Die Forelle

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

3 Wie Nina diesen Siegi so findet
und wie Siegi mit etwas Hilfe die
perfekte Goldkopfnymphe bindet

Ich saß am Küchentisch, den Blick auf das Fenster gerichtet, die Läden waren noch geschlossen, ich sah nur den schwachen Abglanz meines eigenen Spiegelbildes, bekämpft schon vom Morgenlicht, das zwischen den Latten der Fensterläden schräg hereinbrach, in sieben Horizonte gesiebt, während ich Ernstl im Nebenzimmer ächzen hörte beim Auseinanderziehen der drei ineinandersteckbaren Schäfte seiner Fliegenfischstange. Die frühmorgendlichen Bachforellen hatten gefräßig in und kämpferisch gegen die Strömung Spannung auf die Karbonfasern gebracht und die Einzelteile der Rute voll Wut zusammengezurrt. Schwer atmen hörte ich den Alten in seinem Refugium, ich vernahm das Quietschen zweier glatter Steckteile beim Scheiden unter Ernstls zittriger Hand und bei dem Gedanken daran, dass ein Zusammenstecken dreier Schäfte gleitend und lautlos vor sich ging, überkam mich Euphorie, so sehr, dass ich die grüne Kunststoffschatulle von der Eckbank riss und auf die Tischplatte vor mir pfefferte. Sie schepperte und rappelte und metallisch kratzte der Inhalt an den Scheidewänden der Box. Ich klappte den Deckel auf, ein Koffer fast der Größe nach. Der Boden war in verschieden große Einbuchtungen unterteilt. Da lagen nackte Haken ihrer Kleinheit nach sortiert bereit, allesamt widerhakenlos. Goldköpfe in ebenso unterschiedlicher Konfektion schauten mich an. Die vertraute grüne Wolle war meterweise verpackt in Plastikbeutel mit Vakuumdruckverschluss. Ebenso verhielt es sich mit den blauen Flachsfasern, den weißen Katzenhaaren und den Hahnenhechelbalgen verschiedenster Couleur. Nur Ninas Haar wurde stets frisch geschnitten. Ich griff den Bindestock ebenfalls aus der Ecke, wichste ihn auf den Tisch und hörte Ernstl ein letztes Mal stöhnen, und die auseinandergehenden letzten beiden Teile der Fliegenfischstange quietschten wie am Spieß zwischen den Kostbarkeiten, die in Ernstls Schatzkammer noch warten mochten, zwischen allen Reliquienschreinen seiner Asservatenkammer, die ich wie eine heilige, tabuumwitterte Gruft nie sehen sollte, zwischen all den Fliegenfischstangen Ernstls ritterlicher Waffenkammer, zwischen den Regalbrettern, Kommoden und Schränken an den Wänden, die ein Zimmer formten oder vielleicht zwei, eine Küche und ein Badezimmer womöglich, wahrscheinlich ein ganzes bewohnbares Appartement, sicher immer reserviert, nicht nur zwischen Ernstls Grazaufenthalten, sondern gewiss das ganze Jahr, harrend seiner Ankunft, wenn die Herberge nicht zu klein war und finanziell zu schwach, zu wenig abwarf, und ich blickte mich um, saß hier, Stube und Küche ineins, während Ernstl schon ohne jede akustische Spur die drei Schäfte meiner Fliegenfischstange zusammensteckte, ein leises Vergnügen, ein heimliches Geschenkzurechtmachen wie zu Weihnachten zwischen den heimeligen Wänden von Ernstls Zimmer voller gerahmter Fliegen und Kalender, überbelichtete Fotografien, wunderschöne nackte blonde Frauen, die sich neben eben gefangenen, dem Wasser entstiegenen kolossalen Forellen im satten Flussufergrün räkelten oder gerade einen von goldenem Flaum bedeckten Arm ausstreckten, um einen ahnungslosen Jüngling namens Hylas ins kalte Nass eines dunklen, von Bäumen umstandenen Weihers zu zerren. Ein Gefährte des Herkules war er gewesen, müde von vielen Abenteuern und vom Arbeiten, was in der beiden Falle dasselbe bedeutete. Hylas und Herkules hatte es auf der Suche nach Rast in diesen Hain verschlagen, aber was war Rast ohne Stärkung, Erquickung und Erfrischung. Der arme Tropf wollte nur eben Trinkwasser holen und ward von niemandem mehr gesehen, abgesehen von diesen Nixen, soweit ich mich entsann. Willi Wasserhaus hieß der Maler, der jene Szenerie auf die Leinwand brachte, und entweder hatte ich die Erklärung vergessen, warum Herkules seinen Diener nicht begleitete und ihm half, oder der Mythos enthielt einfach keine, enthielt sich dessen. Nun ja, sonst hätte es ja auch nichts zu malen gegeben. Hätte sich Herr Wasserhaus eben ein anderes Sujet suchen müssen. War der eigentlich mit Hundertwasser verwandt? Sicher hätte es dem Halbgott einen Platz im Olymp beschert, die Nixen zu besiegen. Eine Bande aufsässiger, auftauchender Wassermädchen zu bändigen entsprach allemal dem Wert, eine dutzendköpfige Schlange zu erschlagen.

Unter solchen und ähnlichen Überlegungen stellte, ich ohne besonders darauf zu achten, die erste Goldkopfnymphe bis zum letzten Handgriff fertig, als mich Ninas aufdringliche Präsenz zum Verharren zwang. Ihr Haar fiel ruhig auf die Träger der blauen Latzhose, nach denen sich die hereinschleichenden Sonnenfinger streckten. Sie legten ihren erhellenden, verheißenden, scheinenden Griff um den Aufschlag der derben, leinenen Bauernbluse, die Nina trug, suchten und fanden um den offenen Kragen spitzlichtfindig die Sehnen ihres entblößten braunen Halses. Dieser Aufzug deutete auf Gartenarbeit hin, und normalerweise jätete, tränkte und pflanzte sie auch allenthalben ein. In diesem Moment aber stand sie da, pflanzte nur sich selbst vor mich hin, bewegungslos, sah mich an, der ich wohl genauso leer in die Luft vor ihr starrte. »Er mag dich wirklich sehr«, sagte sie dann, immer noch starr. »Du, Nina, darf ich mal?«, fragte ich, und sie stutzte, markierte in ihrem Stillstand genau die Mitte von Ernstls Auf-und-ab-geh-Strecke, die Zwölf zwischen elf und eins. Dann sah ich an dem erleuchteten Latzhosenträger, wie ihre Brust in Bewegung geriet, noch bevor ihr Gelächter glockenhell und doch voll Spott an mein Ohr schallte. Nina beugte sich vor, stützte sich mit den Ellenbogen auf die Tischplatte, und der Schatten auf mir verging, ich war im Licht, ihr Kopf sank bis auf Augenhöhe dem meinen entgegen. Eine gute Unterarmlänge trennte unsere Nasen voneinander, sie sah mir direkt in die Pupillen. Mein Blick spiegelte sich darin und glitt ihre Haare hinab, die sich in Hunderten Strähnen auf der ganzen Tischplatte verteilten. »Ja, danke«, sagte ich und griff nach der goldenen Nagelschere. An einer außerordentlich gut gepflegten, splisslosen Spitze schnitt ich ein paar Zentimeter ab, vielleicht insgesamt drei. Zwischen Daumen und Zeigefinger nahm ich das dicke, leicht gelockte Haar, sah darüber hinweg, und als die Spitzen zwischen Daumen und Finger verschwammen in der Peripherie meines Gesichts, bemerkte ich, dass genau zwischen mir und dem Bindestock Ninas Kopf war. Immer noch schaute sie mich statt der Nymphe an. »Zwei Jahre lang ist er verzweifelt. Er nannte das immer sein Schülerfischen«, ihre Lippen bewegten sich ungemein eindringlich. Bei den Vokalen schäumten in ihrem Mund einzelne Speicheltropfen, die folgende Zischlaute sogleich wieder verwischten und in die Wassermasse einpflegten. »Wie Menschenfischen meinst du?«, sagte ich und ihre Augen blitzten. »Eher wie Fliegenfischen«, ein Lichtstreif geriet an ihr elektrisiertes, blondes Haar und ließ es aufleuchten, kein bisschen totes Eiweiß mehr, eher lebendiger Schmuck. »Aber man fischt ja mit Fliegen«, sagte ich und sie konterte, »Ernstl geht morgens wie Forellen Schüler fischen, gegen den Strom, bis ihn jemand sieht und anbeißt, und dann geht er mit seinen Schülern fischen wie mit Fliegen, nur eine weitere Marionette in der Kette.« – »Aber Ernstl fischt doch selber«, sagte ich, und sie richtete sich auf, verdüsterte mich und sprach wie ein Todesengel vor versinkender Sonne am Horizont, »schon mal ein hiniges Insekt gesehen, das zittert. Stumm geht den Fluss die Trockenfliege runter. Das ultimative Muster.« – »Ultimo wie das letzte?« – »Ganz ein Gescheiter, ja, das letzte, ein totenruhiges Insekt.« – »Oder ein Spinnentier.« – »Still!«, sagte sie, »je nach Art und Guster gerade geschlüpft oder schon alt, manchmal beides, eine Eintagsfliege beispielsweise. So weit musst du kommen.« Ihr Haaransatz rutschte langsam nach oben, ihre Strähnen luden sich mit Lichtenergie, Photosynthese statt Proteinbiosynthese, und schon schlang sich die erste Korkenzieherlocke in ihren Schopf. »Aber man kann die Schnur doch geschlungen in die Strömung legen«, sagte ich baff. »Nicht wenn du fischst, wie Ernstl es lehrt. Die letzten drei hat er noch vor der ersten Nymphe davongejagt. Der arme Gerry hat selber ausgesehen wie eine geworfene Fliege, als er die Treppen runtergeflogen ist.« – »Ernstl hat ihn gestoßen?« – »Wer sonst? Nur dass das Granitpflaster keine weiche Wasseroberfläche war. Gestrampelt hat er wie ein Baby, wie ein Babykäfer. Wie bist du überhaupt auf Ernstl gekommen?« – »Kurti hat mir erzählt, er suche jemanden.« – »Der Fleischer?« – »Ja, und dass er der Beste ist, das hat er auch gesagt, der Guru im Dōjō.« – »Okay, dieses Scheißkaff, mein Gott, sei froh, dass du außerhalb wohnst. Hier hat der Teufel wirklich seinen Sack ausgeleert. Okay, erstens, du sagst Ernstl das mit Kurti nicht, auf keinen Fall, verstanden?« – »Wen mag Ernstl eigentlich?« – »Sagte ich doch eben, dich. Also versau es jetzt nicht. Seine Suche war schrecklich. Da kannst du Gift drauf nehmen. Hält doch keiner aus, den alten Säufer, wenn er auch noch grantig ist«, und damit schwebte sie langsam aus dem Raum, nicht ohne zu sagen: »Abgesehen davon weiß ich gar nicht, was er an dir findet«, pflanzte sie mich und ihre Schritte gaben keinen Laut auf den frisch gewischten Dielen. Als ich gerade das Haar zu Flügeln machen wollte, pochte es von draußen gegen das Fenster. Ich ging hin und öffnete die eine Hälfte. Der Laden schwenkte an Ninas Wange haarscharf vorbei. Eine Franse flatterte ihr aus der Stirn. »Zweitens, vergiss diesmal das Frisieren nicht!« Daraufhin stutzte ich die braunen Hecheln noch am Rücken und befestigte die Strähne, ohne eine einzige Hahnenfieber an den Seiten oder am Bauch niederzubinden. Als ich aufsah, stand Nina noch immer dort, lächelte und sagte: »Schöner als ich.« – »Schöner frisiert«, ich. »Schöner eben«, und ging zur Gartenarbeit über.

 

Draußen trieb der Föhn die Äste wie Wegweiser in Richtung des kalten Flusswassers. »Ja, besser als das Original«, erschien der sturmalte Mann an meiner Seite, ein Querstreifen über seiner Brust im Licht des noch geschlossenen Fensterladens. »Schöner«, sagte ich, band den Schlussknoten, »ja, eben«, sagte er und ich schnitt unter solchem Zug ab, dass es den Faden zurück auf die Spule fetzte. Ich legte die Goldkopfnymphe auf den Tisch. »Schau sie dir an, diese Vollkommenheit!«, sagte Ernstl, während er ein Achterlglas aus der Anrichte angelte, es auf den Tisch stellte und randvoll schenkte aus einer eben gefischten, frischen Doppelliterflasche, »der blaue, dralle Körper, der grazile Hechelkranz, der braune Hals, der goldene Schopf, der rehfarbene Schwanz, die blonde Flügelscheide«, Ernstl hob den Wein an seine Lippen, schielte aber während des Trinkens über den Pokalrand hinaus Richtung Küchenfenster, das die Zugluft halb zu sich, hinaus in den Garten, gezogen hatte, wo Ninas Latzhose die Schenkel hinauf schon mit Humus besudelt war. Im Sonnenlicht stach Nina einen messerscharf blitzenden Spaten ins Wurzelwerk einer mannshohen Brennnessel. Ernstl schluckte, »wie diese Pflanze«, sagte er, »Ernstl, die landet mit vor Sicherheit glänzender Wahrscheinlichkeit auf dem Komposthaufen«, während Nina das Schaufelblatt trat derart abgehackt, dass es ihre Haare kopfüber die Schultern nach vorne schleuderte. Der Schopf schwebte voll im Umschwung eine Sekunde, bis die Strähnen rieselten, Ninas Dekolleté entgegensegelten, wie Federn auf dem Stoff landeten, sich formveredelnd niederlegten, an die Brüste schmiegten bis in die Spitzen, dazwischen derbes Leinen. Ernstl starrte Ninas nun nacktes, sonnenbrandvernarbtes Genick über dem weißen Schlafittchen an, stellte das Glas ab auf dem Tisch und neben die Nymphe, die sich auf der Scheibe spiegelte zwischen Ernstl und mir. »Denn sei sie dein«, sagte er, wandte sich mir zu, während Nina draußen die Brennnessel ausriss samt Wurzeln und allen daran hängenden, vor sich in ihren Kokons hin metamorphisierenden Schmetterlingslarven. Und plötzlich wurde mir Vieles zuwider, der geile Blick des Alten auf Nina oder auf die Dutzenden gebundenen Nymphen, hinausgeschwommen und verquer oder hingekrault zum Beckenrand des Küchenfensters und umgekehrt, aus glasigen Augen, auf deren Netzhaut sich die Herbergsgeberin und die Fliegen womöglich schon doppelt und dreifach abzeichneten. Draußen streckte sich Nina Nase voran an die ersten Blüten des Flieders, erfreute sich an dem Duft oder kontrollierte, ob sich schon Bienen darin tummelten. Ich fädelte den Kopf, spannte den nächsten Haken ein, band einen Körper aus weißem Katzenfell. Auf der Glasscheibe fasste Ernstl spiegelverkehrt in die Zimmerecke, hinter den Terrakotta-Topf, aus dem winkeltotmachend ein Rosmarinstrauch spross. Ernstl grinste im Glauben mich zu überraschen, als er mir wie bei einem Ritterschlag auf die Schulter tippte mit der Fliegenfischstange. Ich erhob mich und zu Boden hingen Latzhosenträger. Nina stand in der Zimmertür, in ihrer Bluse Knopfloch Stängel voran gesteckt eine violette Fliederblüte.

4 Eine pubertierende Teenagerin
befindet sich am Flussufer

Pappeln, Birken, Trauerweiden, Schlüsselblumen, die offensichtlich in den schmalen Grasstreifen zwischen den geschotterten Wegen gepflanzt wurden und den Wunsch der Ausflügler nach Schönheit ausdrückten wie Teenagerfinger Pickel in sonst ebenmäßigen Gesichtern. Wie die verkrusteten Wunden wirkten die aus dem Boden hervorbrechenden Blumen. Ich folgte dem Flussverlauf der Äschenstrecke, stets neben mir die schwimmende, neongrüne Schnur, die schlaufenförmige Spitze, leicht absinkend, wo sie ins Vorfach überging. So würde ich zumindest den Bissruck bemerken, dachte ich, und dann den Fisch, zwei imaginierte Ernstlarmspannweiten in Verlängerung des Schnurendes. Unbemerkt war die Nymphe aus meinem Blick gesunken, ihre genaue Position längst ungewiss, obwohl das Wasser sonnenklar war. Die Lage von vor einigen Tagen ließ sich daran ablesen. Es hatte weder geregnet noch geschneit die letzten Wochen, überhaupt hatte dieser Winter wenig Schnee gebracht. Dreckiges Schmelzwasser gab es also keines. Außerdem verriet die Sonne, wie sie stand, wie sie ihre Strahlen auf die flachsblaue Flussoberfläche aquarellierte, dass ich niemanden beim Fischen antreffen würde. Weil es schon auf zwölf zuging, brauchte es schon einen Zampano der extra kleinen Goldkopfnymphe. Stattdessen begegnete ich auf meinem Spaziergang durch dieses landschaftsarchitektonische, kurortangemessene Erholungsgebiet Senioren, Greisen und Greisinnen, Gassigängern samt sabbernden Labradoren, die ihre Schlappohren im Lauf wie Entenflügel aufflattern ließen. Früher wurden diese Viecher als Apportierhunde bei der Jagd eingesetzt. Da ballerte man mit voller Schrotflinte die Wasservögel vom Himmel herunter, ja, braver Hund. Aber dazu waren diese Menschen nicht hier. Ihre Enten hatten sich in leblose Gummiapportel verwandelt und der früher kultivierte Jagdinstinkt ihrer inzwischen verstreicheltrottelten Vierbeiner war völlig verkommen. Wenigstens einmal im Jahr kam es vor, dass ein Kind hinfiel im eigenen Haus, und dann gab es einen Vorfall, weil sich der Hund schlagartig durch das Stürzen der Beute erinnerte an den Vorfahr. Ich linste ins Wasser, hatte die versunkene Schnurspitze verloren und vermochte mich bissiger Gedanken kaum zu erwehren. Die Rolle des Hundes war es, sobald der Herr es für richtig hielt, zu sterben, eingeschläfert zu werden, wer wollte es ihm verdenken, da wenigstens noch ein Kind mitzunehmen. In seltenen Fällen wurden die treuen Begleiter auch ausgesetzt, heulten auf der Suche nach einem imaginären Rudel, mutierten zu Streunern, verunsicherten die Wälder und landstricherten Flussuferwiesen hinunter.

Ein paar Fahrradfahrer radelten an mir vorbei. Sie trugen Helme, Knieschoner und hatten Wasserflaschen dabei. Vom Boden, der inzwischen von Schotter zu Sand und Staub übergegangen war, hob sich eine Wolke. Die Partikel nahmen mir die Sicht, verklebten meine verschwitzten Schläfen, kitzelten meine Nasenhaare, vertrockneten meine Zunge, strömten in meine Lunge, und als ich nieste, stieß ich entweder noch ein paar Sandkörner aus oder blies den eh schon hochgewirbelten Staub vor mich hin. Ich drang weiter vor in die Wolke, nahm noch ein bisschen Dreck auf Geheimratsecken, Lidern und Flanellhemd mit, der aufgewirbelte Staub legte sich. Die Fahrradfahrer waren weg, gepflanzte Blumen gab es hier auch keine mehr, die Bäume waren höher und die Rentner alle überholt, so weit hinter mir, die nächsten Rentner noch nicht in Sicht, die Hundebesitzer wohl irgendwo hängengeblieben, an Leinen, Apportierartikeln, ich wusste es nicht, es war mir auch egal, dass ich völlig allein stand. Ich hörte das Wasser plätschern, sah Gestrüpp sich vom Ufer in einer Halbparabel schwungvoll ins Wasser stürzen. Zwischen den Zweigen, die eintauchten in die Äschenstrecke, und den Wurzeln, die im Trockenen weilten, entstanden hervorragende Stehplätze für Fische. Ich hob meinen Kopf, dachte an Ernstl und Trockenfliegen, Insekten, die den Strauch bevölkerten, versehentlich zur Beute wurden, indem sie ins Wasser fielen, von Fischen statt Vögeln vernascht wurden, und sah einem Flugzeug im Landekurs auf Linz zu, wie es lautlos einen Kondensstreifen ins Himmelblau schlitzte. Linker Hand wucherte der Wald. Hinter den paar Gewächsen, die den Weg auf der gegenüberliegenden Flussseite säumten, lagen weite Felder. Bis zu den Kalkalpen hinter der flachdachigen Eigentumswohnungssiedlung, aus der ich kam, reichte mein Blick. Es roch verdorben, woraus ich schlussfolgerte, dass hier irgendwo ein Kadaver vor sich hin moderte, möglicherweise sogar irgendwo am Ufer, oder eine Blutspur sickerte in den Fluss, was womöglich die Wasserqualität und den Appetit der Äschen verdarb, was zum Misserfolg und Fernbleiben der Fischer beitrug, die sich heute Morgen schon vergebens versucht hatten.

Oder es war das ranzige Mädchen, das an der nächsten Kurve in Sicht kam, auf seinem Stein hockte, seinen eigenen Geruch mit Zigarettenqualm zu übertünchen probierte, in einer schmutzigen Strickjacke steckte, sein Gesicht mit verfilzten Haaren verdeckte, die bei dieser Kopfhaltung keineswegs verbargen, dass es idiotisch auf die Wasseroberfläche glotzte. Ein kniegroßes Loch in der schwarzen Jeans, ein halbwegs verkrusteter roter Schlitz am Arm, ein an irgendeinem Kaugummikondomautomaten gezogener Totenkopfring an jedem Finger, eine Zigarette in der Hand, die sie nun wieder hob gegen ihr Gesicht, wie ich erkannte, sobald ich auf ihrer Höhe war, das meiner einstmaligen Schülerin und jetzigen Balletttänzerin. Sie hauchte mir den Qualm entgegen. Ich war stehen geblieben. »Oh, hallo.« Da muckte sie ihr Kinn erst nach oben und bemerkte mich. »Ist wohl nicht möglich, eine Sekunde hier ruhig zu sitzen«, sagte sie. »Solltest du nicht in der Schule sein?«, fragte ich. »Und du?«, fragte sie. »Nur zur Information«, sagte ich, »wir wohnen da nicht.« – »Aber hier wohnst du auch nicht. Geh nach Hause!« – »Ich nehme an, wir sehen uns nächsten Mittwoch nicht.« – »Richtig geraten, du Bastard.« – »Du musst mich nicht mögen.« – »Arschgeige!« – »Vielleicht könnten dich deine Eltern mal abmelden, wenns genehm ist. Dann bekommt jemand anders deinen Platz beim Monster.« – »Das willst du doch gar nicht …« – »Unhold«, half ich ihr. »Eine Stunde rumsitzen und nichts tun und Geld dafür. Ist doch nicht schlecht. Außerdem berserkerst du doch viel lieber auf deiner Scheißgeige, als noch so einem Wannabe-Jimmy ein paar Riffs beizubringen.« Sie hatte mich bergquellkalt erwischt und ich Kinder in ihrem Alter: »Und du redest ungeheuer gern mit deinen Eltern, nicht?« – »Ja«, knurrte sie. »Und wie gefällt dir die Korsage?« – »Ey, alter Sack, ich warne dich. Hier war schon einer, der mich anbraten wollte. Ich hab ihn weggeschickt. Der sitzt jetzt sicher in irgendeinem Bahnhofsresti. Verziehst du dich auch am besten hin. Könnt ihr euch zusammen aufgeilen. Vielleicht haben sie ja sogar eine minderjährige Kellnerin.« Ich war erstaunt und wechselte in den Orchestermodus, spielte nach dem Fehler weiter, überspielte einfach alles, urösterreichischer Überzug, Zuckerguss und Höflichkeit. »Entschuldigen vielmals, Mademoiselle.« – »Spar dir das Pseudokulturmenschgehabe.« – »Ich dachte, deine Eltern hätten dich ins Ballett gesteckt.« – »Ebendeswegen ja.« – »Hey, das ist doch nichts Schlimmes. Ich habe so was zwei Jahre getragen.« Sie lachte, abgrundtief spöttisch, zog noch einmal an der Zigarette, dämpfte sie auf dem Stein aus, auf dem sie saß, und steckte sie in eine leere Bierdose, die sie aus ihrer Strickjackentasche zog. Jetzt sag einmal, dieses Blech, woraus bestand das. Und die Marke eine ehemals jüdische Firma, inzwischen fest in österreichischer Hand, unmöglich, auf die Zunge biss ich mir. »Ja wirklich. Als Jugendlicher habe ich mir den Rücken ruiniert. Vom vielen Üben. Gebeugt über die Saiten. Immer im Sitzen. Deswegen haben wir in der Stunde auch gestanden. Das kam dann bei der Stellung raus. Und statt ins Bundesheer haben sie mich in ein Korsett gesteckt. Vorrübergehend untauglich. Ärzte, Physio und andere Therapeuten, Unteroffiziere, Chargen, alles dieselbe Bagage.« – »Musikschullehrer hast du noch vergessen«, und nach einer kurzen Pause, »gehst du deshalb jetzt hier spazieren?« – »Ja, möglich wärs. Und du?« – »Ich denke nach«, ich sah ihr starr in die verkniffenen Augen. Es war nicht das Gegenlicht der Sonne. Genauso wenig wie die Lichtstrahlen aber hielt sie auch meinen Blick nicht aus. »Ja, schau mich an, Alter. Wonach siehts denn aus? Was so Problemkinder halt machen. Über den schwarzen Schwan und Ophelia denk ich nach. Selbstmordphantasien und so. Zufrieden?« Ich winkte ab. »Erst, wenn du dich von mir auf ein Eis einladen lässt.« – »Danke, das hat der letzte Penner auch schon probiert.« – »Und was hast du gesagt?« – »Pädophiles Schwein.« – »Und wirklich?« – »Dass meine Mama gesagt hat, ich darf nichts von Fremden nehmen.« – »So gesehen, kannst du mit mir auf ein Eis gehen.« – »Danke, nein, ich bin noch mit Denken beschäftigt. Könnte dir auch nicht schaden.« – »Gut Frau Ersthelferin. Was denkst du denn so?« – »Also der vorher hatte eine blaue Blume ans Revers gesteckt.« – »Eine Kornblume?« – »Ja, genau so einen Scheiß. Kannst du mir sagen, was alle diese Leute an wegsterbenden Dingen so toll finden?« – »Ja, das verstehe ich auch nicht.« – »Kannst ja bei mir zu Hause anrufen, wenn dir noch was einfällt.« – »Okay«, sagte ich kleinlaut, wandte mich ab, und dann sagte sie noch, was mich kurz innehalten ließ: »Nur, weil wir gequatscht haben, heißt das jetzt noch nicht, dass wir Friends sind. Höchstens, dass du nicht so mies bist wie der Letzte. Deine Stunde kannst du jedenfalls in Zukunft alleine verstehen. Ich hab verstanden. E-cua-dor, E-cua-dor, Chi-le. Zynischer gehts nicht, oder? Diese fucking Geigen sind aus Tropenholz«, und ich folgte den Himmel und Wolken zerschneidenden Kerosinschweifen zurück, vorbei an Ernstl, hinein in mein Auto, der gerade eine Forelle drillte, die er direkt zu seinen Füßen gefangen hatte. Es war genau zwölf Uhr und noch genug Zeit, ein herrliches Essen zu bereiten und es im Ofen warmzustellen für meine vom Gymnasium heimkehrenden Söhne, bevor ich zur Musikschule abfahren musste. Die Tanknadel zeigte schon wieder auf null statt Full. Doch als ich spätabends heimkehrte, diesmal unmittelbar nach der Musikschule, waren die gebratenen Fleischscheiben immer noch da, Lukas und Johannes bereits in ihren Zimmern und Lena abwesend. Nachdem ich früh aufzustehen hatte, wie ich in diesem Moment erwog, legte ich mich nieder. Vielleicht hatten auch meine Söhne sich in Umweltschützer, Vegetarier, Aktivisten, sonstige ungeheure Ungetüme oder wer-weiß-na-was verwandelt. Über diesen Gedanken brütend und den purpurroten Sonnenuntergang durch das Schlafzimmerfenster beobachtend dämmerte ich weg in unruhige Träume, und als ich wenig später dieser Nacht aus ihnen erwachte, fand ich mich im Eichenbett auf einer Daunenfederkernmatratze, neben meiner normalerweise nackt schlafenden Lena in weißem, gebleichtem, raupentotem Seidennachtgewand einerseits, die noch nicht ihre typische Schlaftemperatur ausstrahlte, einem eiskalt fluoreszierenden Wecker andererseits, der mittels Kupferdrahtspulen, Batteriesäure und kaltem Licht elf Uhr anzeigte. Ich stellte mich schlafend, blieb wach bis eins, sicherzugehen, vor bösen Geistern gefeit zu sein.