde gierig zu verschlingen.

Im Spätsommer des Jahres 1984 – als Sandie Shaw bei einer gemeinsamen Darbietung mit den Smiths (ohne Morrissey) ihre Beine bei „Hand In Glove“ in die Luft warf und die vierte Single der Band, „William, It Was Really Nothing“ in die Top 20 kletterte (mit einem wahrhaft erstaunlichen Song namens „How Soon Is Now?“ auf der B-Seite der Maxi) – bewarb ich mich auf eine Anzeige im Guardian um den Posten eines Korrektors beim New Musical Express. Daneben beschäftigte ich mich viel mit Morrisseys Texten und fragte mich, wer um alles in der Welt dieser Mann war und wo zum Teufel er herkam.

2 Kiss my shades (Sonnenbrille) – ein Wortspiel mit Kiss my ass; im irischen Slang (s. Morrisseys Herkunft) ist shades auch ein Schimpfwort für Polizisten.

3 Der Text von „Suffer Little Children“ bezieht sich auf Hindle Wakes, ein wegweisendes Arbeiterklassendrama aus der Zeit König Edwards, ein Werk des aus Manchester stammenden Dramatikers Stanley Houghton.

4 In Coronation Street geht es im Frühjahr 1974 unter anderem um eine Produktion von Oscar Wildes Ernst sein ist alles mit Annie Walker als Lady Bracknell. In einer Episode gibt Ernie Emily ein Exemplar von Wildes gesammelten Werken.