Die Forelle

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8 Siegi findet den wilden Fleischhacker
im zwielichtigen Wald

Ich rannte um die Fliegenfischereilizenz, meine Existenz, die Stange unter meinem Flanellhemd gegen meine Brust geschmiegt wie ein sicher gehaltenes Kind. Das Kunststück gelang mir ganz gut, im Dunkeln über Wurzeln zu hüpfen und schemenhaft in Augenhöhe auftauchenden Ästen auszuweichen. Nur einen Zweigstreifschlag bekam ich ins Gesicht, stolperte bloß und fiel nicht mehr. Die Wochen und Monate, ja Jahre Training Böschungen hinabzusteigen, über Gartenzäune zu klettern und durch Stromschnellen zu waten, machten sich bezahlt. Nichtsdestotrotz verlor ich mich im Unterholz, ahnte nur noch die Bundesstraße irgendwo hinter den letzten Bäumen des Waldes. Langsam erst, je mehr ich keuchte, desto mehr schlich ich, und je langsamer ich ging, umso deutlicher begriff ich, dass ich keine Ahnung mehr hatte, wo ich mich überhaupt befand, was mir erst recht wieder den Atem nahm. Ich hielt inne an einer Stelle, wo ein Wildwechsel in ein Rohrdickicht eintrat und eine Eiche quer darübergefallen war. Zu meinen Füßen bildete der Baum einen immens weiten Winkel mit dem Waldboden wie eine sehr flache Rampe. Direkt hinter den abgeknickten Kronenzweigen begann der Stamm an meinem Schienbein. Eine gefühlte Ewigkeit weiter reichte er mir erst bis zum Knie. Jedes Fußaufsetzen war gedämpft vom Humus und begleitet vom Schmatzen meiner durchgeweichten Schuhe zu vernehmen. Das Wasser rann mir noch aus den Haaren übers Gesicht. Bei jedem weiteren Ausschreiten fielen die Tropfen von meinem vollgesogenen Hemd. Ich hätte es auswringen können, mein nasses Flanellfell, doch es fröstelte mich schon so. Außerdem ekelte mich die Ähnlichkeit meines nackten Oberkörpers mit denen der Bierdümpel. Sie waren doch Sauproleten. Wie konnten sie Burschenschaftler sein? Gab es auch schlagende, nichtstudentische Verbindungen? Schlossen sie sich zusammen zu obskuren, paramilitärischen Verbänden? Oder brachten ihre gendarmerieakademischen und bäckermeisterlichen Ausbildungen die Bauernschädel vor etlichen Jahren in irgendwelche Fuchsenstuben von Linz, die wiederum Ableger brauchten in dieser Provinz, wohin sich diese Gesellen passenderweise wieder vertschüssten mit ihren Diplomen, Zeugnissen und Urkunden und dann machten, wie sie wollten? Eine Fechtlizenz führten sie bei ihrer Wiederkehr wohl nicht mit sich. Immerhin sah Friedls und Fredls wilder Zwist keineswegs nach irgendeiner Mensur gemäß altehrwürdigem Regularium aus. Sekundanten hatte es keine gegeben und auch ihre Bewegungen waren so unterschiedlich gewesen, als wäre alles möglich, nicht von verbindlicher Norm geformt. Früher wüsste sie nicht, wie sie Ademiker schreibe, heute sei sie eine, eines von Lenas Lieblingsflügelworten. Heute ja eher, Siegi, bring doch mal den Müll raus, womit sie nur mein Bindematerial meinte in zweideutiger Manier, gerade so anspielungshaft, dass ich ihr keine Bösartigkeit anlasten konnte. Und dann dieser Volki, verdammt, ihr Führer. Neben mir lief der inzwischen mannsdicke Eichenstamm kaum auf Höhe meiner Hüfte. Bis zum Bauchnabel, gebremst und gehalten von der Gürtelschnalle, war der Fliegenfischstange Korkgriff hinabgerutscht. Vor meiner Nase streckte sich wie ein langer Stängel der Schaft gegen den Himmel, zwischen den Sternen die Spitze, der ich nachlief wie ein Esel seiner Karotte, statt mich nach dem fixen Polarstern umzusehen. Zwar schimmerte am Vorfach der Mondschein, doch in meinen Beinen schrie der Frost. Ich roch kalten Angstschweiß, den das Flusswasser an mir gelassen hatte. Meine Füße hörte ich immer öfter auftreten innerhalb derselben Zeitspannen wie eben noch.

Kein Ziel vor Augen, keuchend mein Atem, wurden meine Zehen taub, meine Schritte immer kürzer und schwerer. Um mich zu bücken und meine Schnürsenkel zu lösen, blieb ich stehen. Ich meinte, ich bekäme keine Luft, derweil lag eine Hand auf meinem Mund. Von den Füßen schmiss es mich. Zurückgerissen wurde ich. Mit solcher Gewalt, dass keine Schleifspuren den Humus pflügten und unter dem vorhangartigen Blätterwerk an meine Fersen führten. Halb geflogen, halb gefallen, auf diesen Fleck. Brutal angefühlt, sicherlich nicht, das Gespür noch vertrieben aus meinem Gesicht. Mit bibbernden Lippen hockte ich auf dem Boden einer Art Höhle, von dem majestätischen Eichenstamm erschaffen und überdacht. Die Rückwand bildete das noch in Walderde eingefasste Wurzelwerk, die Seiten wurden von dunklem Rohrdickicht umstellt und von mannsdicken Ästen verhängt. Ein Zweig war abgeknickt und ein Blatt fiel noch die letzten Zentimeter, wo ich geschnappt worden war und in diesen Käfig hereingezerrt. Erst jetzt, als es seinen Segelflug beendet, ich es ein, zwei Sekunden verwundert angestarrt hatte, und schließlich, als es mir darniederliegend nicht weiter bemerkenswert, wie ein integraler, bald verwitternder Bestandteil des Waldbodens vorkam, nahm ich ein Gesicht wahr, das direkt vor mir schwebte.

Das flächendeckende Gewächs rundum schirmte uns gegen jedwedes Licht, und die folglich hier drin herrschende Finsternis gab einen unsichtbar machenden Hintergrund ab für all das Schwarz, das sich diese Gestalt über ihr Antlitz geklatscht hatte. Nur das zu Schlitzen verengte Weiß der Augen enttarnte das Wesen. Es starrte mich an. Es entfernte sich langsam, wodurch ich in Kontraktionen, Dehnen, Wabern und Spannen die Halssehnen zu sehen bekam, weniger eine abgrenzbare Fläche als Morphformen in mordsdunkler Nachtluft. Das Augenpaar hob und die schwarzen Punkte darin senkten sich. Der Körper des Wesens bäumte sich auf aus kauernder Haltung. Immer noch gebückt, das Genick direkt unter dem Eichenstamm, schaute es mich weiter an. Ein Blinzeln löschte schlagartig das Weiß, ließ es gleich wieder aufscheinen, verriet, dass selbst das Lid schattig gepinselt war. Langsam schieden sich die Konturen der Gestalt vom Hintergrund. Ich erkannte Schulterblätter statt Eichenzweigen, schwarzes Haar vor schuppiger Rinde, lange Beine neben oberschenkeldicken Ästen. Herabhängende Hände verdeckten Rohrdickicht, indem sich Arme ausbreiteten wie Fledermausflügel, die sich als dunkle Wolldecke entpuppten. Die Gestalt stülpte sie mir mit einer fliegenden Bewegung über und um den Oberkörper. »Siegi?« – »Bist du deppert?« – »Bist du komplett deppert?« – »Was machst du hier?«, und er nickte mit bestätigendem Blick, der sagte, du machst den Mund zu oder ich die Gurgel auf. »Wie schaust du denn aus?«, sagte Kurti, wieder zu voller Größe aufgepflanzt vor dem Eichenstamm, die Spitze eines weitmaschigen Ponchos zwischen den Beinen, Säume als Dreiecksschenkel um beide Oberarme laufend, selbst auseinandergehend wie eine Baumkrone. In grob gespachtelten, krustenartigen Schichten lag die Schminke auf seinen Wangen, und aufgerieben schien sie zu werden, abzublättern und zu Boden zu bröckeln, wenn er die Backen beim Sprechen bewegte. Bevor es noch raschelte außerhalb der Höhle, schleifendes Huschen näher kam bis auf wenige Schritte, wandte Kurti schon seinen Kopf, schickte Blicke ins Dickicht: »Nur Kleinwild«, wieder zu mir gewandt und das Geräusch verschwamm, wie wenn ein Friseur durch Filzknubbel und anderes Zausen und Reißen am wohlfeilen Ende des Kammschwungs durch trockenes Haar ankommt. Noch enger schlang ich die Decke um meine Schultern und schmiegte mich hinein, zog die Enden fest im Schoß zusammen mit meinen darin umwundenen Händen, dass es mir die Härchen auf den Gliedern elektrisierte. Ein Schauern schlich mir, als übersetzte sich das Kribbeln direkt in mein Steißbein, das Rückgrat hinauf, ins Genick, weiter wie ein aktivierter Reizreflexbogen den Hals entlang, stimulierte Stimmbänder, zitterte Zunge wie Zäpfchen an, defibrillierte die Kiefer, worauf mein Hirn erst nach Worten hastete, ich stammelte mich verhaspelnd: »Sie hind sinter hir mer, Kurt!« Während Kurti sich setzte, seine Finger um eine schwarze Thermoskanne schloss, die Kappe abschraubte, dampfenden Kaffee eingoss und mir reichte, nickte er in einer Tour. »Bursch, sie dind on Kurtenschaften irganisiert.« Mit dem Herabrinnen zweier Tropfen über den Gefäßmantel zwischen meinen Fingern schwappte auch die Beruhigung zu mir herüber. Ich ließ mich zurück, lehnte den Rücken gegen das Wurzelwerk, die brennheiße Flüssigkeit in Händen, das Aroma atmend, und seufzte. Rascheln strich wieder durchs Rohrdickicht, begleitet von scheuem, tierischem Fiepen riffelte es weg von unserem Versteck, schrubbte im Unterholz, verschwand weniger im Stillhalten, als dass es verklang in der Ferne, und ich vernahm schon eine Flinte fauchen. »Hab ich ves erschreckt?« Ob er noch immer oder schon wieder nickte, wusste ich nicht, doch die Bewegung wurde jetzt aggressiver, eckig irgendwie, hammerartig, das kundige Schlagen eines Herings in den Humus, dass eine Schlafstelle geschützt war vor Wind und Wetter und herumirrendem Getier durch ein Zelt in wilder Gegend. »Atme mal leiser!« Ahnungslos getadelt senkte ich den Blick auf seine Schuhe, die nichts anderes als Bärentatzen waren, sah schon Jäger und Weidmänner am nächsten Morgen ebenfalls diese Stelle abtasten mit Blicken, die Bodenabdrücke lesen, allerdings im Stehen, Genickverrenkungen und große Augen machend, sich dann verwirrt die Gesichter zuwenden und einander, wie und warum da jetzt wieder Vieh weggekommen war, den klaren Fall erklären. Dann durchkämmen sie den Wald auf der Suche nach weiteren Spuren und kämen überein, viel zu gefährlich, um Hetzen oder Treibjagden zu veranstalten, das käme ja einem Gleicheinschläfern der eigenen Hunde gleich.

Kurti nickte, plötzlich mehr Weiß im Gesicht, taxierte meine nassen Schuhe. »Ich geh jetzt lieber nicht, nicht?« Jäger mit ihren visierschielenden Blicken über Vorderlader hinweg, rundherum hockend in eichenhölzernen Hochsitzen, dass eine Umzingelung entstand, ein Fort um den Forst. Zigaretten hielt Kurti mir hin. Ohnehin ersetzte mein Atem schon die Wölkchen über der Thermoskannenkappe. Kurtis schwarz lackierte Nägel und seine finster gepinselten Finger verdeckten ein Gros der mir unbekannt gestalteten Schrift. »Danke, immer noch nicht.« – »Bitte schon wieder«, nickte Kurti und ich nippte vom Kaffee. Noch rann er warm meine Gurgel hinunter. Ich stellte die Thermoskannenkappe vor mich hin. Kurti fischte zwei Zigaretten aus dem Päckchen. »Immer noch nicht schon wieder«, sagte ich und ließ mich zurück gegen das Wurzelwerk. Meine Hände gerieten an das feuchte Moos, das rund um mich den Boden überzog. »Ich nehme mal an, Feuer können wir nicht anmachen.« Kurti nickte und der weiße Strich ging in sein schwarzes Gesicht. Ich kraulte das krause Moos, versuchte meinen Händen ein behagliches Gefühl einzujagen. Kurti griff unter seinem Poncho an sich herum. Meine Glieder ließen sich erfolglos streicheln, wich doch das Gespür immer mehr aus meinen frierenden Fingern. Nicht mal die Kaffeekappe lockte sie noch, bestand sie doch aus demselben thermoisolierten Stoff wie die Kanne, die neben Kurti stand, der jetzt zwischen Daumen und Zeigefinger ein Sturmfeuerzeug hochhob. Ich tunkte meinen Mittelfinger in den lauwarmen Kaffee. »Das sieht von draußen wie ein Glühwürmchen aus?« Kurti nickte, legte langsam alle Finger um das Sturmfeuerzeug und hielt es an seine Zigarettenspitze. Nachdem ich nicht wusste, wie voll Kurtis Thermoskanne, wie sehr er zu teilen geneigt war, tat ich noch einen Schluck, wenige Tropfen, kalter Stein. Kurti drückte den Daumen nieder, das Hochdruckgasventil öffnete sich mit Fauchen, der Funke sprang, hauchte Tabak und Papier in Flamme. Kurti packte das Sturmfeuerzeug mit der Hand neben sich, in der auch die Zigarette war. Kunststoff klackte an Metall, ein Glutwiderschein blitzte an einer Klinge, auf dem stählernen Fleischerbeil kam das Sturmfeuerzeug zu liegen.

 

»Das bleibt doch unser kleines Geheimnis hier?« Kurti nickte. Ich registrierte, keineswegs Moos zu kraulen, sondern Wolle, die von meiner Kleidung inzwischen vollgesoffene Decke. »Also wenn ich nicht erfrier.« Im Rhythmus der Züge, die Kurti von der Zigarette nahm, zitterten seine Muskeln. Sie vibrierten, wenn er Rauch einsog, wenn er Rauch ausstieß, ruhten sie. Er schien seinen Atem bewusst zu steuern wie amerikanische Elitepioniere hinter der Front, die während Spezialeinsätzen ganze Nächte in ufernahem Flusswasser verharren. Er ließ seine Muskeln bewusst kontrahieren wie österreichische Gebirgsjäger in Firnfeldern, die zu Trainingszwecken rundenweise Zirkeltraining in mannshohen Neuschneemassen machen. Tage konnte Kurti hier sicherlich so zubringen, hingekniet, Oberschenkel auf Wade liegend, ganz gerade sitzend, vom Scheitel die Wirbelsäule bis zum Steiß auf die Fersen eine Linie, die Arme seitlich angelegt, Ellenbogen durchgestreckt, neben die Füße zu Fäusten geballte Finger auf den Waldboden gestützt, Knöchel voran. Keine Miene verzog er, streng im Takt zitternd, sogar die Zigarette noch auf der Achse symmetrisch im Mund, den Rauch rhythmisch ausatmend, die Glut langsam heranziehend, starr die Augen darüber auf mich gerichtet, der ich zählte, ob auch sein Aschen, ohne einmal Hand anzulegen, nur mit Bewegen der Lippen, einem Metrum gemäß ablief. Immer wieder fiel ich heraus. Meine Zähne klapperten aufeinander, hielten sich dabei an keine stete Frequenz und verquirlten mir das Zählen im Hirn, erzeugten einen schrecklich skelettierten Ton: »Meiße, kalt ist schir.« – »Der Wald hat die Frische gepachtet.«

Hirschfaschiertes frisch aus dem Fleischwolf, tiefgefrorenes Fichtenkreuzschnabelfrikassee, feuersturmfordernde Schweineschwanzstücke für den Grill, filigrane Froschschenkel in Frischhaltefolie, frittierfettspritzende Forstschwerarbeiterschnitzel, feinfaserige Filets, schwarze Schulterschinkenwälder, verpackt von fachkundigen, fliegenden, richtigen Fingern in Fettpapier, Ćevapčići und Schaschlik, hinter Kurtis Ladentheke, all diese Schätze lagen allenthalben auf fröhlichen Zungen und wurden in freudigen Mündern geführt, wann auch immer das Thema im Gespräch auf die Fleischhauerei des Meisters kam, wohin es mich immer zog, gscheit finsteres Fleisch, was ich stets ersehnte, wenn ich den Einkaufswagen unter Halogenlampen schob, durch die steril ausgeleuchteten Reihen griffbereit liegender, in Plastik eingeschweißter Ware, über verlässlich alle paar Meter das Vorderrad fangende Fliesen, die nach ätzendem Citrusreiniger stanken und den ganzen Einkaufswagen erbeben ließen, in diesem rhythmischen Ruckeln und Scheppern das Ticken der Verfallsdatumsuhr und das Vorwärtsmucken der Kühlkettenunterbrechungssekundenzeiger nur verdoppelten. Kurti jedoch machte alle paar Wochen seine Kesselheiße, will heißen, kam in welches Haus auch immer sich das leistete mit seinem riesigen Topf, brachte das Wasser darin zum Kochen mit dem feuerspuckenden Mund eines Flammenwerfers, einem Schweißgerät, einer Gaskartusche, einer Fackel, einem Campingkocher, einem Bunsenbrenner, einem Sturmfeuerzeug, einem Streichholz, womit man auch wollte, die Show gehörte ebenfalls dazu. Dann drehte er den mitgebrachten Fleischwolf, faschierte die unlängst geschlachteten Jungtiere live, packte den Brei ins Gedärm, schnürte die Wurst ab, knotete sie zu und prackte sie hinein ins kochende Wasser, heizte ordentlich ein, fischte sie wieder heraus den frischest möglichen Gaumenschmaus. An alle Anwesenden verteilte er eine Zigarette, nickte, wies auf ein serviertes Weckglas, in das er schon die ganze Zeit kettenaschte, und sagte, »am besten vorher, ist eh noch zu heiß.« Gegen Aufschlag schlachtete er sogar unmittelbar, in der Badewanne, wechselweise auch auf folienausgelegtem Boden, brachte Haken mit, hängte das Tier an die Decke und schnitt die verwurstbaren Stücke im Beisein der baldigen Tafelgemeinschaft heraus. Berichten zufolge brachte er sogar manchmal die schwangere Mutter und begann die Prozedur mit einem Kaiserschnitt, »frischer gehts nicht, noch nicht mal Kalb«, sagte er dann, angeblich nannte er das immer den Kaiberlschnitt. Aber man soll ja nicht alles glauben, was die Gerüchteküche verzapft. Habe man genug Geld in der Tasche und Zeit zu warten, Kurti beginne das Abendmahl mit der Befruchtung bei den Kunden zu Hause, hieß es. Niemand hätte Kurti eine ganze Trachtzeit lang ausgehalten.

»So sieht man sich wieder«, unter dem Eichenstamm. Er zündete sich eine neue Zigarette an der alten an, drückte den Stummel aus und ließ ihn in einen unter dem Poncho hervorgeholten Plastikbeutel fallen. Er schenkte mir brühheißen Kaffee nach und hielt mir nochmal die Schachtel hin. »Jetzt sitzen wir hier.« Ich nahm eine Zigarette heraus, ließ sie mir von Kurti entzünden. Die züngelnde Flamme wärmte meine Finger an und schon beim ersten Zug wusste ich, Marlboro, vielleicht das Päckchen umdesignt, sicher nicht die Rezeptur. Ich pustete den Rauch Richtung Blättervorhang und Rohrdickicht, blähte dabei die Backen, achtete darauf, leise auszuatmen. Eichelgesiebt verließ die Schwade das Versteck, tiefsitzende Nebelfetzen, Morgentau, Bodenfrost, Frische und Kälte, brodelnde Kochtöpfe. »Wir zwei Glühwürmchen.« Kurti nickte. Ich trank von dem Kaffee. Er brannte im Mund. Eine taube Stelle fühlte ich dann mit der Zunge am Gaumen. Schweigend rauchten wir weiter. Kurti immer noch hingesetzt wie ein Moslem kurz vor dem Beugen, ich hingefläzt wie ein armer Poet im finsteren Wald. Ich inhalierte tief ein letztes Mal und schickte eine Atemwolke hinüber zu ihm. Sie waberte vor Kurtis Gesicht herum und tunkte die schwarze Schminke in einen grauen Ton, dass das Weiß seiner Augen und die Wangenfarbe sich näher kamen. Hinter dem Blättervorhang lag das Sternenlicht auf dem Wildwechsel, materialisiert auf Pilzen, wilden Gewächsen, Lianen und Zwergtannen, auf Krüppelkiefern und findlingsmäßig aus dem Boden stehenden Schieferschichten, über die Moos kroch. Wie ein nächtlicher Zuckerguss und grüngraue Streusel stritten und fochten die Pionierpflanzen und das vom Himmel kommende Licht um die freien Steinflächen, bis das Moos etwas schneller zur Stelle war, sogleich aber selbst erhellt, silberspitzig, was etwas wahnsinnig Trauriges hatte, wie Menschen, die als allererste ihren Fuß auf Festland setzen, sogleich zermalmt werden unter den nachrückenden Sohlen.

Ein Rascheln kam auf, von fern erst und bald von nah, als eine gewaltige Hirschsilhouette jenseits des Wildwechsels zwischen zwei umfangreichen, in ihren Wurzeln und Kronen zusammengewachsenen, von dickwindigen Misteln verzweigten, eine Pforte formenden Baumstämmen erschien, als die paarhufigen Beine, keine Körperteile, sondern eher fallholzige Verästelungen des Forstes selbst, schrittweise das Tier Brust voran, kapital und majestätisch langsam aus der Dickung zur Mitte der länglichen Lichtung brachten, als hätte es keine Wahl, eben jetzt in die Welt zu treten. Sein Haupt neigte und Kiefer entzweiten sich, Zunge und Zähne, Moos äsend, das zwölfendige Geweih, es schwebte da, gleichgestaltet der moosfelligen Schieferplatte, die das Tier nährte, das Schaufeln formende, abwurfbereite, moosig bastbesaitete Stück am Wildtierkopf, voll von Blutgefäßen die testosterongeschwängerte Trophäe, als ob sie am Opferaltar darniederläge. Kurtis stierende Augen, die oder wir, schweiften weg, der Wald war immer schon der Forst, sahen ab von der Lichtung, geh spazieren, taxierten das Beil, auf der wilden Seite, fixierten wieder mich. Seine Finger juckten nicht. Er wirkte müde und lasch. Dann haschte er doch. Fasste eine Zigarette aus der Packung. Das Klicken des Feuerzeugs hallte wider wie eine Flinte in leerem Wald. Aber bloß in mir, denn das Wildtier war nicht voll, weder Blei noch Moos, schon gar nicht sonst was, stand da, aß. Es sei wohl der Platzhirsch und fehle zu sehr, fehle zusehend, falle auf, wenn er ausfalle, nicht mehr auftauche. Kurti nickte, stockte, zitterte, rauchte.

»Warum kommst du nicht mehr zu mir?«

»Die Schlange ist zu lang.«

9 Menschen, die in malerischen
Gegenden herumstehen und
gegenständliche Malerei bereden

Gerade vor Wochenenden, samstags und feiertags versammelte sich nahezu das ganze Kaff vor Kurtis Fleischerei. Nach einer guten Stunde Autofahrt parkte ich dann meinen Mercedes am Straßenrand hinter der Ortstafel, um mich als Letzter einzureihen in die mehrere hundert Meter lange Menschenmauer, an deren Ende Kurtis kleiner Laden zu sehen war, zumindest bei gutem Wetter, bei Föhn, der die Luft zu Glas machte und scheinbar sogar noch diese Schicht zum Klirren brachte, als wäre einfach nichts, jede Verunklarung weggenommen, zwischen mir und den feingezeichneten, zum Greifen nahen Fichtennadeln, die einzeln abzählbar vor den Kalkalpenhängen schwebten. Provinzler in Lodenmänteln und Jack-Wolfskin-Jacken hingegen drängten sich mir in den Blick, wenn es Schnee stöberte, und die langen weißen Wehen verhängten in ihrem Vorübergehen von rechts nach links, in russlandhohen Nordostwindböen tallängs die Sicht auf das Ziel. Zu Ostern noch jagte oft der Raureif seine Kristalle über die umliegenden Felder und Vorgärten. Die anstehenden Kunden ließen Fäustlinge, Zipfelmützen, Skimasken und Schals zu Hause, um mit aufgesprungenen Lippen und ekzemgebeutelten Händen die gereichten Plastiksäcke über der Theke entgegenzunehmen. Stand ich endlich vor Kurti, sagte er nur:

»Siegi.«

»Kurti.«

»Wie gehts der Familie?«

»Noch alle vollzählig.«

Dann breitete er das saisonale Angebot vor mir aus, wobei er manche Waren, für vier gar nicht zu schaffende Bratenstücke oder riesige Schwarzfußkeulen außerhalb meiner Preisklasse beiseiteräumte. Er entfernte sich durch eine hinterwandige Tür und holte noch andere Schlachtstücke, in Fettpapier eingeschlagen, das er vor mir hinter der Thekenscheibe entfaltete wie eine uralte Papyrusrolle, die mit Gott weiß welch edlem Gesetzestext beschriftet war: »Rindsrouladen«, beispielsweise sagte er dann, »extra fett, nicht so trocken wie das Gesochs im Supermarkt«, und direkt daneben lag dann »Beiried, kein Gramm zu viel, pures Fleisch, ohne Flachsen, keine Faxen bei mir«, und Kurti zwinkerte mir dann zu, weil er wusste, dass er mir gegenüber aufwarten konnte mit diesem hochdeutschen Vokabular, hatte ich doch in Salzburg studiert. So richtete sich das Sortiment hier, nicht wie überall anders umgekehrt, nach den Kunden und ihren Wünschen, die Kurti feinster Nase erriet, witterte, was wiederum bloß bedeutete, es richtete sich nach ihm, was er für gut befand, was er gerade vorrätig hatte, was er empfahl, er nahm einem sowohl die quälende Auswahl als auch die ausschusshafte Qualität der Supermarktprodukte ab. Keinesfalls hat jemals jemand wirklich geordert und gekauft, was hinter der Ladentheke zu den angeschriebenen Preisen feilgeboten war. Allen wusste Kurti spezielle Angebote zu unterbreiten, die er aus den schier endlosen Weiten seines Lagers im hinteren Ladenteil zusammenstellte. Zum Teil dieser Überraschung wegen schon zogen die Leute Kurtis Fleischhauerei den wie Meilensteinen allenthalben in die Landschaft gepflanzten Supermärkten vor, die, wo sie auch waren, die gleichen Waren führten, jedweder Abwechslung bar.

 

Anlass zur Unterhaltung boten mir die endlos variierbaren Visionen von Kurtis Lager, das angeblich nie ein Mensch gesehen, geschweige denn betreten hatte und die ich mir demgemäß mal als riesige Bibliothek voller Abertausender Leitern und Regalfächer beschrieb, Kurti parallel als blinden Bibliothekar mit geschwärzter Nickelbrille und Zettelkasten voller gestanzter Karteikarten, die er erst gelehrt und verständig abtastete, bevor er bombensicher argentinisches Rind von den Brettern fasste; mal als schlichter Raum voller zu erklimmender, schlimmer als der K2 ansteigender Filethaufen und vereister Schnitzelgipfel vorgestellt, Kurt in Steigeisenschuhen, mit Fleischpickel in der Hand, Adrenalinschweiß unter der Haube und Sauerstoffflasche auf dem Rücken; mal als labyrinthischer Keller imaginiert, in dessen Mitte der Staub von den letzten Sandalenkampfschritten noch in der Luft schwebte und ein monströses Mischwesen aus Rind, Schwein, Wild und Geflügel mit den Hufen scharrte, halb wahnsinnig, aus dessen Flanken Kurti mit antiquarischem Schwert frische Scheiben hieb; mal als Bastelatorium bezeichnet, wo Kurt mit Nadel und Faden die Einzelteile seiner Schlachtopfer verband, festgeschnallt auf einem Narrenhausbett à la du-entwischst-mir-nicht-mehr-in-den-Wald den wieder synthetisierten Körper dem Odem einhauchenden Blitzschlag überließ, um sie defibrilliert, panisch schwanzwedelnd, blutdurchpulster Gefäße, zu Tellern geweiteter Pupillen im dunklen Turmzimmer, vor Schreien fast schon aufspringender Halsschlagadern, nochmals frischer auseinanderzunehmen; und mal im warmen, flackernden Licht einer eiskalten Pathologie gezeichnet, voller Viehschubsärge und Kurtis Rauchausstoß, seinem eigenbrötlerischen Gebrabbel auf Diktiergerät, das die chirurgischen Eingriffe seines einzigen Kollegen und Lehrlings, Mister Kurt, kommentierte, inspiziert unter Elektronenmikroskopen, durch die er das Gewebe, die Abwesenheit von Karzinomen und Genmutationen kontrollierte; mal als karibischer Strand, auf dem in Liegestühlen und an Beistellklapptischen voller Limonadencocktails die Tiere in der Sonne brieten und Kurti sie nur sabbernd anzugaffen brauchte von einem benachbarten Barhocker aus, wo er noch einen Bahama Mama bestellt und abwartet, bis sie herzkasperlmäßig für immer die Augen zutäten.

Fließbandmedikation, Antibiotikaabfertigung, Hormonterror, Psychobeschallung, Mozarttierhaltung, Massenprogramme und Masttherapie jedoch kamen nie vor in diesen einfallslosen Visionen. Sie waren angeschottert mit durchaus saisonabhängigen und zeitungsmeldungsäquivoken Variationen, wie viele organische Eisberge Kurti nicht bestieg in dem Jahr, da dieser österreichische Achttausendsasser seinen letzten Himalayagipfel erklommen hatte. Ich behielt diese verfilzten und vielzitierten Bilder für mich, sinnierte vor mich hin, in die Schlange eingegliedert und ausgeklammert. Wenn ein Gerücht die Linie machte, sich mein Vorderjemand voller auf Lodenmänteln besonders klettenhaft haftender Schneeflocken geheimnistuerisch zu mir umdrehte, den Schal herunternahm vom schlecht rasierten Gesicht, auf Zehenspitzen gehend die Sohlen der Bauernschnürschuhe knickte, die Fersen in die Höhe hievte, die Lippen fast an mein Gesicht, da spitzte schon mein Hinterjemand das von einer extra hochgeschobenen Steirerhutkrempe bewindschattete Ohr über meine Schulter, um dem Gerüchteerzähler seine Geschichte abzunehmen und weiterzuspinnen den Provinzfaden entlang. Abgefahren sei der schwule Friseur, der eines Tages aus Wien hier eingeritten sei, von hinten an seinen Lover geschmiegt und geklammert auf einer pastellgelben Kawasaki Ninja. Nicht mal lenken könne der selbst und nehme demgemäß diesmal, nachdem es ihm ein für alle Mal gezeigt gewesen sei nach letzter Samstagnacht und er erledigt geworden sei, wie es Kölnischwasserbadern wie ihm gebühre, den Zug zurück. Denn selig sind die, wie ein österreichischer Kabarettist unlängst wissen ließ, die verzichten könnten auf den Nahverkehr, sie wären gefeit vor schreienden Kindern und jüdischen Düften, verbannt im umgekehrten Sinn der schwule Friseur, dorthin, wo er hingehöre und herkomme, sagte mein Vorderjemand mit methanolbetäubten und kältegemarterten Wangen voller Pusteln. Der schwule Friseur hätte ihn gewiss nach dem Rasieren balsamiert mit einer alkoholfreien Lotion. Vergib ihnen, Vater, aber überlass sie Satans Gulaschsuppe, denn Dummheit schützt vor Höllenqualen nicht und für den Eintopf wird stets minderwertiges Fleisch gesucht. Im Anschluss des eben erst geendeten Schneefalls war alles besonders gut vernehmbar, jedes Geräusch, sämtliche Klänge, alle Vokabeln. So kam die Geschichte auch schon hinter meinem Hinterjemand bei einer steinalten Frau an, die ebenfalls gut riechbar war, der greise, nasenbeißende Schweiß gelöscht vom Schneien. Geöffneter Mäulchen samt vierundvierzigfachen Insektenfresserzähnen noch darin, weiß wie Eis, hingen die Nerze von ihrem Mantel, verströmten noch das Zyklon B, mit dem sie erstickt worden waren auf irgendwelchen Pelztierfarmen in der Tschechischen Republik, vermutlich über die Grenze geschmuggelt, verpackt in vollen Mottenkugelkisten, penetrant strahlte die Frau auch deren Geruch aus in die olfaktorisch geleerte Landschaft.

Wie schön es gewesen sei, replizierte die Dame die Geschichte um ein weiteres Detail bereichert, auf das ich hätte verzichten können, dann Sonntagmorgen nach dem Gottesdienst einen Pfiff trinken und die Marktgasse hinunterpromenieren, oh, sie schüttelte ihre Zotteln, schwenkte die Nerze. Als kleiner Gschrapp sei sie schon so gerne in die vereisten Pfützen gesprungen, dass sie brachen und weit um die jetzige Dame herum gleißende Spleiße warfen. Ein Zniachtl sei sie gewesen, eine Frostblumenballerina, schnell und schalkhaft wie der Eisvogel, der den Fischen im Bach den Schnabel durch die Flanke rammt und wie ein Kolibri in der Luft steht. Klar waren dem flatterhaften Mädchen im blauen Wintergewand wie dem Vöglein im Federtand manche Forellen zu groß, wie die vielschichtig vereisten, tieferen Pfützen. Für die war es nicht schwer genug und doch hinterließ es schon als Gschrapp glücklich unzählige Latschenoberflächen als hochkomplexe Rosenblütenblättergeflechte tausendfach kristallhaft ineinanderfrakturiert leichten Schritts auf seinem Waldspaziergang in den Sonnenuntergang. Aber am liebsten, so lieb war ihm das Knacken, unter dem die Eisoberflächen auseinanderschnalzten. Schlafend Stunden später habe es ihm am Trommelfell gelegen im warmen Bett, dass es die Decke am nächsten Morgen zurückschlug, den einen Gedanken im Schädel, auf seinem Schulweg es all diesen festen Pfützen zu zeigen. Und trat dann wieder kein Knacken an sein Trommelfell bei der nächsten robusten Frustfläche, wünschte es sich einen stahlkappenversehenen Fußtritt an seinen steigeisigen Hörapparat. Ein paar Jährchen hochschwanger später auf einer Mutterschaftsausfahrt nach Wien habe sie dann gesehen und gehört, wovon es all die Jahre geträumt hatte als kleines, phantasiebegabtes, übergangenes, aus der Provinz, aber auch aus diesem Volk kommendes Mädchen, das schon gesunden Instinkt entwickelt hatte dafür, was ihm einmal gehören, wessen Erbe es sein, wie es es erwerben sollte, durch das Einschmeißen von Fensterscheiben, das Plündern von Geschäften, das Vertreiben von raffgierigen Fremden, das Bestehen auf einem Leben, das ihm niemand rauben durfte, worauf es von Rechts wegen Anspruch hatte, und sei es nur Wohnraum, bestünde es bloß in einem unleistbaren Ballographen, einem besonderen Ölmalkasten, einem schönen Stück Fleisch.