Engelszwillinge

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Kapitel 4

Suchen und Unverhofftes finden

Ciel glaubte, mit nackten Füßen über Glasscherben und glühende Steine zu laufen. Das Brennen in ihrem Körper und der stechende Schmerz wurden immer heftiger, schlugen in ihr empor wie die Flammen des Feuers. War sie in der Hölle? Ihre Seele schrie. Es war kaum auszuhalten.

Doch plötzlich war ihr, als hörte sie in der Ferne eine sanfte Stimme. »Ciel, halte durch. Es wird dir gleich besser gehen.«

Im nächsten Moment spürte sie, wie eine warme Hand ihren Hinterkopf etwas anhob. Zwei Finger teilten ihr Lippen, ehe ein bitteres dickflüssiges Getränk ihre ausgedörrte Kehle hinabfloss. Sie schluckte aus Reflex und hustete.

Träumte sie?

Noch immer brannte ihr Körper wie Feuer, doch urplötzlich wurde die Hitze in ihr schwächer. Der Schmerz verebbte. Ciel spürte, wie sich ihr rasendes Herz beruhigte. Der Nebel in ihrem Kopf löste sich auf, sodass sie wieder klar denken konnte.

»Wer ist da?«, stieß sie heiser hervor. Sie öffnete schwach die Augen und starrte an die Decke ihrer kleinen Wohnung. Vorsichtig tastend erkannte sie, dass sie andere Kleidung trug. Jemand hatte ihr statt der nassen, dreckigen Sachen, saubere, trockene angezogen. Doch wer?

Jemand griff nach ihrer Hand und drückte sie. Ciel drehte den Kopf und zuckte zusammen.

»Du?«, entfuhr es ihr.

Sie wollte sich hastig aufrichten, doch zwei Hände packten sie an den Schultern und drückten sie behutsam zurück auf die Matratze. Lucien blickte sie mit einem Lächeln auf den Lippen an, doch seine Augen waren voller Traurigkeit.

»Ich weiß, du bist nicht erfreut, mich zu sehen«, sagte er leise. »Ich bin nur hier, um dafür zu sorgen, dass Toivo nicht den wichtigsten Menschen in seinem Leben verliert.«

Er vermied es, ihr in die Augen zu schauen, und Ciel spürte, dass er sie anlog.

»Es war alles ganz allein meine Schuld. Manchmal ist es besser, jemandem nicht die Wahrheit zu erzählen. Es gibt«, er hielt inne, als koste es ihn Überwindung, diesen Satz zu beenden, »Menschen, die daran so leicht zerbrechen können.«

Ciel wollte sich erneut aufsetzen, doch Toivo sprang aufs Bett und machte es sich auf ihr bequem gemacht.

»Toivo …« Sie legte ihm die Hand auf den Kopf und blickte wieder Lucien an. »Er … lebt. Du lebst, aber wie? Ich habe doch das Feuer …«

»Ja, du hattest deine Gefühle nicht unter Kontrolle. Immerhin habe ich Toivo rechtzeitig rausschaffen können. Und ja, mein Leben hing am seidenen Faden, aber ich habe es trotzdem überlebt. O Mann, Oscuro wäre stinksauer gewesen, wenn er davon erfahren hätte. Zur Strafe für mein Versagen hätte er mich wohl im wahrsten Sinne des Wortes zweimal getötet.« Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. »Aber was mit mir ist, ist egal. Du bist wertvoll und ich bin froh, dass du überlebt hast.«

Ciel runzelte die Stirn. Sie sollte wertvoll sein? Das hatte er schon mal gesagt.

Sie hob die Hände, begutachtete sie und auch ihre Arme. Merkwürdig, sie hatte sich bei dem Unfall schlimme Brandverletzungen zugezogen, doch nun war ihre Haut makellos und rein.

»Ich habe dir eine ganz bestimmte Medizin gegeben, die die schlimmsten Verletzungen binnen Sekunden heilt«, erklärte Lucien, als könnte er ihre Gedanken lesen. »Aber ich war mir nicht sicher, ob sie bei dir auch funktionieren würde.«

Es stimmte, die äußeren Verletzungen waren zwar verschwunden, aber sie fühlte sich noch immer wahnsinnig erschöpft und müde.

Als er ihr halb den Rücken zukehrte, um aus einem Eimer mit kaltem Wasser ein nasses Tuch herauszufischen, sah sie etwas, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war nur ein kurzer Moment, den er sich von ihr abwandte, aber Ciel glaubte, zwei schmale Risse im Rücken seines weißen T-Shirts zu sehen.

Lucien wrang das Wasser aus dem Tuch und legte es ihr auf die Stirn.

»Bist du verletzt?«, wollte sie wissen.

Er war doch mit Toivo vom Feuer eingeschlossen gewesen und doch schien er vollkommen unverletzt zu sein. Bis auf diese Schrammen am Rücken.

Doch Lucien schüttelte den Kopf. »Mir geht es gut.«

Er berührte mit seiner nassen Hand sanft Ciels Wange. Sie schloss die Augen, genoss die Kälte des Wassers auf ihrer Haut und gleichzeitig die Wärme und Geborgenheit, die er ausstrahlte. Noch nie hatte jemand sich so liebevoll um sie gekümmert, wie er es tat. Und es tat so gut!

Er erhob sich und schaute zu ihr herunter. »Ich kann dir nicht sagen, wie unendlich leid mir das alles tut«, flüsterte er traurig. »Ich hätte das nicht tun dürfen, dir das niemals erzählen dürfen. Ich hätte wissen müssen, dass es dich innerlich zerreißen würde, die Wahrheit zu hören.«

»Ist es das wirklich?«, flüsterte Ciel. »Die Wahrheit?« Sie griff nach seinem Hosenbein, um ihn am Gehen zu hindern. Obwohl sie sich kaum kannten, obwohl er ihr irgendwie unheimlich war, so wollte sie doch, dass er bei ihr blieb. Es war vollkommen unlogisch, aber sie fühlte sich bei ihm trotz der verrückten Sachen, die er sagte, sicher und geborgen in seiner Nähe.

Lucien bückte sich und strich ihr über das Haar, über die Wangen, dann mit dem Handrücken ihren Hals hinab.

»Schlaf jetzt, Ciel. Du brauchst viel Erholung. Selbst meine Kräfte reichen nicht aus, um so ein mächtiges Geschöpf wie dich völlig von schweren Brandverletzungen und Fieber zu befreien.« Er lächelte, wirkte aber selbst erschöpft. »Aber vergiss nicht, dass du niemals allein bist, auch wenn dir alles hoffnungslos erscheinen mag.«

Ciel blickte in seine schönen smaragdgrünen Augen und bemerkte, wie ähnlich sie ihren eigenen waren. Mit einem Mal klopfte ihr Herz, als würde es zerspringen. So laut und heftig wie noch nie. Doch es war nicht nur ihr Herz. Auch seines pochte laut. Ihre Herzen schlugen im Einklang, als seien sie eins. Auch seine Augen hefteten sich auf ihre, hielten sie gefangen. Er beugte sich langsam zu ihr. Sie hielt den Atem an, starrte auf seine Lippen, die immer näher kamen. Dann schloss sie die Augen. Würde er sie etwa küssen? Sie hatte noch nie einen Jungen geküsst. Gespannt wartete sie und bereitete sich darauf vor, den ersten Kuss ihres Lebens zu spüren.

Doch der Kuss, den sie erwartete, kam nicht. Sie öffnete die Augen und sah, wie Lucien errötete und den Kopf zur Seite drehte.

»Es tut mir leid«, nuschelte er undeutlich und ging schnell, fast schon fluchtartig zur Tür.

Bevor er das Zimmer verließ, fielen Ciel erneut die breiten Risse in seinem T-Shirt auf. Sie starrte ihm hinterher und musste plötzlich geblendet die Augen zusammenkneifen, als sie ein gleißendes Licht sah, genau an der Stelle, wo Lucien stand. Dann öffnete er die Tür und war auch schon verschwunden. Mit seinem Verschwinden hinterließ er Kälte und Dunkelheit in ihrer schäbigen Wohnung. Als hätte er all das Licht und die Wärme mitgenommen.

Sie zitterte und verspürte plötzlich den unerklärlichen Drang, aufzustehen und ihm zu folgen. Doch sie fühlte sie sich zu erschöpft und ausgelaugt. Lucien hatte recht. Sie brauchte jetzt Schlaf, um sich zu erholen. Als sie den Kopf drehte, fiel ihr Blick zum Fenster. Draußen funkelten die Sterne, und der Mond war umgeben von grauen Nebelfetzen. Sie wusste nicht, wie spät es war, doch sie glaubte, Luciens leise Stimme von draußen aus der Gasse zu hören. Und eine weitere Stimme, die sie schon einmal gehört hatte.

War es Oscuro, der Junge mit den eisblauen Augen? Sie war sich nicht sicher.

Eine bleierne Müdigkeit, gegen die sie sich nicht wehren konnte, überfiel sie mit aller Macht, ehe sie aufstehen und aus dem Fenster schauen konnte. Die Augen fielen ihr zu, und sie ließ sich von einem Traum entführen.

»Oh, da braucht wohl jemand ein neues T-Shirt.«

Oscuro lehnte an der Wand in der schmalen Gasse, unterhalb von Ciels Wohnungsfenster, und sah zu Lucien, der an ihm vorbeiging, ohne ihm Beachtung zu schenken. Oscuro blickte ihm mit schmalen Augen hinterher.

»Sag schon, was hast du getan? Hat man dich in deiner wahren Gestalt gesehen? Du weißt, was die Königin gesagt hat! Wenn uns auch nur ein Mensch in unserer wahren Gestalt sieht, ist unsere Mission vorbei! Sie macht uns einen Kopf kürzer.«

»Es hat mich niemand gesehen, also komm wieder runter.« Lucien blieb stehen und seufzte. »Der Engelszwilling des Lichts hatte sich nicht unter Kontrolle. Er hätte mich beinahe getötet.«

Noch immer bereute er, es ihr gesagt zu haben. Es war dumm von ihm gewesen. Er hatte nicht nachgedacht. Dabei hatte die Königin ihm und Oscuro verboten, irgendetwas auszuplaudern, was Ciels und Heavens wahre Gestalten betraf. Hoffentlich hatte Lucien diese rote Linie nicht überschritten und so die Königin erzürnt. Die Zwillinge mussten sich von allein daran erinnern, was sie waren und wozu sie fähig sein konnten. Es konnte fatale Folgen haben, wenn Ciel und Heaven sich erinnerten, obwohl sie noch nicht bereit dazu waren – oder wenn Lucien und Oscuro sich zu sehr einmischten und den beiden Mädchen zu viele Hinweise gaben. Im allerschlimmsten Fall könnte es sogar so weit kommen, dass Ciel und Heaven sich überhaupt nicht verwandeln würden.

Dann wären sie nutzlos, wie die Königin sagen würde, und sie würde sie einsammeln, vernichten und neu entstehen lassen. Oscuro und Lucien wären ebenfalls nutzlos, denn sie beide hatten nur diesen einzigen Zweck. Sie sollten den Zwillingen helfen, ihre wahren Gestalten anzunehmen. Doch Ciel und Heaven waren wie tickende Bomben, die jederzeit in die Luft gehen und Lucien und Oscuro töten konnten. Deshalb war Vorsicht geboten. Nur sie beide konnten diese Aufgabe bewältigen, weil sie einen Teil von Ciels und Heavens Kräften in sich trugen.

Oscuro lachte. »Schade, dass es nicht geklappt hat.«

 

Lucien drehte sich zu ihm um.

Oscuro winkte locker ab. »Ich meine damit nur, dass die beiden Mädchen die Einzigen sind, die uns töten können. Das wäre eine Erlösung, oder? Bist du es nicht auch langsam leid, unsterblich umherzuwandern? Wie lange dauert diese Mission jetzt schon an? Für meinen Geschmack zu lange.« Er blickte nachdenklich empor, als würde er für einen kurzen Moment an etwas Schmerzhaftes, Unaussprechliches denken, und schloss die Augen. »Stattdessen rettest du ihr das Leben? Wie vernünftig!«

»Ich mache so lange weiter, bis die Mission geglückt ist. Und ich weiß, du wirst mir helfen. Weil dir keine andere Wahl bleibt.« Lucien ballte die Fäuste. »Ich weiß nicht, warum du dich so aufführst, aber du brauchst mich. Wir können sie nur gemeinsam erwecken. Denk an die Worte unserer Königin.«

»Königin«, fuhr Oscuro ihn in verächtlichem Ton an. »Sie ist eine größenwahnsinnige Wissenschaftlerin, die Engel erschafft und Experimente durchführt. Großer Unterschied.«

»Mag sein, aber sie ist nun mal auch unsere Königin und wir müssen ihr gehorchen! Außerdem ist es eine wichtige Aufgabe.«, erwiderte Lucien kurz angebunden.

Durch Ciels und Heavens Verwandlung konnten die Leben von zahlreichen Engeln und Menschen gerettet werden. So hatte die Königin es ihnen gesagt. Ciel würde zum Engel des Lichts werden. Heaven zum Engel der Finsternis. Schon einzeln trugen sie unheimlich starke Mächte in sich, doch sobald beide erwachen würden, wäre ihre Kraft grenzenlos. Wenn Lucien und Oscuro beide erweckt hätten, könnten sie Gott spielen, aber das war nicht Sinn dieser Mission. Ciels und Heavens Mächte mussten zur Reinigung der Menschheit eingesetzt werden, und Oscuro und Lucien mussten sie darin unterstützen.

Oscuro warf ihm einen grimmigen Blick zu, fragte jedoch nur: »Sag, was macht eigentlich unser Engelszwilling der Finsternis?«

»Sag du es mir. Du bist ein Teil von ihr.«

Oscuros Augen wurden schmal. Er schwieg.

»Du weißt also, wo sie ist?«, fragte Lucien, doch Oscuro zuckte nur die Achseln.

»Heaven ist wesentlich gefährlicher als Ciel. Selbst ich könnte dabei draufgehen, wenn ich ihr zu nahekomme«, knurrte Oscuro schließlich. »Sie irrt gerade vermutlich irgendwo umher und sieht zu, wie dank ihr viele Menschen ihr Leben verlieren.«

Lucien seufzte. »Heaven leidet ebenso wie Ciel. Wir brauchen einen Plan, wie wir uns ihr nähern können, ohne von ihr getötet zu werden. Die Mädchen zusammenzubringen, ohne eine Katastrophe herbeizuführen, könnte sich als fast unmöglich erweisen. Sobald sie sich sehen, kochen die Kräfte in ihnen hoch wie bei einem Vulkan und entladen sich explosionsartig. Es könnte passieren, dass beide sterben. Das müssen wir irgendwie verhindern!« Er blickte empor zu Ciels Wohnungsfenster. »Was Ciel betrifft … Ich kann ihr nicht mehr unter die Augen treten. Sie fürchtet sich vor mir.«

»Ich fürchte mich auch, wenn ich deine Visage sehe.« Oscuro musterte ihn angewidert. »Jedes Mal, wenn du mir unter die Augen kommst, würde ich dir am liebsten meine Faust ins Gesicht rammen. Und deine Loyalität der Königin gegenüber geht mir auf den Sack!«

Doch Lucien hörte ihm kaum zu. Er starrte weiter schweigend zu Ciels Fenster empor, als hoffte er, dass sie zum Fenster kommen und herausschauen würde. Eine unheimliche Stille legte sich über ihn und Oscuro. Dann sagte Lucien plötzlich schweren Herzens: »Ich habe ihr die Wahrheit erzählt.«

»Warte, du hast was getan?« Oscuro starrte ihn entsetzt an.

»Ja, es war vielleicht ein Fehler, aber ich musste einfach etwas tun …« Doch da raste Oscuro auf ihn zu, packte ihn am Kragen und drückte ihn gegen die Hauswand.

»Hast du den Verstand verloren, du Dreckskerl?«, zischte er zornig. Wut, so hell wie das Feuer, das die Hütte vernichtet hatte, loderte in seinen kristallblauen Augen auf.

Lucien schloss gequält seine eigenen, als er sich daran erinnerte. Ciel hätte ihn tatsächlich fast erledigt, und mit ihm wäre es auch Oscuros Ende gewesen und das der Mission.

»Die Königin hat gesagt, wir müssen aufpassen, was wir ihnen erzählen, da es sonst zu einer Kurzschlussreaktion kommen könnte. Und stell dir nur mal vor, Ciel rennt jetzt überall herum und plappert alles aus.«

»Ich habe aufgepasst. Hätten meine Worte in ihr etwas ausgelöst oder gar verhindert, dass sie ihre wahre Gestalt annehmen kann, wäre ihre Reaktion eine andere gewesen.« Lucien ächzte und packte Oscuros Hände, um seinen Griff zu lockern. »Außerdem glaubt sie mir nicht. Sie glaubt kein Wort von dem, was ich ihr gesagt habe. Sie ist bloß durchgedreht und hätte mich beinahe getötet. Und wem soll sie es erzählen? Sie hat niemanden mehr. Sie ist ganz allein. Außerdem würde ihr niemand glauben.«

Oscuro funkelte ihn mit schmalen Augen misstrauisch an. Schließlich ließ er ihn los und wich einen Schritt zurück. »Weißt du, Lucien, Menschen haben kein Existenzrecht. Die ganze beschissene Art ist von Zorn und Bosheit zerfressen. Meinetwegen können sie alle sterben. Die Königin ist naiv, wenn sie meint, dass Ciel und Heaven sie nur zu reinigen bräuchten. Ihnen könnte es dadurch zwar gelingen, die Dämonen aufzuhalten, aber das Böse lässt sich nie ganz aus den Menschen vertreiben.«

Lucien schüttelte den Kopf. »Hör auf, das zu sagen!«

»Gib’s zu, du bist doch auch der Meinung, dass Ciel ohne ihren beschissenen Chef besser dran ist, habe ich nicht recht?« Auf Oscuros Gesicht breitete sich ein teuflisches Grinsen aus.

Lucien riss die Augen auf, als ihm eine schreckliche Erkenntnis kam. »Du warst es? Du hast ihn getötet? Es war gar nicht der Engelszwilling der Finsternis?«

»Bingo!« Oscuro schnippte mit den Fingern. »Der Typ war ein widerwärtiges Monster. Ciel wäre zerbrochen, wenn sie weiter bei ihm geblieben wäre. Er hat sie wie Dreck behandelt und mit Füßen getreten. Ihr Leiden musste aufhören. Er ist einer der Gründe, weshalb es an der Zeit ist, die Menschen zurechtzuweisen und ihnen zu zeigen, dass sie sich nicht einfach aufführen können, wie sie wollen. Böse Menschen töten schwächere und werden nicht für ihre Taten bestraft.«

Luciens Augen wurden schmal. »Was hast du getan?«

»Nichts … außer ein paar Mal mit dem Messer auf diesen Dreckskerl einzustechen.« Oscuro strich sich die schwarzen Haare zurück und zuckte die Achseln, als sei das alles gar nicht so schlimm, wie es sich anhörte. »Er wollte mit einer Pfanne auf mich losgehen! Lächerlich! Um Gnade hat er gewinselt, als ich ihm das Messer ins Auge gestoßen habe. Hättest mal sein dämliches Gesicht sehen sollen, als er seinen letzten Atemzug getan hat. Ach ja, und um seine Leiche habe ich mich auch gekümmert. Er wird jetzt im Wald von den Tieren angeknabbert.«

Oscuro schaute Lucien durchdringend an.

»Dieser Kerl war doch ebenfalls nichts weiter als eine billige Schachfigur, von der Königin erschaffen, um Ciels Willensstärke zu testen. Sie wollte herausfinden, wie stark Ciel in Wirklichkeit ist, ob sich ihr Wille beugen lässt oder ob ihr Licht erlischt und sie aufgibt. So wie wir beide nichts weiter als Schachfiguren für ihre Mission sind.«

Lucien konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er packte Oscuro und holte mit der Faust aus, doch der war schneller. Er stieß Lucien mit voller Wucht gegen die Wand, sodass Lucien sich den Kopf anschlug und mit einem Stöhnen zu Boden sank. Er lag auf dem kalten Pflaster und wollte aufstehen, doch Oscuro stellte seinen Fuß auf Luciens Brust und verstärkte immer mehr den Druck. Lucien bäumte sich auf, als ihm fast die Luft wegblieb.

»Auf welcher Seite stehst du?«

Lucien sah ihn mit blitzenden Augen wutentbrannt an. Er verspürte ein schreckliches Brennen in seinen Flügelnarben. Spürte, wie sich seine Flügel von innen herauszudrücken versuchten und entfalten wollten. Der Schmerz war so stark, dass Lucien sich auf die Lippe beißen musste, um einen Aufschrei zu unterdrücken.

»Die Königin hätte mir jemand Fähigeres an die Seite stellen sollen«, brummte Oscuro und bückte sich zu ihm hinunter. Er drückte Lucien den Fuß noch einmal kräftig in die Magengegend, und seine eisblauen Augen loderten auf. »Im Gegensatz zu dir laufe ich nicht blindlings herum und tue Dinge, die ich später noch bereuen werde. Stattdessen werde auf einen günstigen Moment warten und mir dann die beiden Mädchen schnappen.«

»Nein! Sie werden dich töten! Lass mich dir dabei helfen«, ächzte Lucien, doch da spürte er auch schon Oscuros Faustschlag mitten im Gesicht. Lucien unterdrückte einen Aufschrei und zog sich schützend die Arme vors Gesicht, doch ein weiterer Schlag kam nicht. Das Gewicht von seiner Brust verschwand. Als er sich das Blut von der Lippe wischte und sich aufrichtete, sah er nur noch, wie Oscuro schnellen Schrittes davonging. Er verschwand in der Dunkelheit der Nacht. Nur seine Schritte hallten noch lange in Luciens Ohren wider.

Ein Sonnenstrahl fiel auf Ciels Gesicht.

Sie blinzelte, setzte sich auf und streckte sich. Sie fühlte sich wie neugeboren. Noch nie hatte sie so gut geschlafen. Sie fühlte sich gesund und munter und spürte, wie neue Energie ihren Körper durchströmte. Ihre sonst so triste Wohnung wurde in ein warmes Licht gehüllt.

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie Toivo neben sich auf der Decke schlafen sah. Sie streichelte ihren Hund, dann warf sie einen Blick auf den Wecker, und erschrak. Hastig riss sie die Decke zurück und wollte schon aufspringen, um nicht wieder zu spät zur Arbeit zu kommen – als ihr klar wurde, dass sie nie wieder ins Mamma Mia gehen konnte. Henry war tot.

Sie ließ sich zurück auf ihre Matratze fallen und starrte an die Decke. Ja, ihr Chef war tot. Und sein Mörder lief noch immer da draußen frei herum. Plötzlich kamen ihr die Tränen, und all die Glückseligkeit und die Freude in ihr waren mit einem Schlag verflogen, als hätte man eine Kerze ausgepustet. Mit einem Mal zitterte sie unter der dünnen Decke.

Was sollte jetzt nur aus ihr werden? Was würde geschehen, wenn herauskam, dass Henry tot war? Würde man sie etwa verdächtigen? Verzweifelt versuchte sie, nicht an die schrecklichen Bilder ihres ermordeten Chefs zu denken, die plötzlich wieder in ihrem Kopf herumspukten. An das viele Blut, das Messer, das aus seiner Brust ragte, seinen geschundenen Körper.

Hastig schloss sie die Augen und dachte stattdessen an Lucien. An sein goldenes Haar und seine smaragdgrünen Augen, die ihren so ähnlich waren. Auch wenn sie sich kaum kannten, so war er immer nett zu ihr gewesen. Netter als jemals ein Mensch zu ihr gewesen war. An ihn zu denken, erleichterte es ihr ein wenig, die schrecklichen Ereignisse, die passiert waren, aus dem Kopf zu bekommen.

Lucien wusste über sie Bescheid. Er wusste, dass sie Tiere heilen, sie sogar wieder zum Leben erwecken konnte. Nur woher?

Und er behauptete, dass die seltsame Fremde, Heaven, ihre Zwillingsschwester war und sie beide etwas Besonderes waren. Sie wusste nicht, ob er die Wahrheit sagte, und ob sie ihn jemals wiedersehen würde. Doch es gab etwas, was sie tun konnte und was ihr Hoffnung gab. Sie konnte versuchen, ihre Doppelgängerin zu finden und gemeinsam mit ihr herauszufinden, ob sie tatsächlich Schwestern waren. Warum sie keinerlei Erinnerungen mehr hatten und wer diese seltsame Königin war, von der Lucien gesprochen hatte. Gemeinsam konnten sie vielleicht in Erfahrung bringen, ob alles, was er ihr über sie erzählt hatte, der Wahrheit entsprach. Sie musste Heaven finden. Wenn sie ihre Schwester war, würde sie sich mit ihr an der Seite nie wieder einsam fühlen, sondern stark und voller Hoffnung. Sie konnten zusammen so viel erleben, so viele Dinge tun! O ja, sie wünschte sich, dass sie ihre Zwillingsschwester war!

Aber wie sollte sie sie finden? Moment, hatte Lucien nicht gesagt, sie würden einander wie Magnete anziehen? Dass sie sich immer und überall fänden? Er hatte ihr die nötigen Hinweise gegeben, die sie brauchte. Nun lag es an ihr, sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit zu machen.

Ciel stand auf und zupfte an ihrem T-Shirt, das ihr Lucien angezogen hatte. Es roch sonderbarer Weise irgendwie nach ihm. Und es roch so gut! Sie schloss die Augen, atmete den Duft ein und erinnerte sich daran, dass er ihr erneut das Leben gerettet hatte. Sie betrachtete ihre Hände. Was war das bloß für eine Medizin, die er ihr gegeben hatte, um ihre Brandverletzungen und das Fieber so schnell zu heilen? War so etwas überhaupt möglich?

Toivo wurde wach, gähnte und bellte freudig, als sein Blick auf Ciel fiel.

»Ja, ich habe auch Hunger«, besänftigte sie ihn, aber dann fiel ihr ein, dass heute keine Tüte mit Hundefutter und alten Sandwiches an ihrer Tür hängen würde. Und Geld hatte sie keins mehr. Doch egal, was auch passiert war und wie schlimm es nun auch für sie sein mochte, sie durfte nicht aufgeben.

 

Sie suchte sich einen Pullover und eine neue Hose aus ihrem Schrank und zog sich um. Schließlich band sie Toivo an die Leine und verließ mit ihm die Wohnung.

Draußen war es windig, aber nicht kalt. Vögel zwitscherten in den Bäumen. Die Sonne schien am wolkenlosen Himmel, aber es waren nur wenige Menschen unterwegs.

Sie schlenderte mit ihrem Hund durch die Straßen. Wo sollte sie mit dem Suchen anfangen?

Plötzlich stand sie vor dem Gebäude des 24-Pizza-Lieferservices, dem Ort, an dem sie jahrelang für Henry gearbeitet und gelitten hatte. Völlig in Gedanken versunken war sie automatisch hierhergekommen. Sie starrte die Tür an, und ihr Herz pochte schmerzhaft in ihrer Brust. Ihr brach der Schweiß aus, ihre Hände zitterten. Von außen sah alles noch genauso aus, wie sie es hinterlassen hatte. Die Jalousien waren noch immer heruntergezogen. Der Laden sah verlassen aus. Kein Licht brannte.

Ciel dachte an den kleinen Spatzen, der vor wenigen Tagen tot in ihrer Hand gelegen hatte. Es war leicht gewesen, ihm sein Leben zurückzugeben. Vor einiger Zeit hatte sie auch einen Hund zurück ins Leben geholt, der von einem Auto überfahren worden war. Aber sie hatte ihre Fähigkeit noch nie bei Menschen ausprobiert. Sie dachte nach. Wenn sie nun zu ihrem toten Chef gehen würde und es versuchte?

Mit bebender Hand öffnete sie die Tür. Ciel warf einen ängstlichen Blick hinein. Es war dunkel und stickig. Der Geruch von Blut, Schweiß und Verwesung hing schwer in der Luft – was nur bedeuten konnte, dass die Leiche noch hier sein musste. Warum war in der Zwischenzeit niemand vorbeigekommen? Hatte keiner die Polizei verständigt?

Ihr kam es fast so vor, als wäre der Mörder in der Nähe gewesen und hätte verhindert, dass sich jemand dem Laden näherte. Als hätte er neugierige Menschen davon abgehalten, den Laden zu betreten. Aber das war natürlich Unsinn. Wie hätte er das tun sollen?

Sie wollte die Sache schnell hinter sich bringen, ehe der Anblick ihres toten, blutüberströmten Chefs ihr jeglichen Mut nahm. Hastig ging sie zum Tresen, stellte sich innerlich darauf ein, diesen schrecklichen Anblick ertragen zu müssen – doch als sie dahinter spähte, musste sie mit Entsetzen feststellen, dass der Leichnam verschwunden war. Nur noch das Blut beschmutzte den Boden.

Ciel blickte sich um und bemerkte, dass schwache blutige Schuhabdrücke auf dem Boden zu sehen waren. Sie führten zur Hintertür.

War der Mörder tatsächlich zurückgekehrt, um die Leiche zu entsorgen?

Ciel hastete los und riss die Hintertür auf. Sie suchte den Boden nach weiteren Spuren ab. Doch sie endeten abrupt an der Türschwelle. Wie war so etwas möglich? Immerhin konnte der Mörder sich doch nicht wie ein Vogel in die Lüfte geschwungen haben, noch dazu mit einer Leiche.

Sie rannte nach draußen, drehte den Kopf in alle Himmelsrichtungen, konnte aber nichts entdecken. Sie keuchte und sank auf die Knie. Ihr kamen die Tränen. Was sollte sie jetzt bloß tun? Henry war der einzige Mensch in ihrem Leben gewesen, der ihr Schutz geboten hatte, auch wenn er ihr tagtäglich das Leben schwer gemacht hatte. Sie hätte sofort versuchen müssen, ihn wiederzuerwecken, aber sie war geflohen. Und jetzt war es zu spät. Sie weinte bitterliche Tränen.

Doch nach einer Weile beruhigte sie sich. Nein, sie durfte jetzt nicht aufgeben und in Selbstmitleid versinken! Für ihren Chef war es zu spät, aber für sie gab es Hoffnung. Sie musste ihre Zwillingsschwester finden.

Nur mühsam setzte sie sich wieder in Bewegung, und Toivo trottete ihr glücklich mit dem Schwanz wedelnd hinter ihr her.

Sie ging durch die Stadt, kam an großen Einkaufszentren vorbei und spürte, wie ihr Magen laut knurrte, als sie ein paar Jugendlichen zusah, die vergnügt Döner verschlangen. Sie tastete nach ihrer Hosentasche und stellte fest, dass sie wirklich nicht einen Cent hatte. Sie bückte sich zu ihrem Hund hinunter und strich ihm übers Fell. Ihr gefiel es nicht, dass sie seine Rippen spürte. Wenn sie wenigstens ihm etwas zu essen kaufen könnte …

Enttäuscht und frustriert setzte Ciel sich mit Toivo im Schlepptau wieder in Bewegung. Sie lief kreuz und quer durch die Stadt, folgte einem versteckten Seitenweg durch eine menschenleere Gasse und kam an einer heruntergekommenen Kneipe vorbei. Die Fassade war gealtert, die Farben verblasst. Das Schild über der Kneipe war so verblichen, dass man nicht einmal lesen konnte, wie sie hieß. Sie hatte ein großes, verdrecktes Schaufenster, und Ciel erkannte, dass sich drinnen, außer einem Barmann, der gerade nach hinten verschwand, niemand befand. Kein Wunder, keiner würde um diese frühe Uhrzeit in so einem heruntergekommenen Laden sitzen und Alkohol trinken – oder doch …

Zwei Kerle in abgewetzten Lederjacken, der eine klein und mager mit schwarzem, fettigem Haar, der andere groß, mit Bauchansatz und Glatze, standen draußen an einem Stehtisch und rauchten Zigaretten. Sie tranken Bier aus braunen Flaschen.

Ciel wollte gerade weitergehen, als einer der beiden sie entdeckte.

»Hey, du da! Bleib mal stehen!«

Ciel erschrak und drehte sich zu den beiden Männern um.

»Das ist sie, oder?«, fragte der Dünne den Dickeren.

Er nickte. »Ey, komm mal her, Mädchen!«

»Ähm, w-was ist denn?«, fragte Ciel und kam zögernd auf die beiden zu. Sie kannte die Männer nicht. Vielleicht waren sie mal Kunden gewesen.

Der dünnere Mann nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche, rülpste laut, dann musterte er Ciel ausgiebig. Seine Augen waren glasig, genau wie die des anderen Typen. Vermutlich war dieses Bier nicht ihr erstes heute. Von der Alkoholfahne der beiden drehte sich Ciel beinahe der Magen um.

»Du bist doch die Kleine, die bei Henry arbeitet, oder? Im Mamma Mia?«, lallte er.

Ciel zuckte zusammen. »Ich … ähm, also«, stammelte sie und wich zurück. Panik breitete sich in ihrem Kopf aus. Was wollten diese Typen? Woher kannten sie ihren Chef? Wussten sie denn gar nicht, dass er nicht mehr am Leben war?

»Alter, sie ist es tatsächlich. Ich habe sie schon öfter dort gesehen, als ich an Henrys Laden vorbeigegangen bin.« Der Größere stieß seinen Kumpel an und grinste.

»Sag, Kleine, wir haben nichts mehr von ihm gehört. Wie geht es ihm denn so?« Der Dünnere kam näher, musterte Ciel von oben bis unten und rümpfte die Nase, als würde sie stinken.

»Es geht ihm … gut«, log Ciel schnell. Ihr wurde fast schlecht von dem Gestank des Mannes. »Ich muss jetzt weiter. Auf Wiedersehen.« Sie wollte sich umdrehen, als der Dickere sie am Handgelenk packte.

»Sag mal, wie kommt Henry an so eine süße kleine Maus wie dich? Wo hat er dich aufgegabelt?«

Er kam näher, musterte ihr Gesicht und entblößte eine Reihe gelblicher Zähne. Als er ihr mit seiner schmutzigen Hand durch die Haare fuhr, wich Ciel angewidert vor ihm zurück.

»Willst du nicht lieber bei uns arbeiten? Wir würden dir auch ein wenig mehr Geld bieten als Henry.«

»So eine süße kleine Maus würde gut in unseren Laden passen. Es wird dir bei uns bestimmt sehr gefallen.«

Der Dünne trat hinter sie. Ciel stand stocksteif da, doch als er ihr seine Hand auf den Hintern legte, fuhr sie herum.

»Nein, lasst mich in Ruhe!« Sie holte mit der flachen Hand aus – und verpasste dem dünnen Kerl eine schallende Ohrfeige.

Er taumelte zurück und presste sich beide Hände an die Stelle, die Ciel getroffen hatte. Augenblicklich stieß er einen erstickten Schrei aus, und als er die zitternden Hände sinken ließ, zeichneten sich blutrote Brandblasen auf seinem Gesicht ab. Es stank nach verbranntem Fleisch. Ciel riss die Augen auf und starrte entgeistert auf ihre Hände. Es war wie bei Lucien – sie hatte es wieder getan. Sie hatte dem Mann die Haut verbrannt, obwohl sie das doch gar nicht gewollt hatte. »E-Es tut mir leid!« Vor lauter Angst vor sich selbst kamen ihr die Tränen.