Der erste Russe

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

»Ist das Christentum etwa nicht alt?« Der Oberpriester ließ nicht locker.

»Lass ihn doch, der ist besessen«, sagten andere.

»Christen sind wir erst seit dem vierten Jahrhundert – genauer gesagt, ihr seid es.« Der Heide brachte den Oberpriester absichtlich zur Weißglut und maßregelte gleichzeitig seine Frau: »Warte, lass mich mit diesen Leuten reden, geht ihr schon mal heim, legt euch schlafen. Schaut mal, wie lange schon halten uns die Ausländer für Russen, fast zwei Jahrhunderte. Und viele wissen bis heute nicht, dass wir eine völlig andere Nation sind … Wir und Russen! Auch die Sprache ist eine andere, die Schrift und die Kultur, kann dann nicht auch die Religion eine andere sein? Warum sollten wir Orthodoxe sein oder Katholiken, wenn wir den Amirani haben!«

»Ich werde dem eine Tracht Prügel verpassen«, murmelte ein Mann neben dem Oberpriester, die Frau fasste ihren Heiden bei der Hand und zog ihn wie ein kleines Kind in Richtung eines heruntergekommenen Landhauses, dabei fing das Kind an zu weinen, aber auch der Oberpriester gab auf, obwohl die Taufe seiner Meinung nach der Kulminationspunkt der Diskussion gewesen wäre.

Der heidnische Physiker war die Ausnahme, denn es wurden alle getauft, denen wir unterwegs begegneten, und deren Familienmitglieder gleich mit – meistens Kinder, Enkelkinder und wegen der Sowjetzeit ungetauft gebliebene Großeltern. Unser pflichtbewusster Oberpriester sagte: »Früher tauften die Eltern ihre Kinder, jetzt taufen die Kinder ihre Eltern.«

In Bordschomi sahen wir uns Tausenden Heiden gegenüber: Schullehrer, ehemalige Parteisekretäre, ehemalige Parteifunktionäre, ehemalige und immer noch aktive Oktoberrevolutionäre, Pioniere, Veteranen des Zweiten Weltkriegs, Helden der Arbeit, Dorfintelligenzler, Chauffeure und Ärzte …

Sie ließen sich zu zehnt, ja zu Hunderten taufen. Sei es ein Bach, Wasserfall, Kanal oder Fluss, überall standen halb nackte Leute Schlange. Die Frauen gingen im Kleid ins Wasser, die Männer zogen sich ab der Taille aufwärts aus, krempelten die Hosenbeine hoch oder entkleideten sich komplett. Die Priester gingen bis zur Gürtellinie ins Wasser und tunkten (das Wort – tunken – mochten alle) die umstehenden Männer, Frauen und Kinder ohne Umschweife, gekonnt, eilig und irgendwie unfeierlich unter. Sie standen mit durchnässten, beschwerten Soutanen mitten im Wasser und wiederholten freudig, würdevoll und seufzend ein und dieselben Worte: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, amen!« Für viele war es noch ungewohnt, sich zu bekreuzigen, sie schienen sich unbehaglich zu fühlen, wussten nicht, wohin mit ihren Händen, hielten sie mal hoch oder legten sie auf die Brust und warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren.

Ein allgemeiner Enthusiasmus griff um sich, in den Menschen erwachte ein neuartiger Instinkt. Es war, als wenn sie Teil von etwas Bedeutendem und Besserem würden.

Die alten Frauen und Männer näherten sich jetzt schüchtern lächelnd den im Wasser stehenden starken Riesen mit den nassen Haaren und Bärten (als Täufer brauchte man offenbar eine Menge Kraft), die ihnen neue Bedeutsamkeit schenken sollten. Manche hielten die Taufe sogar für einen Teil von Gorbatschows Reformen und vermuteten, wer sich dem allgemeinen Enthusiasmus nicht anschließe, würde es im weiteren Leben schwer haben. Wer fürchtete, in der Minderheit zu sein, wollte jetzt auf der Seite der Mehrheit stehen, wo sich wiederum die wiederfanden, die jahrzehntelang gerade wegen ihrer Zugehörigkeit zur Kirche unterdrückt worden waren.

Es gab Leute, die ließen sich vier-, ja fünfmal taufen. Sie liefen mutig ins Wasser und baten die gleichen Priester um ein neuerliches Untertunken. Sie gingen in Gruppen, mit der Familie, ihren nackten Kindern, gebrechlichen Rentnern und auch skeptischen Familienmitgliedern (meist Ehemänner, die von ihren Frauen genötigt worden waren). Selbst wenn einer nur mitgekommen war, um der Taufe eines Verwandten zuzusehen, wurde er nicht dem Heidentum überlassen – sein Kopf wurde garantiert ebenso untergetaucht.

In Mzcheta, in der Nähe von Swetizchoweli, fielen am allgemeinen Tauftag so viele Leute über den Mtkwari-Fluss und den Aragwi-Fluss her, dass im Wasser kein Platz mehr zum Stehen war.

Zum Taufen hatte man auch meinen Großvater mitgenommen, ein extrem passives Mitglied der Kommunistischen Partei und Direktor des wissenschaftlich-technischen Büros des Instituts für Arbeitsschutz, der noch einige Nachbarn mitbrachte. Sie ließen sich gemeinsam in den Fluten des Aragwi taufen.

Von meiner Taufe wusste ich nur aus Erzählungen, denn damals war ich noch kein Jahr alt, und mir hätte auch keiner davon erzählt, hätte nicht der Bart meines jungen Paten Feuer gefangen. Er war Maler, genauso wie mein Vater, und ein aufmüpfiger Student. Er war von der Kunstakademie geflogen, weil er in der Sioni-Kathedrale Messdiener gewesen war, und unheimlich erschrocken über den kleinen Brand (vielleicht dachte er, es seien vom Heiligen Geist gesandte Feuerzungen). Es war der Mann, der sechs Jahre nach meiner Taufe versuchte, ein Tu-134-Flugzeug aus der Sowjetunion zu entführen, und dabei unter ungeklärten Umständen tödlich verletzt wurde.

Jetzt jedoch, immer noch in der Nähe von Bordschomi, dort, wo der Mtkwari-Fluss flacher wurde und sich die Prozessionsteilnehmer zum zweiten, fünften oder zehnten Mal taufen ließen, fand auch ich mich unerwartet im Wasser wieder. »Komm herein, komm tiefer herein«, sagte der nasse, pflichtbewusste Priester, ein Hüne mit zerzaustem Bart- und Kopfhaar. Ich, Enkel meiner Großmütter und ein anspruchsvolles und skeptisches Kind, ging sogar bis zur Hüfte hinein. Der Priester fackelte nicht lange, sobald ich bei ihm war, legte er die Hand auf meinen Kopf und drückte mich fast schon grob und beängstigend unter Wasser. Er tauchte mich, wartete einen Moment, sagte etwas (dasselbe, was er immer sagte), zog mich wieder hoch, tunkte mich noch tiefer und ließ mich noch ein bisschen länger unter Wasser; so lange, dass ich genug Zeit hatte, mich zu fürchten, und so kräftig, dass jeglicher Widerstand zwecklos war. Ich hatte ein seltsames Gefühl: Es war, als verlöre ich unter Wasser das Bewusstsein, für eine Sekunde, anderthalb Sekunden, und erst als ich wieder hochgezogen wurde, kehrte ich als höfliches, ruhiges Kind zum Ritual zurück. Diese neuerliche Taufe blieb mir in Erinnerung, weil ich schon groß war und kein einjähriges Kind wie bei meiner ersten Taufe 1977.

An ebenjenem Ufer des mit taufwilligen Leuten gefüllten Mtkwari stieß meine von meiner Pilgerreise und meinem Heldentum begeisterte Mutter zu uns, ebenso meine Tante und meine über deren Verantwortungslosigkeit verärgerte Großmutter (insgesamt war ich vierzig Kilometer mit dem Kreuz in der Hand gelaufen).

Da ich aber das Kreuz nicht aufgeben wollte, jedoch auch nicht mehr laufen konnte (»Das Kind hat Plattfüße, wollt ihr, dass es unterwegs zusammenbricht?«, hatte meine Großmutter verärgert gerufen), einigten wir uns letzten Endes auf einen Kompromiss: Vater Dawit erteilte mir großzügig die Erlaubnis, das Kreuz ein paar Tage später beim Einzug der Gläubigen in Mzcheta zu tragen, ich solle bis dahin nach Hause zurückkehren und darüber nachsinnen, welchen Weg ich zurückgelegt hatte.

Niemand strahlte in diesem Augenblick mehr Autorität für mich aus als dieser Mann.

Meine Mutter hatte sich zwar wirklich Sorgen gemacht, war aber trotzdem zufrieden mit ihrem Erfolg: Ich hatte für einige Tage nicht ferngesehen, war noch einmal getauft worden, hatte keine Angst gehabt, mit Kleidern ins Wasser zu gehen, hatte mich ein bisschen verändert (dachte sie zumindest) und ein teilweise sportliches, teilweise naturnahes (also männliches) Leben geführt.

»Wieder vorn zu gehen wäre wohl ein bisschen vermessen«, sagte sie, »lass uns einfach nach Mzcheta aufbrechen und ihrem Einzug zuschauen.«

Komisch, aber irgendwie wollte ich gar nicht mehr weg; in den anderthalb Tagen hatte ich mich an den Rhythmus und die Abläufe der langen Prozession gewöhnt, an die Taufen unterwegs, die Diskussionen, das Wohlwollen und die Begeisterung, die uns in den Dörfern entgegenschlugen, und, was die Hauptsache war, an das Gefühl der eigenen Wichtigkeit, mit dem ich nach Achaldaba kam. Ich hatte etwas erlebt, das mich zumindest ein wenig von meinem vorgestrigen Ich unterschied. Meine Tante und ich tauschten wieder – ich kehrte nach Hause zurück, sie zum Prozessionszug. Genauer gesagt, kehrte ich weniger nach Hause zurück als vielmehr zu jener Welt, die ich vor anderthalb Tagen verlassen hatte – zu denselben Stimmen, die der unter den Reformen wiederbelebte Fernseher von sich gab, demselben Geruch, der während des Sommers in den Wohnungen hängt. Drei Tage später, bevor ich darüber meine Reise vergessen konnte, folgte ich den (für unsere Familie typisch) enthusiastischen Frauen nach Mzcheta, wo die Prozession auf dem Weg der heiligen Nino im Hof des Nonnenklosters Samtawro enden sollte.

Der Mann, dessen Foto heutzutage religiöse Kalender, kirchliche Infostände und gläserne Spendenbüchsen von Klöstern oder verschiedenen Stiftungen in Supermärkten ziert, wohnte damals in einer Turmzelle neben Samtawro und verströmte Fischgeruch. Zumindest glaubte ich, dass es Fischgeruch war, weil er zwar kein Fleisch aß, aber Fisch liebte, in Wirklichkeit aber, so wurde mir gesagt, sei es ein »spezifischer Geruch« gewesen, wie ihn nur ein Einsiedlermönch, ein heiliger Narr, haben konnte.

Von ihm hieß es, er habe einst seinen sowjetischen Pass öffentlich verbrannt, Lenin – auch dies öffentlich! – als Satan bezeichnet und sei deswegen in die Psychiatrie eingewiesen worden. Der heilige Narr hatte zwei Särge gekauft – einen für sich, einen für seine betagte Mutter, er traute sich, alles zu sagen, und ungeachtet dessen, dass er manchmal unhöflich war und Leute beleidigte (zu einer Frau sagte er in meiner Gegenwart: »Verpiss dich, du Verführerin«), fanden ihn alle sympathisch. »Wie süß«, sagten sie und schlugen sogleich ein Kreuz, damit diese zärtliche Vertraulichkeit nicht als Sünde ausgelegt würde.

 

Als die Prozession der heiligen Nino dem Ende zuging und Vater Dawit mit der feierlichen Liturgie begann, sprang ausgerechnet jener Mann, der heilige Narr Gabriel, auf das Kirchenpodest, legte sich die riesigen Pranken auf die Brust und rief erst strahlend, dann erzürnt, der Teufel habe auf einem weißen Flügel gespielt und er, der Mönch, habe der Versuchung zu tanzen nicht widerstehen können.

»Er spielte und spielte, und ich konnte einfach nicht aufhören, ich, ein erwachsener Mann und Mönch, ich lachte und tanzte!«

Es schien, als habe keiner unten in der Menschenmenge erwartet, dass die Prozession solch einen Ausgang nehmen würde, zumindest ich nicht, denn bis dahin war mir noch nie ein tanzender alter Mann untergekommen.

»Wo kommt ihr her? Welchen Weg seid ihr gegangen?« Der Mönch, der offenbar gar nicht so alt war, wie er aussah, lächelte aus dem zahnlosen Mund. »Wer seid ihr?«

Vater Dawit trat gehorsam beiseite und ließ wie ein schuldbewusster Schüler den Kopf hängen.

»Was hat mir der Teufel angetan, und was wird er euch wohl antun, ihr armen Sünder?«, schrie der Mönch und schwebte tanzend auf den Altarraum zu. »Er ist nicht schwach, nein, sehr stark ist er, wenn er mich tanzen ließ, mich, einen Mönch, was wollt ihr dann schon gegen ihn ausrichten?«

Vater Dawit versuchte ihn höflich und so gut er konnte zu beschwichtigen, obwohl der Besessene mit den Händen fuchtelte und so etwas wie ein Knurren von sich gab. Dann aber breitete er theatralisch die Arme aus und legte ihm den Kopf an die Brust, unter den Bart. »Heilige Nino«, sprach er, »heilige Nino«, wiederholte er noch zwei- oder dreimal und schlug ein Kreuz. »Noch ist sie nicht erschienen. Die ganze Nacht hat mich der Teufel tanzen lassen …«

Der Mönch neigte betont demütig und verglichen mit seinem vorherigen Benehmen erstaunlich gehorsam vor Vater Dawit den Kopf.

»Gott segne euch«, sagte jemand hinter mir.

Diese Worte waren dermaßen unpassend, dass plötzlich von allen Seiten ein Zischen erklang:

»Pssssst …«

Das war alles total interessant, zumindest interessanter, als ich gedacht hatte, aber ich wollte trotzdem weg von hier: Diese unbehagliche Atmosphäre, dieser lächerliche und beängstigende Narr, diese Menschenmassen … Es gab so viele Eindrücke, und ich konnte die Geschehnisse hier und auf dem Weg der heiligen Nino überhaupt nicht einordnen. War es wirklich erhebend und positiv, oder passierte hier etwas unerträglich Unnatürliches und Verstörendes um uns herum? Einerseits hatte es mir gefallen, das Kreuz des Apostels Andreas zu tragen und in meinen Träumen auf einer antisowjetischen Demo von Swiad Gamsachurdia oder Merab Kostawa gelobt zu werden, andererseits konnte ich den dummen Physiker nicht vergessen, den Heiden, und seine eingeschüchterte, bleiche Frau mit dem weinenden Kind auf dem Arm, die ihren diskussionsfreudigen Mann am Ende hilflos und verängstigt von der sie umringenden Menschenmenge weggezogen hatte.

Zum meinem Glück endete die Liturgie bald. Meine Mutter, Tante und andere Leute waren jedoch plötzlich der Ansicht, Vater Dawit könne es als Zeichen von Missachtung werten, wenn man ohne Beichte und Abendmahl gehen würde.

»Ist es verwerflich, keine Beichte abzulegen?«, fragte meine Mutter.

Auch ich sollte die Beichte ablegen – die erste Beichte meines Lebens, die der krönende Abschluss eines Marsches über Dutzende Kilometer sein würde, aber ich wusste wirklich nicht, was ich hätte sagen sollen, denn im Gegensatz zu meinem Klassenkameraden hielt ich mich für völlig frei von Sünde – das war ich tatsächlich – und ich hatte keine Vorstellung davon, was zur Hölle ich Vater Dawit auftischen sollte.

Sollte ich mir etwa ihm zuliebe Sünden ausdenken?

»Unmöglich, dass du keine Sünden hast«, sagte die Kommilitonin meiner Mutter, wie alle ihre Geschlechtsgenossinnen unterschwellig verliebt in Vater Dawit, »horch in dich hinein!«

Ich wurde wütend, weil ich mich unter Druck gesetzt fühlte, ganz besonders von meiner Mutter, die so tat, als wäre sie auf meiner Seite, aber gleichzeitig dachte, es könne mir nicht schaden zu beichten. Und außerdem, so sagte sie, könne ich Vater Dawit damit eine Freude machen. Also musste ich mit diesem Mann über irgendetwas reden, damit er sich gebauchpinselt fühlen würde. Wie ich mich schämte, seine Zeit zu verschwenden und ihm irgendwelchen Unsinn aufzutischen: Ich hätte meine Mutter gekränkt, ein Mädchen zum Weinen gebracht, sei frech zu meinem Großvater gewesen …

»Faulheit ist eine Sünde, zum Beispiel«, sagte eine Frau, die auf einem Stein saß und glasige Augen hatte. »Völlerei, Gefräßigkeit …«

Sie zählte Wörter auf, deren Bedeutung ich nicht kannte. Ich war furchtbar verwirrt, weil ich krampfhaft versuchte, mich an Sünden zu erinnern (oder mir welche auszudenken), um einer Beichte würdig zu sein. Ich dachte, ich könnte einfach die Sünden eines anderen aufschreiben – zum Beispiel die meiner Großmutter, die als Kind Katzenbabys ertränkt hatte.

Der Vorschlag, die Sünden aufzulisten, machte die Sache nicht einfacher.

Generell waren damals viele bestrebt, den Geistlichen möglichst viel über ihr Privatleben zu erzählen (am meisten diejenigen, die in Wahrheit gar kein Privatleben hatten), die Leute füllten Seite für Seite mit winzigen, schiefen Buchstaben – sie schrieben und schrieben alle unmöglichen und möglichen Sünden auf, begangene oder nur imaginäre, angelastete oder echte.

Diejenigen, die so einen weiten Weg zurückgelegt und sich jetzt zur abschließenden Liturgie zusammengefunden hatten, legten sich nun Büchlein auf die Knie und sinnierten fleißig über ihre Vergehen. Manche schrieben »Meine Sünden«, andere »Sündenliste«.

Meine Mutter wollte mir beim Schreiben meiner Sündenliste helfen, doch dann fiel mir gerade noch eine echte Sünde ein. Ich hatte mit dem neuen Videorekorder des Nachbarn einen Ausschnitt eines Pornofilms (über das zügellose Leben Katharinas II.) gesehen. Und so schrieb ich zwei Worte ordentlich auf das reine Blatt Papier:

Meine Sünden

Ich fügte eine Nummerierung hinzu:

1.

2.

3.

Dann bekam ich doch Skrupel, eine echte Sünde aufzuschreiben, zerknüllte das Blatt und wandte mich mit einer zurechtgelegten Bitte an Vater Dawit: »Vater Dawit, ich bin das erste Mal hier und bitte Euch um Hilfe.«

Das bedeutete, der müde Priester, der wahrscheinlich nicht einmal wusste, dass ich die Beichte nur als Zeichen der Wertschätzung ihm gegenüber ablegen wollte, musste sich nun Fragen einfallen lassen, die er einem sündigen Kind stellen konnte.

Vater Dawit saß mit gelangweilter Miene neben einer hohen Kommode und schien zu faul, um über meine Sünden nachzudenken.

Endlich überwand er sich und fragte: »Verärgerst du deine Eltern?«

»Ja«, erwiderte ich erfreut.

»Faulenzt du?«

»Ja.«

»Sagst du schlimme Wörter?«

»Ja.« (Dabei tat ich das gar nicht.)

»Hast du jemandem Kummer bereitet? Sagen wir, einem Freund?«

»Ja.«

»Wie?«

»Ja.«

»Wie, hab ich gefragt. Erzähl.«

»Ähm, nun ja … Ich weiß nicht mehr … Gleich fällt’s mir wieder ein …«

»Kommen dir manchmal schlechte Gedanken? Zum Beispiel über einen Menschen, der dich verärgert hat? Dass ihm etwas Schlimmes zustoßen sollte …«

»Ja …«

»… dass er sterben sollte, mal angenommen.«

»Ja … Nein … »

»Tja …«, sagte er nachdenklich.

Irgendwie befürchtete ich, er würde mir jetzt die Frage stellen, mit der er meinen Klassenkameraden dazu gebracht hatte, seine Hauptsünde zu offenbaren. Und wenn er das täte, würden mir garantiert jene sündigen Gedanken in den Sinn kommen, die mir, seitdem ich die pikanten Episoden aus dem Leben Katharinas II. auf Video angeschaut hatte, nicht aus dem Kopf gingen.

Er fragte jedoch nichts dergleichen, sagte nur: »Möchtest du selbst nicht noch etwas hinzufügen?«

Was hätte ich hinzufügen sollen? Ich hatte mich in keiner Weise einer solchen Sünde (wenngleich ich immer noch so meine Zweifel hatte, dass mein Klassenkamerad sie wirklich begangen hatte) schuldig gemacht, an Katharina jedoch wollte ich prinzipiell nicht erinnert werden. Ich weiß eigentlich nicht genau, warum ich Vater Dawit allen Ernstes entgegnete: »Ich habe furchtbare Angst vor Außerirdischen, alle sprechen davon, und ich möchte wissen, gibt es die nun wirklich oder nicht?«

Die Frage war so dermaßen idiotisch und nicht altersgemäß, dass Vater Dawit plötzlich aufhorchte, mich etwas verdutzt musterte (wahrscheinlich versuchte er mein Alter zu schätzen) und bedächtig, mit gesenkter Stimme stockend antwortete: »Weißt du, das musst du auf alle Fälle meiden, auf alle Fälle …«

Was? Die Außerirdischen oder die Gedanken an Außerirdische? Ich war verwirrt.

Ich kniete nieder, Vater Dawit legte die Hand auf meinen Kopf und las ein Gebet.

Ich fühlte, wie er in der Luft über meinem Kopf ein Kreuz schlug.

Schule. Der Zerfall der Sowjetunion

Es ist 1989, ich renne durch den staubigen Schulflur, eine Lehrkraft jagt mich und schreit mir nach, ich solle das Pionierhalstuch umbinden.

Die Lehrkraft atmet schwer – Kinder zu jagen und gleichzeitig anzuschreien macht ihr zu schaffen.

Die Sowjetunion liegt in den letzten Zügen, unsere Schule gilt im Vergleich mit neuartigen und sowjetischen Schulen als relativ liberal, die Pionierhalstücher verbrennen wir schon seit zwei Jahren öffentlich im Schulhof, unsere junge Lehrkraft verfällt in eine solche Hysterie, dass ein Infarkt nahe scheint.

Er brüllt über alle Flure, Klassenräume und alle fünf Etagen: »Bindet die Halstücher um, oder es rollen Köpfe!« Wir aber – die Anführer der örtlichen Nationalbewegung und der »Nationalen Freiheitspartei« – rennen verängstigt herum und sind verwundert, dass uns unsere Lehrkraft, wo niemand die sowjetischen Gesetze befolgt, hartnäckig bittet, das rote Halstuch zu tragen!

Dieser Mann ist ein Despot, ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie er einen Klassenkameraden um den Trinkbrunnen jagte. Von seinem Gebrüll gefriert uns das Blut, er ist der letzte Mensch, der bis zum Sanktnimmerleinstag schreien wird: »Ohne Halstuch ist nicht erlaubt

Wie peinlich wäre es, wenn er einen von uns Parteiführern erwischen und wie jenes arme Kind vor dem Schulgebäude herumjagen würde! Ich bin der Vizepräsident, vor mir rennt mein Präsident – Klassenkamerad und Dichter –, mein Namensvetter. Wenn dieser Mann uns einholt und einem von uns einen Fußtritt verpasst, müssen wir die Partei auflösen.

Was juckt uns das verwirrte, brüllende Sowjet-Überbleibsel, was ist nicht erlaubt? Was ist nicht erlaubt, Herr Dimitri, Sie pseudomodernisierte, pseudomoderne Lehrkraft? Haben Sie Angst, Ihren Posten zu verlieren? Wozu Halstücher, wenn schon alles erlaubt ist?! Die Sowjetunion zerfällt, die Zeitungen drucken unzensierte Skandalnachrichten. Verbotene historische Fakten nehmen wir so auf, als ginge es um unsere Gegenwart: Lenin hat Syphilis gehabt, Stalin hat Hitler geheime Informationen verraten, Gorbatschows Frau Raissa heißt in Wirklichkeit Rebekka, Breschnew lässt sich von der Wunderheilerin Dschuna kurieren, seine bulgarische Wahrsagerin Wanga hat ihm vor zehn Jahren den Zerfall des Imperiums vorausgesagt, die Bolschewiken haben mehr als zwanzig Millionen Menschen erschossen, während der Verlesung des Vertrages zum Anschluss Georgiens an Russland sind die georgischen Adligen in der Sioni-Kathedrale eingeschlossen worden, der ehemalige Generalsekretär Andropow ist in Wirklichkeit der amerikanische Musiker Glenn Miller gewesen …

Auf drei Fernsehsendern (von denen nur ein einziger einheimisch ist – der Erste Kanal Sowjetgeorgiens) laufen neue Sendungen, wir sehen zum ersten Mal Filme aus dem Horror- und dem seichten Erotikgenre im Fernsehen: Im ersten Fall zersägt eine Frau einen maskierten Mann, im zweiten Fall kniet eine Frau vor einem Mann, öffnet seine Hose und … Und ich bin nicht nur vom unerwarteten Inhalt der Sendungen, sondern auch vom Wandel der Zeiten schockiert und höre nebenbei meinen gebannten Vater sagen: »Au Mann, die sind ja völlig verrückt geworden.«

Meine Großmutter steht mit der Antenne in der Hand beim alten Fernseher und versucht, das flimmernde Bild in den Griff zu kriegen, sie kann die Antenne kaum still halten und schaut auf einem Bein stehend zum Fernseher, aber das Bild ist trotzdem gestört, und sie drischt erbarmungslos und schimpfend auf den Fernseher ein. Es ist ein Paradoxon: Der Schlag bringt den Fernseher zur Besinnung, das Bild wird deutlich.

 

Der Zerfall der Sowjetunion wird durchs Fernsehen beschleunigt: Alle reden. Alle reden über alles. Alles ist erlaubt, liebe Lehrkraft, du Speichellecker und überflüssiges Überbleibsel, wozu Pionierhalstücher? Die Leute setzen Naturgesetze außer Kraft. Wir, Parteiangehörige und Parteilose, sitzen vor dem Fernsehbildschirm und schauen uns an, wie der Wunderheiler Longo eine Leiche zum Leben zu erwecken versucht: Es ist die Nachtausgabe der Nachrichten, alles spielt sich in einem Leichenschauhaus in Moskau ab, der Tote liegt auf einer Bahre, am Kopfende steht der Wunderheiler Longo und streckt die Hände nach ihm aus, an der Wand stehen die eingeschüchterten Pathologen. Longo wedelt mit den Händen, schnauft laut (seinem Schnaufen lauschen mit angehaltenem Atem zweihundertfünfzig Millionen Sowjetbürger), geht immer näher an den Verstorbenen heran … Und plötzlich – es ist unglaublich! – (»Er ist auferstanden«, sagt mein Vater, eher wütend als erstaunt, »die machen die Leute verrückt«) –, hebt auch die Leiche die Hände, richtet sich auf … Den Pathologen rutscht das Herz in die Hose. Gibt es etwa die Auferstehung von den Toten? In der Sowjetunion, während der letzten Regierungsjahre Michail Gorbatschows werden die Toten wieder zum Leben erweckt. Longo erhält Briefe: »Lassen Sie Nikolaus II. wiederauferstehen«, »Erwecken Sie Stalin wieder zum Leben, er wird die Ordnung wiederherstellen …«

An die Psyche der Kinder denkt keiner; als die Sowjetunion ihrem Ende zugeht, schreibt uns niemand vor, wir sollen nicht mehr fernsehen, pünktlich schlafen gehen, zeitig aufstehen, denn jetzt ist es unmöglich, nicht fernzusehen. Vor nicht allzu langer Zeit gab es Filme aus dem Westen nur einmal pro Woche zu sehen, samstags, in der Sendung »Illusion«, und die schönsten und neuesten nur am Vorweihnachtsabend oder zu Ostern, damit die Leute nicht in die Kirche strömten, wie es schon populär geworden war. Man war in der Zwickmühle: Geh ich zum Gottesdienst, oder schau ich »Illusion«? Geh ich in die Kirche, oder entscheide ich mich für den (zensierten) »Paten«? Damals entschieden sich viele gegen die »Illusion«, fühlten sich nicht mehr verpflichtet, zum achtzehnten Mal »My Fair Lady« anzuschauen, und gingen, zum Leidwesen des Kremls, zu Ehren des Gottes der orthodoxen Georgier in eine funktionstüchtige Kathedrale und schlossen sich auf diese Art der Nationalbewegung an. Die wichtigste und verlockendste Sendung war »Video-Video«, in der die Leute erstmals den »Killer-Cyborg« und die Abenteuer des Muskelprotzes Rambo zu sehen bekamen. Das war das letzte Lockmittel der sterbenden kommunistischen Regierung, das ZK versuchte die Leute mithilfe des Fernsehgottes von den Kirchen wegzulocken, aber zu spät: Uns hielt schon nichts mehr zu Hause, weder ein »Rambo« noch ein teuflisch erscheinender »Jesus von Nazareth« konnte die Demonstrationen verhindern.

Welches Elternteil hätte es gewagt, uns zum Schlafengehen zu ermahnen? Was wäre gewesen, wenn man uns nicht die Freiheit gegeben hätte, so viele neue Dinge zu sehen?

In der Schule verfolgt uns die Lehrkraft, auferstanden wie jene Leiche, und versucht vergeblich, uns zum Umbinden des Halstuchs zu zwingen, nur weiß er selbst nicht, welche Gesetze er durchsetzen will. Wer zu Hause ist, sitzt immer noch vorm Fernseher und lauscht den Befehlen eines auf dem Bildschirm leuchtenden, gewaltigen rundköpfigen Mannes und einzigartigen Wunderheilers: »Ich zähle bis zehn, und euch wird Müdigkeit überkommen.«

Auf dieses Gesicht warten freudig erregt die Kranken (in der Sowjetunion ist jeder krank); die Sendung dieses Mannes läuft zur sowjetischen Primetime – nach der Hauptnachrichtensendung »Wremja«. Die Sendezeit ist einzig seinem Wassermelonenkopf und seinen wie vor Ekel verzogenen Lippen gewidmet. In den tristen Wohnungen beginnt eine tolle Zeremonie: Fünfzig Frauen und Männer fortgeschrittenen Alters, die einen magischen Wunderheiler sehen möchten, nehmen freudig ihre Plätze ein. Diesen Minuten haben sie den ganzen Tag über entgegengefiebert, und nun setzen sie ihre schmerzenden Organe dem neuen Tele-Heiler aus: Magen-Darm, Herz-Kreislauf, Gelenke …

Im Gegensatz zu Longo besteht die Mission des Melonenkopfes nicht in der Auferweckung der Toten zum Leben, sondern in der Heilung lebender Toter. Sieh an, der taucht auch auf – mit an der Stirn zerzaustem kastanienbraunen Haar (»Färbt er das?«, fragt jemand) und mit von fettiger Salbe gelblich glänzenden Wangen. Der Wunderheiler gibt uns auf Russisch zu verstehen, dass er bis zehn zähle und alle in einen heilenden Schlaf fallen würden, und dieser Schlaf sei rein und habe heilende Eigenschaften.

Er zählt langsam, in einem gebieterischen, ruhigen Bariton: »Die Augen werden kleiner … vier, fünf …« Einige sind schon eingenickt. Ruhiges Schnaufen. »Neun, zehn …« Totale Hypnose: in den Nacken gesunkene Köpfe, offene Münder, ein paar Tropfen Speichel, albtraumfreies Schnarchen. Den ganzen Tag über warten sie freudig schwatzend und denken darüber nach, wo sie den charismatischen Bis-Zehn-Zähler hören sollen (ein Ritual ist ebenfalls, zu überlegen, bei welchem Nachbarn während der Wunderheiler-Sendung geschlafen wird), er ist noch nicht mal bis zehn gekommen, und schon schlummern alle. Das millionenfache Zuschauerglück währt nur wenige Sekunden.

Wie prämortalen Auswurf spuckt die Sowjetunion Zauberer aus, Leute, die Außerirdische gesehen haben, und ebenso Leute, die mit den Seelen der Toten sprechen können. Jemand tritt im Fernsehen auf und erzählt entweder, er habe einen Außerirdischen beim Schildkrötensee gesehen oder eine herumspazierende Seele auf dem Plechanow-Prospekt. Auf einer Demonstration heißt es: »Freunde, der KGB hat seine Wunderheiler und vom Teufel Besessenen ausgesandt, um uns einzuschüchtern. Aber wir haben keine Angst, ihre Hypnose wirkt auf uns nicht mehr!«

Wie sollen die Wunderheiler denn wirken? Sollen sie die Bürger von den Demonstrationen nach Hause zerren? Sollen die Zaubermitarbeiter des Geheimdienstes den Zerfallsprozess der Sowjetunion aufhalten?

Das sind ernste Angelegenheiten, darüber witzelt keiner. Nicht umsonst waren mir bei Vater Dawit die Außerirdischen eingefallen: Vor Außerirdischen habe ich Angst. In der Schule bin ich zwar Vizepräsident der »Nationalen Freiheitspartei«, aber, so oder so, nächstes Jahr werde ich zwölf, und deshalb beunruhigt mich vieles, unter anderem auch dieser Mann, der pathologisch brüllende Herr Dimitri, der uns jetzt schlagen möchte und einer wandelnden Leiche gleicht. Jener Leiche, die vor einigen Tagen bei »Wremja« auferstanden war.

Die Lehrerschaft, Intelligenzlerschaft, Professoren- und Lehrerschaft, Wissenschaftler- und Künstlerschaft und alle anderen Körperschaften in der Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik ermahnen die Bürger, sie sollen zu Hause bleiben und nicht durch die Straßen streifen. Das Zentralkomitee warnt uns, die sowjetische Miliz warnt uns, die Sicherheitsorgane warnen uns: Es wird eine Tragödie passieren!

Wir gehen in eine deutsche Schule, unsere Schule ist nicht wie andere Schulen – hier wird »Deutsch – intensiv« gelehrt (obwohl der Lerneffekt eigenartig ausfällt: Wir können keinen einzigen zusammenhängenden deutschen Satz sprechen). Wir haben junge (unsowjetische) Lehrer, keine Lenin-Porträts an den Wänden, nur welche von Goethe, Schiller und Wolfgang Borchert (dem Lieblingsdichter unseres Direktors). Wir haben kein Parteikomitee, keine »Rote Ecke« der Komsomolzen (eine Art Sowjet-Kapelle, die es fast in jeder Schule außer in unserer gibt), an den Wänden der Klassenzimmer hängen quietschbunte Plakate und Kalender aus der DDR, keine sowjetischen Losungen wie »Ehre der Arbeit« und »Ehre der Kommunistischen Partei«. Stattdessen an allen Wänden die bunte Aufschrift: Deutsch – intensiv. Das Einzige, was unsere Schule mit den sowjetischen gemeinsam hat, ist ein grimmiger Wachmann und die mit einem Schlüssel abgeschlossenen Toiletten. Es war eine ziemlich große Summe dafür ausgegeben worden, dass stabile (DDR-)Klobecken angeschafft werden konnten, deshalb darf niemand ins Bad, damit die Klo- und Waschbecken ihr unbeflecktes Aussehen behalten. Das Betreten der Toilette durch Schüler kommt deren Verschmutzung gleich: Sie werden sich auf das Klobecken stellen, wer heranreicht, wird ins Waschbecken pinkeln, die Wände werden mit anzüglichen Schmierereien verziert werden (zum Beispiel mit der georgischen Drei-Buchstaben-Bezeichnung für Penis), deshalb liegen die Toilettenschlüssel vermutlich bei der Lehrkraft oder dem Verwaltungsleiter in der Schublade, und außer ihnen wird keiner je erfahren, wer wo pinkelt. Unangenehm wird es nur dann, wenn Nullt- und Erstklässler pinkeln müssen. Die Kinder zappeln, zerren an der Hand der Lehrerin und schreien: »Frau Lehrerin, Frau Lehrerin, ich muss mal klein« (keiner sagt, wenn er groß muss, groß zu müssen ist peinlich). Aber die Lehrerin stellt sich taub, tut so, als höre sie nichts, denn sie hat keine Ahnung, wo ein Erstklässler klein machen soll (den Nulltklässler lässt eine tüchtige Erzieherin letztendlich zum Fenster hinauspinkeln), deshalb versuchen die Schüler es sich entweder zu verkneifen oder sind gezwungen, sich in den Pausen ein sicheres, verschwiegenes Plätzchen zu suchen.