Der erste Russe

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»Hat sich dein Problem gelöst?«, fragt er mich, wartet allerdings meine Antwort nicht ab, sondern spricht weiter. »Ich hab mich dafür geschämt, was sie mit dir gemacht haben, das schwöre ich dir, aber ich konnte nichts sagen. Hätte ich sagen sollen ›Was macht ihr da? Gegen wen stellt ihr euch? Gegen die Künstler?‹«, richtet sich Vater Bessarion an einen unsichtbaren Gegner, der sich seiner Meinung nach irgendwo zwischen Cockpit und Toilette befinden muss.

Während Vater Bessarion redet, zeigt der Alkohol Wirkung. Manchmal hebt er die Stimme, dreht sich dann sogleich um und geht zum Flüstern über, ich vermute, er hat Flugangst, weil er, als eine Lampe plötzlich flackert, verwirrt erstarrt: »Was ist los, sollen wir die Kabine verlassen?«, sich dann aber beruhigt: »Nein, doch nicht … Da hat nur jemand die Stewardess gerufen.«

Ich möchte Vater Bessarion loben, weil er so ehrlich mir gegenüber ist. Es scheint, als würde er sich wirklich für irgendetwas schämen.

»Du warst damals mit deinen Freunden zusammen, und ich dachte: Die halten uns wahrscheinlich für Ewiggestrige, dabei konnte ich nichts sagen, weil man auch auf uns ein Auge hat: Diese Augen … In denen wütet ein großer Krieg. Ihr wisst es noch nicht, aber bald wird sich alles klären …«

Vater Bessarion nimmt ein Feuchttuch aus der Tüte und wischt sich zwischen den dicken, neurotisch zitternden Fingern herum.

»Wolltest du sie reizen?«, fragt er lächelnd. »Wolltest du Publicity?«

Ich tue so, als verstünde ich nicht, was er meint. Ich mag den Mann nicht, seinen vertraulich-ehrlichen Tonfall, ich möchte aufstehen und zu meinem Platz zurückgehen.

»Die Kirche will uns abwatschen, tja, was soll man machen, ihr müsst uns bloßstellen, beleidigen, diese Lügner beschimpfen … Aber weißt du, was alle stört? Dass ihr die beleidigt, die der Patriarch liebt. Ihn dürft ihr nicht anrühren, beschimpft uns, aber nicht ihn …«

Ich verstehe nicht, worauf er hinauswill, was für ein Typ er ist. Wahrscheinlich ist er einfach betrunken und plappert dummes Zeug. Oder hat Angst vorm Fliegen und will nicht alleine sitzen. Er wollte Megi nicht neben sich haben – wahrscheinlich hatte er sich die Geschichten der Frauen aus seiner Gemeinde schon zur Genüge angehört.

»Andere müsst ihr bloßstellen, die Pharisäer, in Wirklichkeit ist doch die Entwicklung schon im Gange, der Antichrist ist schon da, der Krieg der Zivilisationen bricht aus, warum will das keiner wahrhaben?«

Vater Bessarion spricht immer noch an die Ecke gewandt – die Lücke zwischen Toilette und Cockpit.

Am meisten ermüdet mich, erfolglos dem roten Faden seiner Rede zu folgen, der Priester springt mit vernichtender Schnelligkeit nicht nur von einem Thema zum anderen, sondern auch von einem Gemütszustand zum anderen: Gerade dachte man noch, er sagt etwas Passendes, und schon sagt er etwas Paranoides und lässt dich ratlos zurück. In seinem Kopf, den er jetzt ängstlich an die Lehne seines Sitzes drückt, herrscht ein völliges kulturell-religiös-sozialökonomisch-philosophisches Durcheinander, er könnte im Herzen sogar Atheist sein und sich nur in den turbulenten Zeiten wie ein Gläubiger benehmen.

Er ist doch ein Lieber, verängstigt und verwirrt, vielleicht möchte er gar kein Priester sein.

Und er ist offenbar auch noch eine Labertasche. Vater Bessarion lässt sich über die Konflikte innerhalb der geistlichen Hierarchie aus, beschimpft die Bischöfe, irgendwelche Leute, die nicht begreifen, wie unethisch es ist, manche Dinge auszusprechen, selbst in der Beichte: »Warum soll ich mir das Gefasel anhören!«, sagt er, lobt jedoch umgehend irgendeinen Mann, der eine Beichte abgelegt habe, die ihm bis heute nicht aus dem Kopf gehe. Ich bekomme das Gefühl, dass er mir dessen Geschichte erzählen will. Er merkt selbst nicht mehr, wovon er eigentlich erzählt, noch vor Kurzen hatte er zumindest seine Stimme im Griff, jetzt jedoch schreit er, wie er will und was er will: »Diese Schweine drängen uns zurück in die Sowjetunion, schaufeln den alten Bonzen das Geld in die Taschen und scheißen drauf, was ich will oder was du willst, was das Volk will. Sie häufen weiß Gott wie viel an und hetzen die Leute auf, währenddessen vermehrt sich ihr Geld und ihr Einfluss. Sieh mal, so was sagen die: Der Antichrist ist im Westen, Europa – die Wiege des Bösen! Wohin wollt ihr? Wollt ihr dorthin? Nun, ratet mal, wer die Sintflut überleben wird! Das orthodoxe Russland! Das neue Byzanz. Du solltest mal hören, was die in den Predigten für Sachen erzählen …«

Am Vorhang erscheint Megis Kopf, sie lächelt.

»Warum schreist du so, Vater Bessarion?«

»Was ist los, fühlt sich jemand gestört?« Sein Gesicht hellt sich auf.

Soll sich diese Megi doch zu dem Mann setzen und ihn beruhigen, so gut sie kann. Ich löse den Gurt, sage, ich müsse etwas schreiben, und stehe auf. Er fragt mich: »Wieder etwas Skandalöses?« Wir lachen. Plötzlich legt er die Hand auf mich: »Du hättest die Heilige nicht beleidigen dürfen. Das ist eine Sünde. Was die Ewiggestrigen sagen, ist das eine, in Wirklichkeit liegt das Problem ganz woanders. Warum sollte man mit der Sünde herumlaufen?«

Er hat wieder den Gemütszustand gewechselt, er wird zu einem anderen Mann.

Eigentlich sollte es mir zuwider sein, ist es aber nicht, und ich stelle die Frage, die ich diesen Monat fast täglich gestellt habe: »Haben Sie selbst meine Erzählung gelesen?«

»Ja«, erwidert er, aber ich bin sicher, dass er lügt.

»Wo habe ich etwas Beleidigendes geschrieben?«

»Du hast geschrieben, dass sie einen Hängearsch hatte. Das ist eine Sünde.« Vater Bessarion lässt nicht locker. »Das sollte dir leidtun, aber nur den ehrenhaften Leuten gegenüber, jenen gegenüber nicht … Vielleicht quassele ich jetzt viel, aber ich bin auf deiner Seite.«

Wer ist dieser betrunkene Mann, warum stehe ich hier bei ihm? Die Sache ist für mich schon seit einer Woche vorbei, doch ich lasse mir nichts anmerken, antworte nichts, lächle ihn furchtbar verlogen an und verabschiede mich fürs Erste.

Der Priester löst den Gurt – hoffentlich nicht, um sich zu geißeln (was für ihn zweifellos eine Heldentat ist) –, steht auf, wendet sich zu mir und flüstert mir ins Ohr: »Tu, was du willst, wem’s nicht gefällt, soll erst vor der eigenen Tür kehren.«

Perversionen. Februar 2002

Selbst ohne zu wissen, bei wem du zu Besuch bist, würdest du gleich beim Eintreten merken, dass hier Künstler wohnen. An den Wänden hängen große und kleine Gemälde, auf den Regalen und an allen Orten, wo Platz ist, liegen zahllose Bücher. Vom Fenster aus sind die Wendeltreppen und Holzbalkone des italienischen Hofes zu sehen. Man spürt, hier muss ein kleiner Hort der Kultur und des geistigen Lebens sein. Des geistigen Lebens?, wird der Leser fragen, denn entweder findet er diesen Begriff abgedroschen, oder er bringt ihn nicht mit unserem Gesprächspartner in Verbindung. Ist das etwa »geistiges Leben«, wenn ein junger Mann, der sich für einen Künstler hält, eine Episode aus dem Leben einer von den Georgiern verehrten Heiligen auf abstoßende Art und Weise beschreibt und generell die Geschichte in den Schmutz zieht? Oder sind wir einfach rückständig und halten das für Schmiererei, was für »solche Leute« Kunst sein soll? Unser heutiger Gast ist genau diese Person, die solche Fragen aufwirft und, ich übertreibe nicht, solche Empörung verursacht: ein dreiundzwanzigjähriger Mann, der aufgrund seiner skandalösen Erzählung in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt ist. Hier muss ich erwähnen, dass ich ihn ein paarmal im Fernsehen gesehen habe und er jedes Mal in mir den Eindruck eines arroganten jungen Mannes hinterlassen hat, in Wirklichkeit jedoch ein höflicher Mensch ist. Sein Vater hatte sein Atelier gleich nebenan und arbeitete dort an der Staffelei.

Ich habe unserem Gast Fragen gestellt, welche die Gesellschaft hinsichtlich seiner Person beschäftigen, und entschuldigte mich im Voraus, falls die eine oder andere davon inakzeptabel sei.

Sie: Deine Erzählung haben zwar nicht viele gelesen, aber der Text hat schon dermaßen großes Aufsehen und Ärger hervorgerufen, dass selbst im Parlament über eine Zensur diskutiert wurde. Es hieß, ein Schriftsteller dürfe nicht alles schreiben. Kannst du uns schildern, was du geschrieben hast?

Ich: Es ist ein satirischer Text über Königin Tamar und ihren ersten Ehemann, Juri Bogoljubski, der nach zwei Jahren Ehe auf ihr Geheiß aus Georgien vertrieben wurde. Diese Geschichte ist detailliert von Basili Esosmodsghwari, einem Chronisten im dreizehnten Jahrhundert, in seinem Werk »Das Leben der Königin und Herrscherin Tamar« niedergeschrieben worden. Der Historiker führt aus, wie ihre Tante und hohe Kirchenmänner einen Ehemann für die neunzehnjährige Königin auswählten. Königin Tamar hatte viele Bewerber – unter anderem natürlich im Byzantinischen Reich – doch fiel die Wahl auf den russischen Prinzen, den Sohn des Nowgoroder Großfürsten Andrej Bogoljubski, Juri, oder wie er in Georgien genannt wird, Giorgi. Komisch, dass man Prinz Juri auserwählte und keinen anderen, denn zur Zeit der Wahl gehörte ihm Nowgorod schon nicht mehr – die Großfürsten, die Bojaren, hatten seinen Vater, Andrej, umgebracht und verhinderten die Nachfolge Juris. Aber Tamars Tante Rusudan und andere, die großen Einfluss auf die junge georgische Regentin hatten, legten ein gutes Wort für Juri ein und, so schreibt Basili, verheirateten ihn mit Tamar. Tamar äußerte zwar Zweifel, ob es richtig sei, jemanden zum Mann zu nehmen, über den man so gut wie nichts wisse, beugte sich jedoch dem Willen der Mehrheit und willigte in die Heirat mit dem russischen Prinzen ein. Das ist eine aufregende und verworrene Geschichte, die viele Fragen aufwirft. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass der Chronist Basili diese erst nach Tamars zweiter Eheschließung mit Dawit Soslani niederschrieb und deshalb dem ersten Ehemann gegenüber umso kritischer war. Sei’s drum, Juri Bogoljubski ist jedenfalls der erste Russe, den es nach Georgien verschlagen hat, und da beginnt die tragische Geschichte der russisch-georgischen Beziehungen. Am Ende enttäuschte Juri die Erwartungen der Georgier: Basili Esosmodsghwari zufolge habe sich dieser durch Sodomie versündigt und sei dem Suff verfallen, streitsüchtig und vollkommen untauglich für den Königsthron gewesen. Ich habe dem noch hinzugefügt, dass er in der ersten Nacht nicht in der Lage gewesen sei, seine ehelichen Pflichten zu erfüllen, und seine Lust auf andere Weise befriedigt habe.

 

Sie: In welcher Form?

Ich: Es ist eine Satire …

Sie: Verstehe ich, aber vielleicht tut das der eine oder andere von unseren Lesern nicht. Also wie nun?

Ich: Es ist die Geschichte des ersten Russen in Georgien. Eine politisch-literarische Allegorie über die Beziehung von Russland und Georgien. Mit Königin Tamar hat das nichts zu tun.

Sie: Das war keine Antwort auf meine Frage.

Ich: Welche?

Sie: In welcher Form Juri Bogoljubski sein sexuelles Verlangen in der Hochzeitsnacht befriedigt hat.

Ich: Haben Sie die Erzählung nicht gelesen?

Sie: Noch nicht, leider, aber ich verspreche dir, ich werde das auf jeden Fall tun.

Ich: Mir gefiel die Geschichte, der Stil, wie der Chronist die Geschichte beschreibt, und ich dachte mir, ich schreibe einen politischen Text über die historische Heirat im dreizehnten Jahrhundert.

Sie: Aber am Ende kam es so, dass du die von vielen verehrte Heilige verunglimpft hast.

Ich: Wie denn?

Sie: In der Hochzeitsnacht spielt sich ein schändliches Ereignis ab …

Ich: Basili Esosmodsghwari schreibt, dass sich Tamar von Juri geschändet fühlte.

Sie: Aber nicht Basili Esosmodsghwari, sondern du hast dir die Schlafzimmerepisode ausgedacht …

Ich: Woher wissen Sie das, wenn Sie meine Erzählung nicht gelesen haben?

Sie: Das wissen doch mittlerweile alle, man erzählt es sich eben …

Ich: Was erzählt man sich?

Sie: Man erzählt, in deiner Erzählung wird Juri Bogoljubskis sexueller Kontakt zu einer Henne beschrieben. Tja, jetzt hast du sogar mich dazu gebracht, es auszusprechen!

Ich: Ja, das hab ich mir ausgedacht, aber das ist keine Verunglimpfung von Königin Tamar …

Sie: Königin Tamar steht daneben und ist faktisch Augenzeugin. Denkst du nicht, dass hier, wo – komm, nennen wir die Sache beim Namen – so eine obszöne Episode beschrieben wird, die Anwesenheit einer Heiligen ein kleines bisschen blasphemisch ist? Viele haben das so gesehen.

Ich: Nun, weil sie es sieht, wirft sie ihn hinaus, aber Juri Bogoljubski versucht, auf den Thron zurückzukehren und sich auf die Seite von Tamars Widersachern zu schlagen. Diese Henne wird am Ende das goldene Ei legen, metaphorisch ausgedrückt.

Sie: Darf ich eine Frage stellen?

Ich: Klar.

Sie: Bist du in einer Beziehung?

Ich: Über persönliche Dinge spreche ich nicht.

Sie: Diese Frage steht im Zusammenhang mit unserem Thema.

Ich: Es interessiert Sie also, ob ich zoophil bin? Bin ich nicht. Ich bin in einer Beziehung.

Sie: Entschuldigung, aber ich muss dich das fragen: mit einem Mann oder einer Frau?

Ich: Was?

Sie: Hast du außergewöhnliche Vorlieben? Es interessiert die Öffentlichkeit.

Ich: Was hat das damit zu tun?

»Wieso hat das nichts damit zu tun?« Mein Vater platzte herein, er war offenbar irgendwo in der Nähe gewesen und hatte uns belauscht. »Sag einfach Nein, antworte einfach, was eierst du rum, Mann!«

Das Interview brach ab.

»Die Frage war wohl schlecht formuliert, Entschuldigung«, rechtfertigte sich die Journalistin, »ich verehre Sie beide so sehr …«

»Warum sagst du ihr nicht, dass du heterosexuell bist?« Mein Vater konnte seine Verwunderung nicht verbergen. Der Arme verschluckte sich (er war wohl gerade dabei, sein geliebtes Maisbrot zu essen, als er das provokante Interview mitbekam und die Hände am Schnurrbart abwischte). »Also wirklich, was ist das denn für eine Frage? Warum antwortest du so ausweichend?«

Meiner Meinung nach eierte ich überhaupt nicht herum, ich wusste bloß nicht, wie ich reagieren sollte – sollte ich ernsthaft beteuern, dass Juri Bogoljubski und ich keine ähnlichen Vorlieben hätten? Erstens hatte ich solch eine dumme Journalistenfrage nicht erwartet, zweitens genierte ich mich, über dieses Thema zu reden, und drittens stellte ich mir plötzlich vor – genauer gesagt, der Snob in mir stellte sich vor –, was meine schwulen Bekannten sagen würden, wenn sie dieses Interview lesen würden. Meine Güte, Vater, dachte ich verärgert, ich bin doch liberal, was hat das mit Heterosexualität zu tun, konntest du dir nicht denken, in welchem Kontext sie mich das fragt? Ich sollte mir wohl eine richtige Antwort ausdenken, überlegte und sagte schließlich irgendwie mehr zu mir selbst: »Nein, beziehungsweise jawohl, ich bin heterosexuell, aber warum erwähnen Sie Schwule in so verächtlicher Weise?«

Ich sagte das sogar so laut, dass die Journalistin es tatsächlich hörte, aber sie schrieb meine Worte nicht mal auf.

»Mach die Sache doch nicht komplizierter, als sie ist!« Mein Vater regte sich noch mehr auf: »Merkst du nicht, was die wollen? Die wollen dir jetzt alles Unglück in die Schuhe schieben und damit die verwirrten Leute noch mehr zur Weißglut bringen. Damit, dass du angeblich ein Schwuler bist, ein Pädophiler, ein Zoophiler und ein Serienmörder!«

»Gute Güte, was erlauben Sie sich …« Die Journalistin tat betroffen. »Ich möchte meinen Interviewpartner möglichst objektiv darstellen, warum sollte ich es sonst wagen, solche Dinge zu fragen.«

Was mir noch mehr Sorge bereitete, war, dass die frischgebackenen ein, zwei Liberalen, die mich in der Sache zu verteidigen versuchten, kaum zufrieden wären, wenn sie lesen würden, dass mein Vater »alles Unglück« der Homosexualität zuschrieb.

»Sei nicht besserwisserisch, ich bitte dich! Weißt du, was die als Überschrift nehmen werden?!«, rief mein Vater.

»Du meine Güte, nein«, flötete die Journalistin, sie schien nun wirklich betroffen.

Plötzlich öffnete sich unbemerkt die Tür, und Ani schaute ins Zimmer – diejenige, die mich normalerweise bei Journalisten mahnte, ich solle nicht zu viel darüber nachdenken, ob eine Antwort ausgewogen und diplomatisch sei. Sie machte ein verängstigtes Gesicht, wahrscheinlich, weil meine laute Stimme bis auf den Flur zu hören war.

»Sieh mal einer an, seine Freundin! Schau!« Mein Vater lief Ani entgegen. »Schaut sie euch an! Ist sie ein schlechtes Mädel?«, und er wandte sich ihr zu: »Bist du ein Mann oder eine Frau?«

»Oh, Sie sind so süß!«, flötete die Journalistin.

»Sie soll dir sagen, ob sie ein Mann oder eine Frau ist!« Mein Vater ließ nicht locker.

»Eine Frau, allerdings mit dem Charakter eines Mannes«, sagte ich.

Nach einem Monat Schlaflosigkeit, dem Hin und Her und der Flucht aus dem Patriarchat, dem Untertauchen, den ausgesprochenen und unausgesprochenen Entschuldigungen, den erschöpfenden und zermürbenden Missverständnissen und dem allumfassenden Stress, benahm sich kein einziger von uns angemessen. Zu dieser Zeit sahen wir überall Feinde und Verschwörer.

Ani nahm so etwas wie eine Kampfpose ein, weil sie dachte, ich hätte jetzt eine Auseinandersetzung mit der Journalistin und müsse verteidigt werden, obwohl diese sich so oft für die »unbedacht gestellte Frage« entschuldigte, dass sie mir plötzlich mit Vorwürfen kam (sie war schon auf Krawall gebürstet, und mit irgendwem musste sie sich ja anlegen): »Nun, aber (so fing sie an), hättest du dir nicht im Voraus die Fragen geben lassen können, damit du hier keine unbedachten Antworten geben musst?«

»Ich konnte ja auch nicht ahnen, dass mein Vater hereingeplatzt kommt!«, sagte ich wütend.

»Soll er doch sagen, warum ich hereingeplatzt bin!«, schrie mein Vater los.

»Bitte nicht streiten wegen mir, bitte!« Die Journalistin wäre wohl am liebsten gegangen.

»Ich bin gleich wieder weg«, sagte mein Vater und ging zur Tür, »aber schreiben Sie jetzt bloß nicht, wie ich hereingeplatzt bin.«

»Wie könnte ich.« Die Journalistin war zerknittert, wie auch unser »Angriff« ihren Blazer über dem Bauch zerknittert zu haben schien (irgendwie sah er plötzlich schäbig und lumpig aus), der Mantel war sogar auf den Boden gefallen.

Ich hob den Mantel auf, hängte ihn über den Stuhl und schloss hinter meinem Vater die Tür.

»Was haben Sie denn so Schlimmes gefragt?«, wandte sich Ani an die Journalistin.

»Ob du etwa zoophil bist«, antwortete ich.

»Jetzt schiebt nicht mir die Schuld in die Schuhe, so hab ich nicht gefragt«, plapperte die Journalistin laut los. Man konnte nicht erkennen, was in ihr vorging, ihr Gesichtsausdruck wechselte von einer Emotion zur nächsten. Wahrscheinlich dachte sie, sie sei bei einem Psychopathen gelandet (Nicht dass er mich einsperrt und mir etwas antut!).

»Sollen wir weitermachen?«, fragte sie mich. »Solche Fragen stelle ich nicht mehr, versprochen.«

Ani zog die Augenbrauen hoch, nach dem Motto »Wen hast du da nur reingelassen?«, und setzte sich irgendwohin: Weder konnte sie gehen noch wollte sie zu meinem Vater hinaus.

»Machen wir weiter«, sagte ich.

Die Journalistin drückte auf den roten Aufnahmeknopf.

Sie: Was ist passiert, kannst du mir das erklären? Sag mir wenigstens, warum die Leute so wütend auf dich sind.

Ich: Diese Leute sind immer auf alles wütend. Im Voraus. Sie wollen Blut sehen.

»Das dürfen Sie nicht drucken!«, rief mein Vater uns aus seinem Atelier zu.

2

»Freie Epoche« – Angst vor der Revolution. 2001–2002

(–1)

Der November war in Georgien schon immer der Demonstrationsmonat. Damals – wahrscheinlich wegen der kürzer werdenden, depressiven, stromlosen Tage – keimte immer der Wunsch auf, dass sich etwas ändern müsse: Zum Beispiel die Regierung. Aber eine Regierung, die fast dreißig Jahre lang Eduard Schewardnadses Kopf, Körper und Stimme hatte, würde sich vermutlich noch längere Zeit nicht ändern. Er war jetzt ein zäh redender und von leichtem Parkinson beeinträchtigter alter Mann und wirkte so, als ob ihn die aktuellen Novemberdemonstrationen nicht besonders beunruhigten. Zumal das alles nicht wirkte wie Demonstrationen – wie blinde Katzen rotteten sich die Mieter verdunkelter Häuser spontan auf den Hauptstraßen zusammen und sperrten bestenfalls kleinere Straßen.

Auf georgische Demonstrationen ging man selten aufgrund von sozialen Problemen, und wenn man hinging, sagen wir, um gegen Arbeitslosigkeit zu protestieren, würde garantiert nach einer Stunde der Rücktritt des zum Unglückssymbol gewordenen Präsidenten gefordert.

Das war auch jetzt so: In der Nähe meiner Wohnung, auf einer großen Straße, hatten Menschen wegen fehlender Stromversorgung die Straße gesperrt. Der Protest galt einem von vielen ekelhaften Phänomenen der 90er – dem Stromzeitplan, der, ungeachtet seiner Definition, keinerlei Regeln unterlag. Jeder erwähnte den irgendwo veröffentlichten mythischen Zeitplan, dieses hässliche Wort, aber keiner wusste mit Sicherheit, wann und wie lange es Strom hätte geben müssen. Wenn es welchen gab, dann zu einem nutzlosen und sadistischen Zeitpunkt, wenn alle schliefen: zum Beispiel um fünf Uhr morgens. Dementsprechend erwachte das Leben des einundzwanzigsten Jahrhunderts früh: Es wurde Wäsche gewaschen, Geschirr gespült, der ersehnte Fernseher ging an, mit einer Einblendung auf dem Bildschirm »Die Rundfunkübertragung wird um acht Uhr morgens fortgesetzt« (interessant zu wissen, für wen!), ganz langsam wurde das unter knackenden Geräuschen zurückkehrende Wasser in der Dusche warm, und die großen milchweißen Computer füllten sich mit Lebensenergie. Es gab jetzt tatsächlich öfter Strom als noch vor ein paar Jahren, als es absolut gar keinen gab, doch so plötzlich wie er kam, ging er auch wieder, deswegen lag allen ein und dasselbe auf den Lippen: »Es ist schon das Jahr 2001 und wir sitzen immer noch im Dunkeln.« Der Grund für diese Worte, den Ärger und die ausgesprochen-unausgesprochene Wut war allgemein und konkret Eduard Schewardnadse, den die nach Stromzeitplänen lebenden Leute als Ursache ihres täglichen Unglücks betrachteten.

 

Eduard Schewardnadse wurde überall und ständig beschimpft, er war der Erste, der gehasst wurde, und der Letzte, den man reell ersetzen wollte. Seiner Beschimpfung folgte unbedingt die fatale Frage: »Wenn nicht er, wer dann?« Eduard Schewardnadse gelang es genau dank dieser Frage, dreißig Jahre lang an der Macht zu bleiben. »Schewardnadse ist ein langsames Sterben und ein Sumpf, aber es gibt keine Alternative zu ihm.« In dieser Phrase steckte das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, aber auch der Stabilität. Mit dem neuen Jahrhundert kam auch ein Gefühl, mit dem niemand das Ende des vergangenen Jahrhunderts charakterisieren würde: ein nahezu aus dem Nichts gekommener Optimismus. Vielleicht doch nicht ganz aus dem Nichts, falls jemand die aus der Leblosigkeit der Neunzigerjahre erstandenen, mit Plastikstühlen und -tischen ausgestatteten Cafés und andere Symbole der Zivilisation, zum Beispiel McDonald’s oder ein, zwei private und vergleichsweise solide Banken, als Erfolgsargument heranziehen würde. Die Eröffnung des ersten McDonald’s überzeugte viele, dass Veränderungen möglich waren. Der Katholikos-Patriarch und Eduard Schewardnadse eröffneten zusammen das neue Schnellrestaurant. Der Präsident kostete mit der für ihn charakteristischen Geschmeidigkeit einen gewaltigen Big Mac, das Staatsfernsehen nannte die Eröffnung des Fast-Food-Objekts den »nächsten Sieg nach dem Fall der Berliner Mauer: Georgien wird zum modernen Land«.

Der Präsident wurde tatsächlich von Zeitungen und Fernsehsendern heftig kritisiert, aber deren Geschrei wurde übertönt vom ununterbrochenen Feiern der georgischen Popkultur, für deren Existenz das staatliche Fernsehen sorgte. Wenn im Fernsehen gefeiert wurde, hieß das, es war auch im gerontokratischen Georgien Feierstimmung. Laut Aussage des Präsidenten »mussten sich die Leute von viel Unglück erholen«.

Geschaffen wurde die Illusion der Existenz einer Kultur durch Dutzende staatliche Theater (wo allerdings keine Löhne ausbezahlt werden konnten), zwei Orchester (deren Musiker ihre Partituren manchmal mit Kerzen beleuchteten), einige gekünstelt unterhaltsame Restaurants (in denen man live halb toten Musikern zuhören konnte), fünf altsowjetische und nicht reformierbare Literaturzeitschriften und eine Oper mit psychisch, physisch und gesanglich instabilen Vokalisten.

Man ging davon aus, dass es auf jeden Fall schon Strom gab, zumindest in staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen, aber genau dann, als es am Ende hieß, der Strom werde in Georgien nur einem strengen Zeitplan entsprechend ausgeschaltet, ging der Strom trotzdem beim Jubiläum des Präsidenten im Operntheater aus, zudem genau in dem Moment, als der berühmte Tenor – selbst schon im Jubilarsalter – das hohe D in Manricos Cabaletta bekommen musste. Der Präsident verließ unerkannt in absoluter Dunkelheit den Saal, außer ihm hatte jedoch niemand Lust zu gehen, da es hieß, der Strom sei in ganz Tbilissi weg, zudem herrschte draußen noch viel größere Dunkelheit und Kälte als in der Oper. Deshalb warteten diejenigen, die geblieben waren, weitere drei Stunden auf den Strom. Der große Tenor saß auf der Vorderbühne, legte sich das Schwert auf die Knie und plauderte mit den Zuschauern im Parkett: »Schewardnadse hat sich davongestohlen, Maestro!« – »Wie bitte? Hier kriegt man nichts mit. Ob er nun kommt oder geht …«

»Auf allen Kanälen werde ich mit Dreck beworfen«, beschwerte sich der Präsident, »schaut das Staatsfernsehen an, selbst dort beschimpfen sie mich regelmäßig, aber als Demokrat muss man das ertragen und den Kummer herunterschlucken.«

Seine fortlaufende Kritik war im neuen Privatfernsehen zu hören, dessen Zielgruppe um einiges jünger war als der existierende Kollektiv-Schewardnadse – der gesammelte Anti-Schewardnadse, eine neue Generation, die der immer noch aktiven, regierungs- und machtverliebten, aggressiven Großvätergeneration des Präsidenten gegenüberstand. Licht (neue Generation) vs. Stromausfall (Großväter).

Es ist eigenartig, was die Stromlosigkeit betraf, hatte es mich auf die Seite der Glücklichen verschlagen, zu jenen, die in einem Block wohnten, in dem es fast immer Strom gab, beziehungsweise wo das einundzwanzigste Jahrhundert Einzug gehalten hatte. Es wurde gemunkelt, wir seien mittels tief in der Erde vergrabener Elektroleitungen mit einer geheimen Militärbasis verbunden, und wegen jener unsichtbaren Basis bekämen wir außerhalb des unsinnigen Zeitplans Strom. Meine Nachbarn witzelten jedoch, wir seien ans Paradiesnetz angeschlossen, weil unser sechzehnstöckiger Block in geografischer Nähe zu einem weiteren großen Angstauslöser meiner Kindheit lag – den stetig wachsenden Friedhöfen von Wake und Saburtalo. »Wenn der Strom auch in unserem Block ausfällt, wird es so dunkel, dass wir das phosphorfarbene Leuchten der Leichen sehen können. Wenn die verwesen, fangen die nämlich an zu leuchten«, sagte ein unter mir wohnender Junge undefinierbaren Alters (einer von der Sorte, die es in jedem Hof oder Block gibt – ein Typ, der dauernd unglaubliche und glaubhafte Geschichten über Verstorbene, Särge, schwanzlose Eidechsen und Umweltkatastrophen auf Lager hatte).

Sei es aufgrund des Stromausfalls oder anderer Faktoren, jedenfalls vermehrten sich die Gräber dermaßen schnell, dass ich manchmal kaum in den eigenen Hausflur hineinkam. Während der Beerdigungen standen fremde Leute an unserem Fahrstuhl, und wir mussten, ob wir wollten oder nicht, an den Beerdigungen teilnehmen. Vor Verwirrung gab ich manchmal völlig unbekannten Leuten die Hand, um in den Fahrstuhl zu kommen, immer mit Angst im Nacken dafür betend, dass der Strom wenigstens nicht vor Erreichen des sechsten Stocks ausfiele. Das Beten hatte ich ja als Kind vor dem Fernseher sitzend gelernt (ich flehte Gott an, uns mehr als einen Trickfilm zu zeigen, denn im sowjetischen Fernsehen war die Ausstrahlung von Animationsfilmen beschränkt), in den Fahrstühlen der 90er- und 2000er-Jahre übte ich mich in Willenskraft, denn jederzeit konnte der Strom ausfallen oder eine Ratte in den Fahrstuhl schlüpfen oder ein Exhibitionist, was noch schlimmer als eine Ratte gewesen wäre.

Nicht nur das Fahrstuhlfahren (oder eher das -steckenbleiben) war ein klaustrophobischer Albtraum, sondern auch die Nächte nach der Beerdigung von fremden Menschen: Die Leute begruben ihren Verstorbenen direkt in der Nähe des Blocks, der Grabstein war normalerweise von meinem Fenster aus sehr gut zu sehen, sie streuten Blumen oder legten Kränze ab und gingen nach einer Stunde friedlich auseinander, wir aber, oder eher ich – mit meinem Fenster und meinem Schlafzimmer – legte mich mit einem furchtbaren Gefühl ins Bett, dass der Friedhof wieder um einen Verstorbenen reicher war und dieser jetzt irgendwie uns gehörte.

Mein Lebensinhalt war das »Loft«, ein Literatur-Theater-Klub auf dem Rustaweli, der trotz seines Namens im Keller lag, und ein Studio im Privatfernsehen, wo ich unter Pseudonym Szenen für eine Politsatire-Sendung schrieb. Sobald in der Stadt der Strom ausging, wurden im »Loft« öffentliche Lesungen von Gedichten, Prosa und allerlei anderem Zeug veranstaltet, und in einem von Generatorstrom beleuchteten Keller stieß ein Schriftsteller vollkommen spontan eine literarische Diskussion an. Es kamen unzählige Leute (oft zu Fuß, aus dem Umkreis der Stadt), für die es seltsam war, Menschen zu Gesicht zu bekommen, die behaupteten, Schriftsteller zu sein. Ein Mädchen gab freimütig durchs Mikrofon bekannt, es habe fast bis zur neunten Klasse gedacht, dass ein Schriftsteller unbedingt tot sein müsse.

Wer ins »Loft« ging, um Schriftsteller zu sehen, war eher ein Hörer als ein Leser, denn sie hörten der Rezitation eines Dichters gleichermaßen zu wie irgendeinem vom Staatsfernsehen gehypten lokalen Popstar. Mancher Autor hat sogar am Ende mit einer seiner Zuhörerinnen eine Familie gegründet. In allen Ecken des »Loft« sah man verliebte Zuhörer-Schriftsteller-Paare.