Unbestreitbare Wahrheit

Text
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Wir lagen mit den Puma Boys im Clinch. Ich lebte in Brownsville, Brooklyn, und diese Jungs stammten aus meiner Nachbarschaft. Damals hatte ich mich jedoch einer Gang der Rutland Road angeschlossen, den Cats aus dem nahe gelegenen Crown Heights, einer Bande von Typen aus der Karibik. Wir waren eine Bande von Einbrechern. Einige unserer Gangsterfreunde hatten einen heftigen Streit mit den Puma Boys, also begaben wir uns zum Park, um sie zu unterstützen. Gewöhnlich hatten wir mit Waffen nichts im Sinn, aber es ging um unsere Freunde, also stahlen wir ein paar, einen .357 Magnum Revolver und ein langes Gewehr mit Bajonett aus dem Ersten Weltkrieg. Wenn man einen Bruch machte, wusste man nie, was man vorfand.

Wir marschierten also ungeniert mit unseren Gewehren durch die Straßen, doch niemand hielt uns auf, kein einziger Bulle war unterwegs. Wir hatten nicht einmal einen Beutel, um das große Gewehr zu verstauen, also wechselten wir uns alle paar Blocks einfach mit dem Tragen ab.

„Da drüben rennt er ja“, rief mein Freund Haitian Ron. „Der Kerl mit den roten Pumas und dem roten Halseinsatz.“ Ron hatte den Typen, hinter dem wir her waren, erspäht. Als wir losrannten, teilte sich die riesige Menschenmenge im Park wie das Rote Meer vor Moses. Das war sehr vernünftig, weil einer meiner Freunde das Feuer eröffnete. Als die Schüsse fielen, kam es zu einem Gedränge.

Als wir weitergingen, sah ich, dass einer der Puma Boys zwischen den auf der Straße geparkten Autos in Deckung gegangen war. Ich hatte das M1-Gewehr, schnellte herum und sah, wie der lange Kerl die Pistole direkt auf mich gerichtet hielt.

„Was zum Teufel machst du da?“, raunzte er mich an. Es war mein älterer Bruder Rodney. „Verpiss dich!“

Ich lief dann einfach aus dem Park und nach Hause. Ich war damals zehn Jahre alt.


Ich sage oft, ich sei das schwarze Schaf der Familie gewesen, aber wenn ich darüber nachdenke, war ich den größten Teil meiner Kindheit über sehr sanftmütig. Ich kam am 30. Juni 1966 im Cumberland Hospital im Fort Greene-Bezirk von Brooklyn, New York, zur Welt. Meine frühesten Erinnerungen drehen sich um Aufenthalte in der Klinik – ich hatte ständig Lungenprobleme. Einmal tauchte ich den Daumen in irgendeinen Rohrreiniger und steckte ihn dann in den Mund. Man brachte mich im Eiltempo in die Klinik. Weiter erinnere ich mich noch, wie mir meine Patentante ein Spielzeuggewehr schenkte, das ich aber sofort demolierte.

Über meine Familie weiß ich nicht sehr viel. Meine Mutter Lorna Mae war New Yorkerin, wurde aber in Virginia geboren. Mein Bruder ist mal dorthin gefahren, um sich die Gegend anzugucken, in der meine Mutter aufgewachsen ist, aber da gab es nichts außer Wohnwagensiedlungen. Ich bin also ein echter Trailer-Park-Nigga. Meine Großmutter Bertha und meine Großtante arbeiteten in den Dreißigern für eine Weiße, zu einer Zeit, in der die meisten Weißen keine Schwarzen mehr für sich arbeiten ließen. Bertha und ihre Schwester waren so dankbar, dass sie beide ihre Töchter Lorna tauften – nach der weißen Lady. Mit dem Geld, das Bertha bei ihr verdiente, schickte sie ihre Kinder aufs College.

Das K.o.-Gen habe ich vermutlich von meiner Großmutter geerbt. Die Cousine meiner Mutter erzählte mir mal, dass der Mann in der Familie, für die sie arbeitete, seine Frau schlug, was Berta gar nicht gefallen habe. Und sie war eine kräftige Frau.

„Lassen Sie sie in Ruhe“, warnte sie ihn.

Er fasste es als Scherz auf, doch sie versetzte ihm einen Kinnhaken und beförderte ihn zu Boden. Als er Bertha am nächsten Tag sah, fragte er: „Wie geht es Ihnen, Miss Price?“ Und ab da vergriff er sich nie wieder an seiner Frau und wurde ein anderer Mensch.

Meine Mom war allgemein beliebt. Als ich geboren wurde, arbeitete sie als Gefängnisaufseherin im Women’s House of Detention in Manhattan, bereitete sich aber nebenher auf den Lehrerberuf vor. Sie war drei Jahre lang aufs College gegangen, bevor sie meinen Vater kennenlernte. Als er krank wurde, musste sie aber abgehen, um ihn pflegen zu können. Trotz ihrer guten Ausbildung besaß sie jedoch keinen guten Geschmack, was Männer betraf.

Über die Familie meines Vaters weiß ich sehr wenig. Im Grunde kannte ich ihn eigentlich gar nicht, das heißt den Mann, den man als meinen Vater ausgab. Auf meiner Geburtsurkunde stand, mein Vater sei Percel Tyson. Nur haben mein Bruder, meine Schwester und ich diesen Kerl nie gesehen. Uns allen wurde erklärt, unser biologischer Vater sei Jimmy „Curlee“ Kirkpatrick Jr. Doch er trat kaum in Erscheinung. Später hörte ich Gerüchte, Curlee sei ein Zuhälter und erpresse Frauen. Doch dann bezeichnete er sich plötzlich als Diakon der Kirche. Deswegen sage ich jedes Mal, wenn ich höre, dass sich jemand als Reverend bezeichnet, „Reverend Zuhälter“. Wenn man genau darüber nachdenkt, stellt man fest, dass diese religiösen Typen das Charisma eines Zuhälters haben. Sie könnten jeden in die Kirche locken und dazu bringen zu tun, was immer sie von ihm verlangen. Für mich sind sie also immer „Bischof Zuhälter“ oder „Reverend Ike, Zuhälter“.

Curlee besuchte uns immer dort, wo wir gerade wohnten. Er und meine Mutter sprachen nie miteinander, er drückte lediglich auf die Hupe, und wir gingen hinunter zu seinem Auto, stiegen in seinen Cadillac und dachten, wir machen einen Ausflug nach Coney Island oder zum Brighton Beach, doch er fuhr einfach ein paar Minuten mit uns durch die Gegend und brachte uns dann nach Hause zurück, steckte uns etwas Geld zu, verpasste meiner Schwester einen Kuss und schüttelte meinem Bruder und mir die Hand – und das war’s. Vielleicht würde ich ihn ein anderes Mal wiedersehen.

Meine erste Wohngegend war Bedford-Stuyvesant in Brooklyn, damals ein anständiges Wohnviertel der Arbeiterklasse. Jeder kannte jeden. Es lief alles recht normal. Aber Ruhe gab es keine. Jeden Freitag und Samstag herrschte im Haus ein Tumult wie in Las Vegas. Meine Mom lud all ihre Freundinnen, von denen viele im horizontalen Gewerbe arbeiteten, zum Kartenspielen ein. Sie schickte dann ihren Freund Eddie los, Schnaps zu besorgen, und sie kippten den Alkohol nur so hinunter. Den Gewinn jedes vierten Spiels musste die Gewinnerin in den Topf werfen, und der gehörte Mom. Dann bereitete meine Mutter Hähnchenflügel zu. Mein Bruder erinnert sich, dass in unserem Haus außer den Nutten auch Gangster, Detektive, ja, die unterschiedlichsten Menschen verkehrten.

Wenn meine Mutter Geld hatte, verprasste sie es. Sie liebte Gesellschaft und lud immer ein paar Freundinnen und auch diverse Männer zu sich ein. Und alle ließen sich volllaufen bis zum Abwinken. Sie selbst rauchte kein Marihuana, aber alle ihre Freunde, die sie mit dem Stoff versorgte, taten es. Sie selbst rauchte lediglich Zigaretten. Die Freundinnen meiner Mutter waren Prostituierte oder zumindest Frauen, die für Geld mit Männern schliefen. Sie lieferten ihre Kids bei uns ab, wenn sie sich mit Männern trafen. Wenn sie ihre Kinder dann bei uns abholten, kam es vor, dass sie Blut auf der Kleidung hatten. Meine Mom half ihnen, sich zu säubern. Als ich eines Tages nach Hause kam, fand ich ein weißes Baby vor. „Was soll denn dieser Scheiß?“, dachte ich. Aber so war mein Leben.

Mein Bruder Rodney war fünf Jahre älter als ich, sodass wir wenig gemeinsam hatten. Er ist ein seltsamer Kerl! Wir sind Schwarze aus dem Ghetto, und er war wie ein Wissenschaftler, hatte jede Menge Teströhrchen und experimentierte ständig herum. Er besaß sogar eine Münzsammlung, nach dem Motto: „Wenn es die Weißen haben, steht es mir auch zu.“

Einmal ging er ins Chemielabor im Pratt Institute, einem College der Umgebung, und holte sich ein paar Chemikalien zum Experimentieren. Als er ein paar Tage später außer Haus war, schlich ich in sein Zimmer und füllte seine Teströhrchen mit Wasser. Das gesamte Fenster zum Hinterhof flog in die Luft. Daraufhin musste er ein Schloss an seiner Tür anbringen lassen.

Ich hatte viel Streit mit ihm, aber es war die typische Geschichte zwischen einem älteren und einem jüngeren Bruder. Doch eines Tages verwundete ich ihn mit einem Rasiermesser. Er hatte mich wegen irgendwas verprügelt und war dann schlafen gegangen. Zusammen mit meiner Schwester Denise sah ich mir im Fernsehen immer eine dieser Arztserien an. Gerade wurde eine Operation gezeigt. „Das könnten wir nachmachen, und Rodney könnte der Patient sein. Ich bin der Arzt und du die Krankenschwester“, erklärte ich meiner Schwester. Also rollten wir seinen linken Ärmel hoch und los ging’s. „Skalpell“, befahl ich, und meine Schwester reichte mir ein Rasiermesser. Ich machte einen kleinen Schnitt, und er fing an zu bluten. „Schwester, wir brauchen Alkohol“, sagte ich. Sie reichte ihn mir, und ich träufelte ihn auf seine Wunde. Er wachte brüllend auf und jagte uns durchs Haus. Ich versteckte mich hinter meiner Mutter. Noch heute hat er Narben von meinen Schnitten.

Aber wir verlebten auch gute Zeiten miteinander. Einmal ging ich mit meinem Bruder die Atlantic Avenue hinunter, und er sagte: „Komm, lass uns zur Donuts-Fabrik gehen.“ Ein paar Tage zuvor hatte er dort ein paar Donuts gestohlen, und ich glaube, er wollte mir zeigen, dass er es erneut tun konnte. Also schlenderten wir dorthin; das Tor stand offen. Er ging hinein und schnappte sich ein paar Donuts-Schachteln, aber plötzlich schloss sich das Tor. Er konnte nicht mehr raus, und die Wachmänner setzten sich in Bewegung. Also gab er mir die Donuts, und ich rannte damit heim. Meine Schwester und ich setzten uns auf die Veranda und stopften die Donuts in uns hinein; unsere Gesichter waren weiß vom Puderzucker. Unsere Mom stand daneben und unterhielt sich mit der Nachbarin.

 

„Mein Sohn Rodney hat den Test für die Brooklyn Tech mit Bravour bestanden“, prahlte sie. „Er ist der beste Schüler seiner Klasse, wirklich ein Überflieger.“

Just in diesem Moment fuhr ein Polizeiauto vor, mit Rodney auf dem Rücksitz. Die Polizei wollte ihn rauslassen, aber er hörte, wie unsere Mutter von ihrem guten Sohn schwärmte und bat die Polizisten, weiterzufahren. Man brachte ihn direkt nach Spofford, in ein Jugendgefängnis. Meine Schwester und ich verputzten fröhlich sämtliche Donuts.

Den Großteil meiner Zeit verbrachte ich mit meiner Schwester Denise. Sie war zwei Jahre älter als ich und in der Nachbarschaft sehr beliebt. War sie dein Freund, dann war sie dein bester Freund. Aber war sie dein Feind, dann war es besser, sich aus dem Staub zu machen. Wir machten Lehmkuchen, schauten uns im Fernsehen Wrestling und Karatefilme an und begleiteten unsere Mutter zum Einkaufen. Es war ein behagliches Leben, aber dann wurde plötzlich von heute auf morgen alles anders. Ich war gerade sieben Jahre alt.

Die Wirtschaft brach ein, meine Mom verlor ihren Job, und wir wurden aus unserer hübschen Wohnung in Bed-Stuy geworfen. Ein paar Männer kreuzten auf und stellten einfach unsere Möbel und den sonstigen Kram auf den Gehsteig. Wir drei Kinder mussten uns auf die Möbel setzen und darauf achten, dass niemand sie wegnahm, während meine Mutter sich auf die Suche nach einer Bleibe für uns begab. Als ich so dasaß, kamen ein paar Nachbarkinder und fragten: „Mike, weshalb stehen eure Möbel hier draußen?“ Wir erklärten ihnen einfach, dass wir umzögen. Daraufhin brachten uns ein paar freundliche Nachbarn etwas zu essen.

Schließlich landeten wir in Brownsville. Was für ein Unterschied zu unserer vorherigen Wohngegend! Hier waren die Menschen viel lauter, viel aggressiver. Es war eine grauenhafte, brutale Umgebung. Meine Mutter war diese Art von aggressiven Schwarzen nicht gewohnt und daher eingeschüchtert, ebenso mein Bruder und meine Schwester. Hier war alles feindselig, es gab überhaupt keine ruhigen Momente. Ständig fuhren Polizeiautos mit ihren Sirenen vorbei, pausenlos waren Krankenwagen unterwegs, um jemanden abzuholen, und immer wieder hörte man Schüsse, oder jemand wurde erstochen oder Fenster zersplitterten. Eines Tages wurden mein Bruder und ich sogar direkt vor unserem Haus ausgeraubt. Wir beobachteten diese Jungs, die einfach wild herumschossen. Es war wie in einem alten Film mit Edward G. Robinson. Wir wollten uns das Ganze ansehen und sagten: „Wow, das ist also das wahre Leben.“

Die gesamte Umgebung war auch eine Brutstätte sexueller Ausschweifung. Alle waren völlig schamlos. Sogar auf der Straße hörte man: „Blas mir einen“ oder „Leck meine Muschi“. Hier herrschte eine völlig andere Lebensweise als in meinem alten Viertel. Eines Tages zerrte mich ein Junge von der Straße, schob mich in ein verlassenes Gebäude und versuchte, sich an mir zu schaffen zu machen. Auf den Straßen fühlte ich mich nie richtig sicher. Ja, wir waren nicht einmal mehr in unserer Wohnung sicher. In Brownsville gab es keine Partys mehr. Meine Mutter schloss wohl ein paar Freundschaften, aber es war nicht mehr so wie in Bed Stuy. Sie fing an zu trinken, trank immer mehr und bekam auch keinen neuen Job mehr. Also stand ich stundenlang mit ihr im Sozialamt an. Es waren endlose Warteschlangen. Als wir nach Stunden endlich vor dem Schalter standen, war es fünf Uhr, und wir lasen: „Geschlossen“. Es war wie in einem Film.

Auch in Brownsville wurden wir rausgeschmissen, und nicht nur einmal. Ab und zu hatten wir eine anständige Wohnung in einer ordentlichen Wohngegend, wenn uns Freunde meiner Mutter oder einer ihrer Liebhaber aufnahmen. Doch im Allgemeinen wurden die Verhältnisse bei jedem Umzug schlechter. Erst waren wir arm, dann sehr arm und schließlich bettelarm. Am Ende lebten wir in Abbruchhäusern, ohne Heizung, Wasser oder Strom. Im Winter schliefen wir alle im selben Bett, um uns gegenseitig zu wärmen. Dort blieben wir, bis irgendein Kerl uns rauswarf. Meine Mutter ging dann los, um eine andere Bleibe für uns zu suchen, was oft bedeutete, dass sie mit jemandem schlief, aus dem sie sich nicht viel machte. So liefen die Dinge damals.

Sie wollte uns das Obdachlosenheim ersparen, also bezogen wir das nächste abbruchreife Haus. Es war traumatisch, aber was konnten wir tun? Was ich von meiner Mutter gelernt habe, hasse ich an mir: Ich schreckte vor nichts zurück, um zu überleben.

Ich erinnere mich noch genau, wie Sozialarbeiter in unsere Wohnung kamen und nach Männern unter dem Bett suchten. Im Sommer bekamen wir kostenloses Frühstück und Essen. Ich erklärte, dass wir zehn Kinder seien, sodass man uns größere Portionen gab. Ich fühlte mich dabei, als wäre ich gerade in den Krieg gezogen und hätte eine Prämie erhalten. Man ist so stolz, dass man was zu essen im Haus hat. Können Sie sich diesen Schwachsinn vorstellen? Sie öffnen den Kühlschrank und sehen das verdammte Fleischwurst-Sandwich, die Orange und die kleine Milchpackung. 20 davon. Ich lud ein paar Leute ein und fragte: „Bruder, brauchst du was zu essen? Hast du Hunger? Wir haben Essen.“ Wir taten so, als hätten wir hart verdientes Geld dafür bezahlt. Dabei war alles umsonst.

Als ich klein war, war ich ein Mamakind, schlief immer bei meiner Mutter im Bett. Meine Schwester und mein Bruder hatten ihr eigenes Zimmer, aber ich schlief bei meiner Mutter, bis ich 15 war. Einmal schlief meine Mutter mit einem Mann, während ich danebenlag. Sie dachte wohl, dass ich schlafen würde. Ich bin mir sicher, dass dies nicht ohne Wirkung auf mich blieb, aber die Dinge waren eben so, wie sie waren. Als ihr Freund Eddie Kelvison auf der Bildfläche erschien, wurde ich auf die Couch verfrachtet. Die Liebesbeziehung zu ihm tat meiner Mutter nicht gut. Vermutlich waren deshalb meine eigenen Beziehungen so seltsam. Sie ließen sich volllaufen, stritten und vögelten miteinander, zerstritten sich, begannen wieder zu trinken, zu streiten und zu vögeln. Sie liebten sich wirklich, auch wenn es eine echt kranke Liebe war.

Eddie war ein kleiner, gedrungener Typ aus South Carolina, der als Vorarbeiter in einer Waschmaschinenfabrik arbeitete. Er war in der Schule nicht sehr weit gekommen, und als mein Bruder und meine Schwester in die 4. Klasse kamen, konnte er ihnen bei den Hausaufgaben nicht mehr helfen. Eddie war ein sehr dominanter Typ und meine Mutter eine sehr dominante Frau, sodass ständig die Hölle los war. Immer war irgendein Streit im Gange, und die Bullen tauchten auf und rieten: „He, Kumpel, geh doch einfach mal um den Block.“ Manchmal wurden wir alle in den Streit mit hineingezogen. Eines Tages hatten meine Mutter und Eddie einen heftigen Streit, der sogar in eine Schlägerei ausartete. Ich versuchte, Eddie zurückzuhalten, doch er versetzte mir einen Schlag in den Magen, und ich ging in die Knie und dachte: „Oh Gott, das kann doch nicht wahr sein!“ Ich war doch noch ein Kind. Das ist der Grund, weshalb ich später nie die Hand gegen meine eigenen Kids erhob. Ich wollte nicht, dass sie mich als Monster in Erinnerung behielten. Doch damals fand man nichts dabei, ein Kind zu schlagen, das kümmerte niemanden. Heutzutage gilt es hingegen als Verbrechen, und man wandert ins Gefängnis.

Eddie und meine Mutter stritten sich über alles – andere Männer oder Frauen, Geld, die Kontrolle. Eddie war kein Engel. Wenn meine Mutter Freundinnen bei sich hatte und alle betrunken waren und Mom umkippte, vögelte er ihre Freundinnen. Und dann ging der Streit erst richtig los. Es ging brutal zu, und die beiden gingen mit allen möglichen Gegenständen aufeinander los und fluchten: „Fick dich doch ins Knie, du Hurensohn“ und „Du schwarze Schlampe, besorg’s mir endlich …“ Und wir schrien: „Mommy, hör auf, nein!“ Als ich 17 war, lagen sie mal wieder im Streit, und Eddie schlug ihr ihren Goldzahn aus. Meine Mutter setzte einen großen Topf Wasser auf und befahl meinem Bruder und meiner Schwester, unter die Decke zu kriechen. Aber ich war so gebannt von dem Wrestling-Programm im Fernsehen, dass ich nicht hörte, was sie sagte. Meine Mutter war so raffiniert, dass sie an uns vorbeiging, ohne dass etwas passierte. Als sie dann wieder ins Zimmer kam, hatten meine Geschwister sich bereits unter der Decke verkrochen. Eddie saß direkt neben mir. Dann machte es wumm, und der Topf mit dem siedend heißen Wasser landete an Eddies Kopf. Etwas von dem Wasser spritzte zu mir rüber. Es fühlte sich an wie ein Riesengewicht.

„Ahhhhhhhh!“ Eddie rannte schreiend zur Tür hinaus, in die Diele, ich direkt hinter ihm her. Er drehte sich um und fasste nach mir: „Oh Gott, mein Junge, hat dich diese Hexe auch getroffen?“

„Verdammt, die alte Hexe hat mich getroffen, ah, sie hat mich getroffen!“ Wir brachten ihn ins Zimmer zurück und zogen ihm das Hemd aus. Sein Hals, sein Rücken und eine Gesichtshälfte waren übersät mit großen Blasen. Er sah aus wie ein Reptil. Wir legten ihn auf den Boden, vor die kleine Klimaanlage vor dem Fenster. Meine Schwester setzte sich neben ihn, nahm ein Streichholz, sterilisierte eine Nadel und öffnete die Blasen eine nach der anderen. Meine Schwester und ich weinten beide, und ich gab ihm etwas Alkohol, um seine Schmerzen zu lindern.

Aber in der Erinnerung sehe ich Mom meistens als Opfer. Schließlich hat Eddie sie ja auch verprügelt. Die Frauenbewegung würde ihre Reaktion bestimmt großartig finden, aber ich dachte: „Wie kann man einem Partner, mit dem man zusammenlebt, so etwas antun?“ Ich erkannte, dass meine Mom keineswegs eine Mutter Teresa war. Das war eine ernste Geschichte, und doch blieb er bei ihr. Nachdem sie ihm das angetan hatte, ging er sogar los, um ihr etwas Alkohol zu besorgen, er hat sie gewissermaßen dafür belohnt. Das ist wohl auch der Grund, warum ich sexuell so fehlgesteuert bin.

Das war also mein Umfeld, in dem ich aufwuchs. Menschen, die sich liebten, schlugen sich den Schädel ein und bluteten wie die Schweine. Sie liebten sich zwar, stachen aber aufeinander ein. Verdammte Scheiße, ich hatte in dem Haus eine Höllenangst vor meiner Familie, denn ich wuchs mit taffen Frauen auf, Frauen, die mit Männern kämpften. Also dachte ich, dass es kein Tabu ist, mit einer Frau zu kämpfen, da die Frauen, die ich kannte, keine Skrupel hatten, einen zu töten. Man musste gegen sie kämpfen, denn andernfalls würden sie einen aufschlitzen oder erschießen. Oder sie würden ein paar Männer anschleppen, die dich ebenfalls verprügelten, weil sie dich für wertlos hielten.

Ich hatte Angst im Haus, aber ich hatte auch Angst, aus dem Haus zu gehen. Ich ging jetzt in die öffentliche Schule, und das war ein Albtraum. Ich war ein dickliches Kind, sehr schüchtern, fast wie ein Mädchen, und beim Sprechen lispelte ich, sodass die Kids mich „Little Fairy Boy“ nannten, da ich immer mit meiner Schwester rumhing. Doch meine Mutter hatte mir geraten, mich an Denise zu halten, da sie älter war als ich und sie mich im Auge behalten sollte. Man nannte mich auch „Dirty Ike“ oder „Schmutziger Wichser“, da ich zum damaligen Zeitpunkt noch keine Beziehung zur Hygiene hatte. Wir hatten kein fließend warmes Wasser zum Duschen. Und wenn das Gas abgestellt war, konnten wir auch kein Wasser warm machen. Meine Mutter versuchte, mich für Hygiene empfänglich zu machen, aber es war vergebliche Liebesmüh. Sie pflegte einen Eimer mit heißem Wasser zu füllen, nahm ein Stück Seife und wusch mich. Aber als kleiner Junge machst du dir den Teufel aus Hygiene. Schließlich lernte ich sie auf der Straße, von den anderen Kids. Sie erzählten mir von Brut und Paco Rabanne und Pierre Cardin.

Meine Schule war nur ein paar Schritte von unserer Wohnung entfernt. Manchmal konnte meine Mutter mich nicht zur Schule begleiten, da sie am Abend zuvor zu viel getrunken hatte. Wenn ich allein war, traktierten mich die Kids mit Schlägen und Fußtritten. Damit wollten sie mir wohl zu verstehen geben: „Verpiss dich, du widerlicher Wichser!“ Ich wurde permanent beschimpft. Man schlug mir ins Gesicht, und ich rannte davon. In der Schule wurden wir von Kids schikaniert, zu Hause von anderen mit Waffen bedroht und ausgeraubt, bis auf den letzten Cent. Es war brutal, dass diese Kids nicht einmal vor unserem eigenen Apartment Halt machten.

Ein Wendepunkt in meinem Leben war das Tragen einer Brille. Meine Mutter brachte mich zum Augenarzt, und es stellte sich heraus, dass ich kurzsichtig war, also ließ sie mir eine Brille anfertigen. Das war richtig übel. Eines Tages kam ich zur Mittagszeit aus der Schule. Ich holte mir in der Cafeteria ein paar Fleischbällchen, die zum Warmhalten in Alufolie verpackt waren. Da sprach mich ein Kerl an: „He, hast du ein paar Cents für mich?“ Ich erwiderte: „Nein.“ Er fing an, meine Taschen zu durchsuchen, fand aber nichts. Also versuchte er, mir die verdammten Fleischbällchen wegzunehmen. Ich wehrte mich und schrie: „Nein, nein, nein.“ Ich ließ zwar zu, dass die Dreckskerle mein Geld raubten, aber nicht mein Essen. Ich verteidigte meine Fleischbällchen, als wäre ich ein menschliches Schutzschild. Er schlug mir gegen den Kopf, dann riss er mir die Brille herunter und warf sie in den Tank eines Lastwagens. Ich rannte wie der Blitz nach Hause und war froh, dass er wenigstens meine Fleischbällchen nicht bekommen hatte. Ich hätte diese Kerle fertigmachen sollen, aber ich war so ängstlich, weil sie so dreist und frech waren, dass ich glaubte, sie wüssten etwas, das ich nicht wusste. „Schlag mich nicht, lass mich los, hör auf.“ Ich fühle mich auch heute noch als Feigling. Es ist ein unglaubliches Gefühl, sich so hilflos zu fühlen. Das vergisst man sein Leben lang nie. An dem Tag, als mir der Kerl die Brille wegnahm und in den Tank warf, ging ich zum letzten Mal zur Schule. Anschließend ging ich nur noch zur Schule, um zu frühstücken, und verließ sie dann wieder. Ich spazierte ein paar Stunden um den Block herum. Zum Lunch tauchte ich wieder in der Schule auf und haute dann wieder ab. Nach Schulende ging ich nach Hause. Im Frühling 1974 kamen auf der Straße drei Kerle auf mich zu und fingen dann an, an meinen Taschen herumzufummeln. „Haste etwas Geld?“ Ich erklärte ihnen, dass ich kein Geld habe. Sie erwiderten: „Wenn wir aber welches finden, behalten wir es.“ Also untersuchten sie systematisch meine Taschen, fanden aber nichts. Dann sagten sie: „Wohin gehst du? Willst du bei uns mitmachen?“

 

„Wobei?“

Wir gingen zur Schule, und sie ließen mich den Zaun hochklettern. Ich sollte ihnen ein paar Milchkästen aus Plastik zuwerfen. Dann gingen wir ein paar Blocks weiter, und sie zwangen mich, in ein leerstehendes Haus zu gehen.

„Hm, ich weiß nicht“, zögerte ich. Ich war ein mickriger kleiner Kerl, und sie waren zu dritt. Nun, wir gingen hinein, und dann sagten sie: „Kleiner, geh hoch aufs Dach.“ Ich wusste nicht, ob sie vorhatten, mich zu töten. Also kletterten wir aufs Dach hoch, und ich sah eine kleine Kiste mit Tauben.

Diese Kerle bauten einen Taubenstall. Ich wurde ihr kleiner Laufbursche. Schon bald fand ich heraus, dass die Tauben oft auf irgendwelchen anderen Dächern landeten, wenn sie sich in einem schlechten Zustand befanden. Ich musste dann gucken, auf welchem Dach sie gelandet waren, einen Weg auskundschaften, um in das Gebäude zu gelangen und die Vögel auf dem Dach aufzuscheuchen. Ich jagte den ganzen Tag den Tauben hinterher, fand das aber recht lustig. Ich war gern mit den Vögeln zusammen und kaufte ihnen sogar in einer Tierhandlung Futter. Diese Jungs waren jedenfalls taff und machten mich zu ihrem Laufburschen. Mein ganzes Leben lang war ich ein Außenseiter gewesen, aber auf dem Dach fühlte ich mich wie zu Hause.

Am nächsten Morgen kehrte ich zu dem Haus zurück. Sie standen auf dem Dach, sahen mich kommen und warfen Ziegelsteine nach mir. „Du Dreckskerl, was tust du hier? Versuchst du, unsere verdammten Vögel zu stehlen?“, rief einer der Jungs. Und ich hatte gedacht, das sei mein neues Zuhause.

„Nein, nein, nein“, versicherte ich ihnen. „Ich wollte nur wissen, ob ich etwas für euch besorgen oder euren Tauben hinterherjagen soll.“

„Meinst du das wirklich ernst?“, sagte er. „Komm rauf, Kleiner.“ Und sie schickten mich Zigaretten kaufen. Sie waren eine Bande skrupelloser Dreckskerle, aber es machte mir nichts aus, ihnen zu helfen, da die Tauben mich begeisterten. Es war wirklich toll zu beobachten, wie etwa 100 Tauben ihre Kreise am Himmel zogen und dann auf einem Dach landeten.

Tauben fliegen zu lassen, war damals in Brooklyn eine Lieblingsbeschäftigung. Jeder, vom Mafiaboss bis zu den kleinen Ghettokids, tat es. Es ist nicht zu beschreiben und geht einem einfach unter die Haut. Ich lernte, mit ihnen umzugehen, erfuhr immer mehr über sie, wurde ein echter Taubenmeister und war stolz, dass ich so gut darin war. Alle ließen ihre Tauben im selben Augenblick fliegen, und der Sinn des Spiels bestand darin, die Tauben einzufangen. Es war wie beim Pferderennen. Hat man erst mal Feuer gefangen, kommt man nicht mehr los davon. Wo auch immer ich künftig wohnte, jedes Mal baute ich mir einen Taubenstall.

Als wir eines Tages mal wieder auf dem Dach waren und uns um die Tauben kümmerten, kam ein älterer Junge zu uns herauf. Er hieß Barkim und war der Bruder eines der Jungen. Als er feststellte, dass sein Freund nicht da war, trug er uns auf, ihm auszurichten, dass er ihn am Abend in unserem Mietsblock beim Sportcenter zu einem Jam treffen solle. Jams waren wie Teenager-Tanzpartys, aber nicht so ein Scheiß wie die Zeichentrickserie Archie mit ihren lauen Teenager-Witzen. Das Sportcenter wurde dann sogar umbenannt in The Sagittarius. Alle Spieler und Gauner würden dorthin gehen, die Jungs, die Brüche machten, die Taschendiebe und Kreditkartenbetrüger. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen.

An jenem Abend ging also auch ich dorthin. Ich war sieben Jahre alt und hatte keine Ahnung von einer Kleiderordnung. Ich wusste nicht, dass man nach Hause gehen sollte, um zu duschen, die Kleider zu wechseln und den Club zu besuchen. So wie es alle Jungs taten, die mit Tauben zu tun hatten. Also ging ich direkt aus dem Taubenstall zum Sportplatz und trug immer noch meine schmutzige Kleidung voller Taubendreck. Ich dachte, die Jungs wären da und akzeptierten mich als einen der ihren, da ich für sie den verdammten Tauben hinterherjagte.

Als ich hineinging, sagten sie: „Was ist denn das für ein Gestank? Schaut euch den dreckigen, stinkenden Dreckskerl an.“ Alle fingen an zu lachen und mich zu verspotten. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, es war ein traumatisches Erlebnis, da alle auf mir herumhackten. Ich weinte und lachte gleichzeitig. Da alle lachten und ich dazugehören wollte, lachte ich also über mich selbst. Ich glaube, Barkim bemerkte, wie ich gekleidet war, und bekam Mitleid mit mir. Er ging auf mich zu und sagte: „He, Kleiner, mach dich vom Acker. Wir treffen uns morgen früh um acht Uhr auf dem Dach.“

Am nächsten Morgen war ich pünktlich dort. Barkim kletterte hoch und hielt mir einen Vortrag: „Du kannst nicht irgendwohin gehen und wie ein verdreckter Penner aussehen. Was zum Teufel soll das, Mann?“ Er redete sehr schnell, und ich versuchte, jedes Wort zu verstehen. „Junge, wir wollen damit Geld verdienen. Bist du bereit?“ Ich begleitete ihn, und wir brachen in Häuser ein. Er forderte mich auf, durch Fenster zu schlüpfen, die zu eng für ihn waren, und ich öffnete ihm dann von innen die Tür. Als wir im Haus waren, durchwühlte er die Schubladen, brach den Safe auf, räumte aus, was er finden konnte. Wir stahlen Stereoanlagen, Tonbänder, Schmuck, Waffen, Geld. Nach den Raubzügen ging er mit mir in die Stadt, in die Delancey Street, und kaufte mir etwas Hübsches zum Anziehen, Sneakers und einen Lammfellmantel. Am Abend nahm er mich mit zu einem Jam. Viele der Leute, die mich vor Kurzem noch ausgelacht hatten, waren ebenfalls anwesend. Ich trug meinen neuen Mantel und meine Hose aus Leder. Niemand erkannte mich, es war, als wäre ich ein anderer Mensch. Es war unglaublich.

Barkim stellte mich jetzt den Leuten auf der Straße als seinen „Sohn“ vor. Er war lediglich ein paar Jahre älter als ich, aber in der Sprache der Straße wurden die anderen dadurch aufgefordert, mich mit Respekt zu behandeln. Es bedeutete: „Auf der Straße ist das mein Sohn, wir sind eine Familie, wir rauben und stehlen. Er ist mein kleiner Geldmacher, legt euch nicht mit diesem Nigga an.“ Er brachte mir das Rauben und Stehlen bei, erklärte mir, welche Personen ich dafür aussuchen sollte und welchen ich nicht trauen konnte, weil sie mir sofort wieder alles abnehmen würden. Mein Leben erinnerte mich an das von Oliver Twist, der von einem älteren Jungen namens Fagin unterwiesen wurde. Barkim kaufte mir ’ne Menge Klamotten, aber er gab mir nie viel Geld. Wenn er bei einem Raub ein paar Tausender ergatterte, gab er mir 200. Aber für einen Achtjährigen sind 200 Dollar viel Kohle.