Engelszwillinge

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Ciel machte einige Schritte auf sie zu. Sie öffnete den Mund, wollte ihr etwas zurufen, als sie plötzlich sah, wie ein Auto auf der belebten Straße hinter ihrem Double die Kontrolle verlor, ins Schleudern geriet und mit quietschenden Reifen und voller Wucht in einen zweiten Wagen krachte. Es gab einen lauten Knall. Voller Entsetzen beobachtete sie, wie einer der Fahrer durch die Frontscheibe geschleudert wurde, sich wie eine leblose Puppe mehrmals in der Luft überschlug und dann unweit ihres Zwillings auf dem Pflaster landete.

Ciel stieß einen Schrei aus, wollte losrennen, um zu helfen, doch Lucien packte sie grob und zerrte sie hastig hinter sich her. »Verschwinden wir! Na los!«, befahl er aufgebracht.

»Nein!«, schrie Ciel und wollte sich wieder losreißen.

Doch da blieb er stehen, nahm ihr Gesicht in beide Hände und sah sie so verzweifelt an, dass ihr jeglicher Protest im Hals stecken blieb.

»Wenn wir nicht verschwinden, bist du die Nächste, die stirbt!«

Sein unglücklicher Tonfall drang ihr bis ins Herz und seine Worte waren wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Sie starrte ihn an, unfähig, etwas zu erwidern. Das konnte nicht sein Ernst sein! Sie sollte die Nächste sein? Aber warum? Lucien musste sich einen Scherz erlauben. Doch ein Blick in seine Augen genügte, um zu wissen, dass er es todernst meinte. Ciel wagte nicht zu protestieren. Es war, als ginge seine Angst auf sie über. Sie lähmte sie, nahm jeden Winkel ihres Körpers in Besitz, sodass sie keinerlei Kontrolle mehr über ihr Handeln und Denken hatte.

Schlussendlich wurde sie von Lucien fortgezerrt, der in der einen Armbeuge Toivo trug und mit der anderen Hand ihre Hand fest umschlossen hielt.

Ohne zu wissen, was sie tat, folgte sie ihm. Sie rannten beide im gleichen Tempo, ihre Füße berührten gleichzeitig den Boden. Ciel warf noch einen schnellen Blick zurück zur Straße. Die zusammengekrachten, zerbeulten Autos qualmten. Es stank nach Rauch und ausgelaufenem Benzin. Menschen stürmten zum Ort des Unfalls, um irgendwie zu helfen. Schreie ertönten. Einige Schaulustige standen abseits. Menschen telefonierten, riefen den Krankenwagen.

Das Letzte, was Ciel sah, war ihre Doppelgängerin, die mit tränenüberströmtem Gesicht herumwirbelte und davonrannte, fort von dem Unfall und von Ciel und Lucien.

Kapitel 3

Asche und Regen

Sie rannten weiter, Hand in Hand, vorbei an Geschäften und Restaurants, bogen nach rechts in eine Seitengasse ein und hasteten weiter durch einen kleinen Park, der sie in Richtung Strand führte.

Ciel konnte nicht sprechen. Sie konnte nicht klar denken. Sie konnte nicht weinen. Es war, als seien ihr all die Tränen ausgegangen, und ihr Gehirn war wie benebelt. Das Einzige, wozu sie imstande war, war zu rennen. Sie wehrte sich nicht dagegen, ließ sich einfach von Lucien durch die Gegend zerren. Wohin er sie brachte, wusste sie nicht. Es war ihr egal. Alles war ihr egal. Sie konnte die entsetzlichen Bilder nicht aus ihrem Kopf vertreiben.

»Wenn wir nicht verschwinden, bist du die Nächste, die stirbt!« Luciens Worte hallten in ihrem Kopf wider.

Was hatte er damit gemeint?

Erst als sie bei der heruntergekommenen Hütte am schmutzigen, menschenleeren Strand ankamen, Lucien die Tür öffnete und sie hineinführte, brach sie schluchzend auf einer Decke zusammen, die am Boden lag. Lucien schloss die Tür und hockte sich neben sie.

»Was ist gerade passiert? Ich begreife das nicht«, schrie sie. Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust, sodass sie um Luft ringen musste.

»Ich werde dir alles erzählen. Aber zuerst musst du dich beruhigen!«

Sie hob den Kopf und blickte ihn mit tränenüberströmtem Gesicht an. Ihre Augen waren rot angeschwollen, die Lippen zitterten. Das blonde Haar war zerzaust und klebte ihr teilweise an der schweißnassen Stirn.

Er strich ihr über die Wange und fuhr mit dem Daumen unterhalb ihres Auges entlang, um die Tränen fortzuwischen.

Toivo kam angetrottet, ließ sich auf ihrem Schoß nieder und leckte ihr mit der Zunge über die Wange.

»Selbst dein Hund möchte, dass du dich beruhigst«, bemerkte Lucien und lächelte, doch sein Lächeln war voller Traurigkeit. Er tätschelte Toivo den Kopf.

Ciel schloss die Augen, doch die Bilder an die schlimmen Ereignisse wollten nicht aus ihrem Kopf verschwinden. Einen Moment lang herrschte absolute Stille. Sie knetete ihre zitternden, schweißnassen Hände.

»Es ist nämlich gefährlich, wenn man seine Gefühle nicht im Griff hat«, meinte Lucien nach einer Weile.

Ciel lehnte sich an die Wand und schloss erneut die Augen. Sie hatte rasende Kopfschmerzen.

»Rede endlich! Was willst du mir erzählen?« Sie wollte ihn nicht so wütend angehen, doch sie war so durcheinander und in ihr herrschte schreckliche Angst. »Antworten auf all meine Fragen?«

Zu ihrer Verwunderung nickte er.

»Aber ich muss vorsichtig sein«, erklärte er leise und griff nach ihrer Hand. »Du bist nämlich stark, Ciel. Stärker sogar, als du es selbst von dir erwarten würdest.«

Sie lachte heiser auf. »Nein, ich bin nicht stark. Wäre ich es, dann wäre das alles niemals passiert. Ich hätte meinen Chef retten können und wäre nicht wie ein Feigling davongerannt. Und ich hätte ganz sicher nicht so getan, als wäre der Unfall niemals geschehen.«

»Du hast diesen Unfall nicht verursacht. Sie ist es gewesen.« Lucien blickte ihr tief in die Augen.

»Du meinst …« In ihrer Kehle bildete sich ein Kloß. Wieder stiegen Tränen in ihr hoch, die sie verzweifelt niederzukämpfen versuchte.

»Aber das ist unmöglich! Wie hätte sie das tun können?«

»Sie ist kein«, Lucien seufzte und blickte zur Seite, »normaler Mensch.«

»Ich verstehe nicht.« Ciel hielt sich den pochenden Kopf.

Er schaute sie mit ernstem Blick an.

»Wo immer sie auch hingeht, dieses Mädchen zieht eine Spur aus Leichen hinter sich her. Sie tötet Menschen. Ungewollt. Weil sie sich nicht unter Kontrolle hat. Sie gehört der Finsternis an. Leben nehmen, andere verletzen, Leid und Kummer über alles und jeden zu bringen, gehört zu ihrer Natur. Dabei will sie das alles gar nicht tun.«

Ciel schlug sich die Hand vor den Mund. Ihre Kehle war staubtrocken.

Plötzlich huschte ein Lächeln über Luciens Lippen. »Aber du bist das genaue Gegenteil von ihr. Du besitzt die Gabe zu heilen. Du kannst sogar Tote wieder ins Leben zurückholen.«

Ciel schaute auf ihre Hände. »Woher weißt du davon? Ich habe diese Gabe, ja, aber ich kann das nur bei Tieren. Zumindest habe ich es bisher nie bei einem Menschen ausprobiert.« Dann starrte sie ihn entgeistert an. »Willst du mir damit sagen, dass ich eine Verrückte bin? Ich besitze diese Gabe nur, weil ich …«

»Weil du dem Licht angehörst«, unterbrach sie Lucien in ernstem Tonfall. »Wir mussten vor deiner Zwillingsschwester fliehen, verstehst du? Sonst hätte sie dich auch getötet. Hast du das Entsetzen in ihren Augen gesehen, als ihr euch angeschaut habt? Das sind immer die ersten Anzeichen, bevor etwas Grauenhaftes geschieht. Sie ist zurückgekommen, vermutlich aus Neugierde, und wollte dich zur Rede stellen, so, wie du es vorhattest. Ich konnte gerade noch rechtzeitig bei euch sein.« Er schwieg kurz. »Keiner weiß genau, was passiert oder wieso es passiert, wenn ihr euch gegenübersteht. Und doch kann man das Grauen, das danach folgt, wahrscheinlich nicht verhindern.« Er machte erneut eine Pause, blickte in Ciels entsetztes Gesicht.

Ihn schien es wahnsinnig zu quälen, darüber zu sprechen. Oder hatte er etwa Angst, ihr davon zu erzählen? Doch warum?

Lucien holte Luft. »Immer wenn ihr euch begegnet, geht ihr beide ein hohes Risiko ein. Meistens bist du zuerst gestorben, ehe sie dir in den Tod gefolgt ist. Der Schock war einfach zu groß für sie. Wenn ihr euch mit Entsetzen und Angst begegnet, ist das euer beider Todesurteil, ehe ihr circa alle fünfzig Jahre erneut auf die Erde kamt, ohne Erinnerungen an eure Vergangenheit.« Seine Stimme zitterte leicht. »Wenn sie stirbt, stirbst auch du, denn ihr seid wie Yin und Yang, Gut und Böse, Licht und Finsternis. Ihr könnt nur gemeinsam existieren.« Er schwieg und biss sich auf die Unterlippe, als hätte er etwas gesagt, was er nicht hätte sagen dürfen. Dann schüttelte er den Kopf.

»Was redest du da? Ich verstehe kein Wort.« Sie wich vor ihm zurück. Er machte ihr Angst.

Doch Lucien ließ nicht locker. »Weißt du, Ciel, ich bin immer auf der Suche nach dir gewesen. Es war eine lange Suche und wichtig, weil du wichtig bist. Ebenso wie deine Zwillingsschwester. Ihr seid beide unglaublich wichtig!«

Ciel schüttelte den Kopf. »Nein, das ist verrückt! Ich hatte nie eine Zwillingsschwester! Meine richtigen Eltern sind früh gestorben, und ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen. Jemand hätte mir doch gesagt, wenn ich eine Zwillingsschwester gehabt hätte.«

»Heaven.«

»Was?«

»Ihr Name ist Heaven.«

Lucien vermied es, ihr in die Augen zu schauen.

»Heaven«, murmelte Ciel und legte sich die Hand aufs Herz. »Sie ist … Ich habe also tatsächlich eine Zwillingsschwester? Aber was ist dann mit unseren Eltern passiert?«

»Eure Eltern existieren nicht. Sie haben nie existiert.« Lucien zögerte. »Alle fünfzig Jahre schickt die Königin euch beide getrennt voneinander auf die Erde. Aber deine Zwillingsschwester und du, ihr findet euch immer. Ihr zieht euch wie Magnete gegenseitig an. Aber immer endet es in einer Katastrophe.«

»Warum? Was sind wir?« Ciel spürte, wie ihr schwindelig wurde. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Körper.

»Die Königin … meine Königin aus meiner wahren Heimat hat euch beide erschaffen, damit ihr gemeinsam eure Bestimmung erfüllen könnt. Alle fünfzig Jahre schickt sie euch auf die Erde, nur um dann zuzusehen, wie ihr versagt und sterbt. Sie hat euch erschaffen, um mit eurer Hilfe das Böse in den Menschen auszulöschen, aber bisher hat es nie funktioniert. Das Böse in den Menschen muss ausgelöscht werden, damit endlich Frieden einkehrt.«

 

»Das Böse in den Menschen auslöschen?«, wiederholte Ciel. Als sie diese Worte aussprach, überfiel sie ein Schwindelanfall mit solcher Macht, dass sie sich an die Wand lehnen musste und gezwungen war, die Augen zu schließen.

Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Hör zu, du …«

»Nein, hör auf! Halt die Klappe!« Ihr wurde das alles zu viel. Sie wollte aufstehen und davonrennen, doch er legte ihr seine Hände auf die Schultern und drückte sie zurück auf den Boden, damit sie ihm weiter zuhörte.

»Deiner Zwillingsschwester ergeht es genauso wie dir! Auch sie hat keinerlei Erinnerungen mehr, weder an ihre Vergangenheit noch an ihr wahres Ich! Sie leidet genauso wie du! Meine Königin hat euch falsche Erinnerungen in eure Köpfe gepflanzt. Dich hat sie glauben lassen, du wärst in einem Waisenhaus aufgewachsen und könntest dich nicht an deine Eltern erinnern. Dabei bist nie in einem Waisenhaus gewesen. Auch deiner Schwester wurden Lügen in den Kopf gesetzt, damit ihr euch für Menschen haltet und dem menschlichen Leben anpasst. Dabei seht ihr immer aus wie siebzehnjährige Teenager. Ihr altert nicht. Sobald ihr auf der Erde seid, dauert es eine Weile, bis ihr den falschen Erinnerungen in euch Glauben schenkt und ihr zu eigenständigen Wesen werdet. Zuvor irrt ihr wie Zombies ziellos umher, ohne zu wissen, was oder wer ihr seid. Doch dann erreichen euch die falschen Erinnerungen, und bald darauf trefft ihr aufeinander. Damit nimmt das Unheil seinen Lauf.«

Ciel schlug seine Hände weg und sprang auf. »Du bist verrückt! Völlig wahnsinnig!«, schrie sie mit Tränen in den Augen.

»Ich weiß, dass das alles verrückt klingt und du mir das nicht glauben kannst, aber …«

Lucien wollte nach ihrer Hand greifen, doch sie wich ein paar Schritte zurück, fort von ihm, und warf ihm einen hasserfüllten Blick zu.

»Du bist ein Verrückter!«, spie sie ihm mit furchterfüllter Stimme entgegen. Sie spürte ein schreckliches Brennen in den Augen, und einen schmerzhaften Kloß in der Kehle, den sie nicht hinunterschlucken konnte.

Eine einzige Träne rann ihr über die Wange. Sie landete auf der Decke, die plötzlich Feuer fing.

Ciel machte erschrocken einen Satz zur Seite.

»Ciel, beruhige dich!«

Rauch stieg empor und Ciel musste husten. Toivo bellte aufgeregt, zog sich dann aber winselnd in die hinterste Ecke der Hütte zurück, als die Flammen immer mächtiger wurden.

Ciel bekam keine Luft mehr. Ihre Augen tränten und brannten. Panisch blickte sie sich um, hustete und würgte. Sie konnte durch den Rauch kaum noch etwas sehen.

»Toivo!«, schrie sie voller Angst, wollte ihn suchen, doch als die Flammen ungezügelt wie zischende Schlangen emporschossen und ihr den Weg versperrten, taumelte sie nach hinten. Durch den Rauch erkannte sie, wie Lucien den Welpen auf den Arm nahm. Er wirbelte herum und schaute sie an. Tränen glitzerten in seinen Augen. Er formte mit dem Mund Sätze, die sie nicht verstehen konnte.

»Wir müssen hier raus!« Sie wollte zu ihnen rennen, doch über ihr war ein dumpfes Ächzen zu hören. Im selben Moment stürzte ein brennender Holzbalken direkt vor ihre Füße. Funken sprühten, Flammen züngelten empor. Ciel schrie und ging zu Boden. Vom Rauch und dem aufgewirbelten Dreck musste sie röcheln und wieder husten. Benommen blickte sie sich um, konnte Lucien und Toivo aber nicht mehr sehen. Ihr Sichtfeld verschwamm. Panik brach in ihr aus. Sie musste so schnell wie möglich das Feuer löschen. Keuchend kam sie auf die Beine und humpelte zur Tür. Nachdem sie sie aufgerissen hatte, fiel sie stolpernd in den Sand, und klopfte hektisch die Flammen aus, die ihre Klamotten zu verbrennen drohten. Dann stand sie auf und sah sich panisch um. »Hilfe!«, krächzte sie, doch der Rauch kratzte ihr noch immer in der Luftröhre.

Niemand war zu sehen, der sie hätte hören oder ihr helfen können. Ihre Klamotten waren verdreckt, teilweise versengt und sie war an den Händen und im Gesicht verletzt. Doch sie verspürte vor lauter Panik keine Schmerzen, obwohl die Haut ihrer Hände und Arme dunkelrote Brandblasen aufwies. In ihrem Kopf schrie nur ein einziger Gedanke: Sie musste Toivo und Lucien retten. Koste es, was es wolle!

Es gab keinen Behälter, den sie mit Meerwasser hätte füllen können, also begann sie verzweifelt, Sand auf die Flammen zu werfen, in der absurden Hoffnung, irgendwie das Feuer zu ersticken. Doch es war sinnlos. Es hatte bereits die Oberhand gewonnen. Die heißen Flammen loderten viel zu heftig, schwarzer, dichter Rauch stieg empor und schwärzte den Himmel. Das Feuer brannte gnadenlos, fraß das kleine Häuschen auf. Als die Hütte dann wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrach, schrie Ciel auf.

»Nein!«

Toivo! Lucien! Sie wollte schon ins Feuer rennen, egal was das für sie bedeuten würde. Doch dann erstarrte sie und riss die Augen auf, als ihr klar wurde, dass sie tatsächlich diejenige war, die die Hütte in Brand gesteckt hatte. Sie hatte ihren Hund und Lucien getötet. Sie war eine Mörderin.

In der Ferne war Sirenengeheul zu hören.

Von Panik ergriffen, wirbelte Ciel herum und rannte davon. Wellen brausten gegen das Ufer. Möwen kreischten am Himmel. Vereinzelte Regentropfen fielen aus den grauen Wolken, dann begann es wie aus Eimern zu schütten, während sie den menschenleeren Strand entlangjagte.

Dieses Feuer. Hatte sie … war sie das wirklich gewesen? Ja, sie hatte das getan! Sie hatte die Hütte in Brand gesetzt, irgendwie, und dabei zwei Leben ausgelöscht, ohne zu wissen, dass sie so eine Macht überhaupt besaß. Aber es blieb ihre Schuld. Sie war eine Mörderin. Ein Monster. Lucien hatte recht, sie war irgendetwas Unheimliches und Gefährliches. Alles andere, bloß kein Mensch.

»Es tut mir leid, Toivo! Und Lucien«, keuchte Ciel, stürmte blindlings durch den Regen und eine steinerne Treppe zur Hauptstraße hoch.

Kaum ein Mensch war zu sehen. Die meisten kleinen Souvenirgeschäfte waren geschlossen.

Sie rannte weiter durch eine schmale Gasse, bis sie an einem verlassenen Feldweg ankam, der an einen dicht bewachsenen Wald grenzte. Nebel kam auf und erschwerte ihr zusätzlich die Sicht. In den großen Regenpfützen spiegelten sich die schwarzen Wolken, und das Plätschern der Tropfen schmerzte in ihren Ohren. Der Regen fiel unablässig, als würde nie wieder die Sonne scheinen, durchnässte ihre Klamotten, ihr Haar, ihren Körper, ihre Seele.

Sie schlitterte über den feuchten Boden, knickte um und landete im Matsch. Für ein paar Sekunden lag sie weinend im Dreck, das Gesicht auf den Boden gedrückt. Sie konnte nicht die nötige Kraft aufbringen, um aufzustehen. Sie hatte für gar nichts mehr Kraft. Was geschehen war, was sie getan hatte, konnte nie wieder ungeschehen gemacht werden. Toivo, ihr kleiner treuer Freund und Lucien …

Ihre Finger bohrten sich in den schlammigen Boden. Sie schrie und weinte, doch ihre Schreie wurden von lautem Donnergrollen übertönt. Sie riss den Kopf hoch, als sie hörte, wie in der Nähe ein Blitz in einen Baum einschlug.

Nach einer gefühlten Ewigkeit gelangte es ihr endlich, sich mühsam aufzurappeln und durch den Regen weiterzuhumpeln. Ihr Körper fühlte sich bleischwer an und war ein reines Trümmerfeld aus Dreck und Brandverletzungen. Doch sie spürte keinen Schmerz. Ihre körperlichen Verletzungen waren nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die ihre Seele litt.

Ihre Schritte verlangsamten sich, als sie kraftlos und erschöpft vom Feldweg aus in ein kleines Waldgebiet humpelte, das in einen menschenleeren Park überging. Unterwegs verlor sie einen Schuh. Der Regen hatte sie komplett durchnässt, und sie zitterte vor Kälte. Ihre versengten Klamotten boten ihr kaum Schutz gegen den eisigen Wind. Sie hustete stark und wünschte sich ein Taschentuch herbei. Schnell wischte sie sich mit dem Handrücken über die nassen Augen.

Was soll jetzt nur aus mir werden?, dachte sie verzweifelt. Sie war ganz allein, hatte niemanden mehr. Ihr Chef war tot, ermordet von jemandem, der womöglich nun auch hinter ihr her war. Ihr geliebter Toivo hatte in den Flammen, die sie verursacht hatte, den Tod gefunden. Und Lucien, der merkwürdige Junge, der ihr so viel Rätselhaftes erzählt hatte, war ebenfalls nicht mehr am Leben. Er hatte sie gewarnt, hatte ihr gesagt, dass sie und ihre Zwillingsschwester gefährliche Kräfte besaßen. Nun hatte sie den Beweis dafür.

Die Welt begann sich zu drehen, und sie schloss flatternd die Lider, doch all die furchtbaren Bilder explodierten nur so vor ihren Augen: Ihr toter, blutüberströmter Chef, das lodernde Feuer, die Explosion des Supermarktes, ihre Zwillingsschwester … Sie bekam rasende Kopfschmerzen, fühlte sich ausgelaugt und unglaublich schwach. Kalter Schweiß rann ihr von der Stirn. Ihr war so heiß. Sie hatte das Gefühl, innerlich zu brennen. Sie fuhr sich mit der Hand über ihre feuchte Stirn.

Vor ihrem geistigen Auge tauchten erneut Toivo und Lucien auf. Sie kniff die Augen zu, um den schmerzenden Gedanken zu verdrängen und taumelte weiter, während Regentropfen unablässig auf sie niederprasselten.

Ciel kam an einem verlassenen Spielplatz vorbei, dessen Schaukeln sich mit unheimlich quietschenden Geräuschen im Wind bewegten. Der Weg führte sie weiter durch menschenleere, dunkle Straßen, die nur von ein paar Straßenlaternen schwach beleuchtet wurden. Sie irrte hungrig, durstig, erschöpft und fiebrig durch die Gegend, bis sie schließlich vor der Haustür des Reihenhauses ihrer Wohnung stand.

Sie war endlich zu Hause angekommen. Sie wusste nicht, wie spät es war, sie wusste nicht, wie lange sie herumgeirrt war. Da war nichts als Leere in ihrem Kopf und brennende Schmerzen in ihrem ganzen Körper. Sie konnte nicht mehr.

Schwer atmend stützte sie sich an der Tür ab, hatte kaum noch Kraft, um zu stehen. Fahrig tastete sie nach ihrem Haustürschlüssel, fand ihn nicht. Ihr war schwindelig. Schließlich gaben ihre Beine nach und sie sank auf die Knie.

In diesem Moment wünschte sie sich nichts mehr, als an Toivo und Luciens Stelle in den Flammen umgekommen zu sein. Der Hass auf sich selbst raubte ihr beinahe den Verstand. Die Schuld, mit der sie von nun an würde leben müssen, Tag für Tag, brachte sie fast um.

Oh, Toivo! Was habe ich nur getan?

Sie blinzelte irritiert und drehte den Kopf. Neben ihr stand ein großer Karton auf dem Boden, der ihr erst jetzt auffiel. Sie tastete danach und fand einen kleinen Notizzettel, der mit einem Klebestreifen an der Seite befestigt war. Sie riss ihn ab. Auf dem Zettel standen nur vier Worte geschrieben:

Es tut mir leid.

Sonst nichts. Kein Name. Keine Adresse. Nichts.

Sie zögerte erst, doch dann hob sie den Deckel an, um einen Blick hineinzuwerfen. Als sie sah, was sich im Innern befand, riss sie die Augen auf. Ihre blassen, rissigen Lippen begannen zu zittern. »Toivo!«, keuchte sie heiser.

Ihr kleiner Labradorwelpe schlief friedlich auf einer Decke.

»Toivo! Mein lieber Toivo! Du lebst!« Sie hob den kleinen Hund mit zitternden Händen heraus und drückte ihn an sich. Ciel weinte, diesmal vor lauter Glück, ihn lebend in den Armen zu halten. Erleichtert drückte sie ihr Gesicht in sein weiches Fell. Er war es wirklich! Er roch zwar ein wenig nach Rauch, aber es schien ihm gut zu gehen.

Toivo wurde wach, gähnte und beschnüffelte Ciel mit seiner nassen Schnauze. Dann bellte er, leckte ihr über die heißen Wangen und wedelte mit dem Schwanz.

Es war ein Wunder! Sie wusste nicht, wie Toivo es aus der brennenden Hütte geschafft hatte, aber er lebte! Sie drückte ihr verweintes Gesicht noch einmal in sein weiches Fell.

»O Lucien«, flüsterte sie unwillkürlich. Hatte auch er es aus der brennenden Hütte geschafft? Oder hatte er zu viel Rauch eingeatmet? Ein kalter Schauder durchlief ihren Körper.

Nein, sie konnte und wollte das nicht glauben. Lucien musste am Leben sein. So wie Toivo, denn Lucien musste ihn ihr gebracht haben. Nur er konnte das gewesen sein. Anders konnte sie es sich nicht erklären, dass sie ihren Hund im Arm halten konnte.

Wo mochte Lucien jetzt sein?

Als sie ihren zappelnden Hund neben sich setzte, wurde ihr schwindelig. Sie kippte zur Seite und landete mit der Wange auf den Pflastersteinen. Ein Keuchen entfuhr ihren Lippen. Ihr war so heiß und sie hatte solch rasende Kopfschmerzen, dass sie glaubte, ihr Schädel müsste zerspringen. Noch nie hatte sie sich so elend gefühlt.

 

Flatternd öffnete sie die Augen, als sie ein leises, fernes Rascheln vernahm. Das Geräusch erinnerte sie an Vogelschwingen. Dann nährten sich Schritte. Doch sie konnte kaum etwas erkennen. Ihr Sichtfeld war verschwommen, und alles drehte sich. Sie glaubte zu sehen, wie jemand auf sie zukam. Jemand, in helles Licht gehüllt, der eine strahlende Aura verströmte, so blendend und gleißend, dass ihre Kopfschmerzen dadurch noch verschlimmert wurden. Durch den Schleier ihrer verschwommenen Sicht glaubte sie, die schemenhaften Umrisse von Flügeln zu erkennen. Flügel aus gleißendem Licht. Ein Engel?

War ein Engel gekommen, um sie von diesem Leid zu erlösen und ihr ein besseres Leben an einem schöneren Ort zu schenken? Halluzinierte sie etwa schon? War das ihr Ende? Sollte so ihr Tod aussehen?

So war es also, wenn man starb …

Eine weiße Feder landete auf ihrem Handrücken, dann fielen ihr vor Erschöpfung die Augen zu. Sie sah nichts als Dunkelheit und verspürte eine brennende Hitze am ganzen Leib.