Krallenspur

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Doch alles blieb weiter dunkel und still. Vielleicht war es ja nur irgendein kleines Tier, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Ein Waschbär oder eine Katze. Es würde auf jeden Fall wieder alleine herausfinden, also konnte ich jetzt genauso gut auch verschwinden. Aber ich ging nicht. Stattdessen setzte ich vorsichtig meinen Fuß über die Türschwelle. Zu meiner Erleichterung knarrten wenigstens die Dielen nicht und da ich kein Licht machen konnte, streckte ich meine Hände aus und tastete mich langsam durch das dunkle Innere vorwärts. Falls jemand hier war, musste es ihm zumindest genauso ergehen wie mir, versuchte ich mir Mut zu machen.

Meine Zuversicht verschwand in dem Moment, als meine vorgestreckten Fingerspitzen gegen etwas Weiches stießen. Ich schrie auf und als mein Arm gepackt wurde, reagierte ich instinktiv. Ich holte mit dem anderen Arm zu einem Abwehrschlag aus. Bevor ich mein Ziel jedoch erreichen konnte, wurde auch meine andere Hand abgefangen.

»Hey, entspann dich«, erklang eine Stimme aus der Dunkelheit. »Ich lass dich jetzt los, aber hör auf auszuflippen, ja?«

Die Worte wirkten. Ich versteinerte auf der Stelle und mein Angreifer hielt Wort und gab mich frei.

»Cassian?« Diese sexy Stimme hätte ich überall erkannt.

»Du hast’s erfasst«, erklang es spöttisch vor mir aus der Finsternis.

»Was … was machst du hier?«

»Irgendwas stimmt mit der Stromleitung nicht. Ich habe versucht, sie zu reparieren. Nicht unbedingt mit Erfolg, wie du siehst.«

Ich sah überhaupt nichts und das störte mich. Aber noch mehr nervte es mich, dass er meiner Frage auswich.

»Was zum Teufel hast du in diesem Haus verloren?«

»Das habe ich dir doch gerade erklärt.« Seine Stimme hatte den üblichen lässigen Tonfall. »Ich habe versucht …«

»… Licht zu machen«, vollendete ich seinen Satz. »Ich seh zwar gerade nichts, aber ich bin nicht taub.«

»Na dann ist doch alles super.«

»Gar nix is’ super«, zischte ich. »Besonders wenn du in leer stehende Häuser einbrichst, um Stromleitungen zu reparieren.«

Ich hörte sein leises Lachen und sofort kribbelte es wieder in meinem Magen.

»Tut mir leid, wenn ich dich enttäusche, aber ich bin hier nicht eingebrochen.«

»Ach nein?«

»Nein, denn ganz zufällig habe ich einen Schlüssel für dieses Haus.«

»Schlüssel?«, echote ich ungläubig.

»Ja. Ich habe das Haus nämlich gemietet«, erklärte er in dem geduldigen Tonfall, mit dem man einem kleinen Kind etwas klarmacht.

Oh nein. Ganz toll. Wenn er es nicht schon tat, musste er mich spätestens jetzt für eine komplette Idiotin halten.

Während ich noch überlegte, was ich sagen sollte, rieb ich mir über meine kalten Arme. Mein dünnes Sportzeug war eindeutig nicht fürs Herumstehen in der Kälte geeignet.

»Die Hei… Heizung ist … ist wohl auch kaputt, was?«, schlotterte ich.

»Es gibt hier nur Öfen und ich hatte nicht genug Holz für das ganze Haus. Aber im Wohnzimmer ist es wärmer.«

Ohne nachzudenken, machte ich einen Schritt vorwärts und erwischte prompt seinen Fuß.

»Tschuldigung«, murmelte ich und zog mich wieder zurück. Nein, heute war wirklich nicht mein bester Tag.

»Du könntest mir deine Hand geben, dann bring ich dich hin«, schlug er vor. »Aber nur, wenn du mich nicht wieder trittst oder zu schlagen versuchst.« Sein ironischer Ton war unüberhörbar.

Ich verzog das Gesicht. »Das verspreche ich nur, wenn du vorher versprichst, mich nicht noch mal zu Tode zu erschrecken.«

Statt eines Versprechens ertönte wieder nur sein leises Lachen.

»Deine Hand«, erinnerte er mich.

Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass er sie sah, streckte ich sie in die Richtung, aus der seine Stimme kam. Wieder war es wie ein Stromschlag, als er mich berührte. Automatisch wollte ich meine Hand zurückziehen, doch er hielt mich fest und während er vorausging, spürte ich, wie das seltsame Prickeln an Intensität zunahm. Es wanderte von meiner Hand in den Arm und plötzlich kribbelte mein ganzer Körper. Erst als es wieder nachließ, fühlte ich seine Hand richtig. Sie war ein bisschen rau, aber angenehm warm, und ich begann mich zu entspannen. Zumindest ist er kein Vampir, Abby.

Unglaublich, aber wir erreichten das Ende des Flurs, ohne zu stolpern oder irgendwo anzustoßen, und als ich hinter ihm das Wohnzimmer betrat, empfing mich tatsächlich angenehme Wärme.

Neben dem Feuer im Kamin war ein altmodischer Leuchter mit fünf flackernden Kerzen die einzige weitere Lichtquelle, aber es genügte, um endlich wieder etwas zu sehen. Cassian, in dem gleichen blauen T-Shirt, das er heute in der Schule getragen hatte, stand neben mir und hielt noch immer meine Hand. Auch er schien es zu bemerken, denn er ließ sie los, schlenderte zum Kamin hinüber und lehnte sich dagegen.

»Hier ist es auf jeden Fall warm.« Er deutete auf den altmodischen Sessel vor sich und während ich mich setzte, fühlte ich mich plötzlich ganz eigenartig. Das alles erinnerte mich so sehr an meinen Traum, dass es beinahe unheimlich war. Nur der Wolf fehlte noch.

»Und?«

Ich fuhr hoch. »Was?«

»Ich meine, gehört es zu deinen üblichen Freizeitbeschäftigungen, abends durch fremde Häuser zu schleichen?«

Was für eine blöde Frage? »Natürlich nicht.« Mein Ton war entsprechend zickig. »Ich war joggen.«

»Ach? Hier im Haus?«

»Unsinn«, entgegnete ich hochmütig. »Aber als ich hier zufällig vorbeikam, hab ich ein Geräusch gehört. Ich dachte, es wären Jugendliche im Haus, die irgendwelchen Mist anstellen.«

»Und was hättest du gemacht, wenn es so gewesen wäre? Ich meine, es ist ziemlich mutig von dir, hier einfach so reinzugehen, ohne zu wissen, was dich erwartet.« Er sah mich auf eine seltsam abschätzende Art an.

Einen Moment hielt ich seinem Blick stand, doch dann seufzte ich. »Nein, war es nicht. Ich hab nur einfach nicht bis zum Ende nachgedacht.« Mein Ton war jetzt alles andere als selbstsicher. »Hab wohl vergessen, dass ich kein Superkämpfer bin, so wie du«, gab ich zu und lächelte etwas gequält, doch er erwiderte mein Lächeln nicht.

»Ich bin kein Superkämpfer«, entgegnete er und es klang beinahe kühl.

»Da bist du aber der Einzige, der so denkt.« Er musste das Getuschel im Sportunterricht doch mitbekommen haben?

»Nein, im Ernst, dein Freund war wirklich gut. Ich hatte einfach nur Glück.«

»Doug ist nicht mein Freund.« Das war mir einfach so herausgerutscht. »Ich meine, er ist schon mein Freund. Ähm … ein guter Freund. Ein Kumpel eben …« Oh Mann! Warum machte ich bloß alles immer noch schlimmer? Hastig drehte ich den Kopf zur Seite und tat, als würde ich mich in dem Wohnzimmer umsehen, damit er die unangenehme Röte auf meinem Gesicht nicht bemerkte.

Neben dem Kamin und dem Sessel, in dem ich saß, gab es noch ein imposantes dunkelbraunes Ledersofa, einen Couchtisch aus dunklem Holz, einen kleinen Schrank in der gleichen Holzart und eine riesige Standuhr. Alles Sachen, die dem alten Mr. Warner gehört haben mussten, und jetzt wurde mir auch klar, warum das Haus von außen so unbewohnt gewirkt hatte. Die altmodischen Samtvorhänge, bei denen man mit viel Fantasie unter der dicken Staubschicht einen dunkelroten Farbton ausmachen konnte, waren zugezogen, sodass kein Lichtschein nach draußen dringen konnte.

»Sind deine Eltern gar nicht zu Hause?«, versuchte ich unser Gespräch auf etwas Unverfängliches zu lenken.

»Nein.«

»Und wo sind sie?«

Dass ich schon im nächsten Fettnäpfchen gelandet war, wurde mir sofort klar, als ich den Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkte.

»Sie sind tot.«

Ich schluckte. »Entschuldige«, murmelte ich schuldbewusst. »Ich wollte dich nicht ausfragen.«

»Ach nein?« Es klang scharf und er betrachtete mich mit finsterer Miene. Doch dann änderte sich sein Ausdruck wieder. »Ich meine … es ist okay. Ist ja auch schon ziemlich lang her.«

Seine Miene war jetzt wieder vollkommen cool, doch ich fühlte mich nicht besser.

»Nein, ist es nicht«, sagte ich leise. »Egal wie lange es her ist, es tut immer weh.« Ich spürte, wie meine Kehle eng wurde. »Meine Eltern sind auch gestorben. Da war ich zehn.« Ich hätte nicht sagen können wieso, aber ich hatte das Gefühl, es ihm erzählen zu müssen. »Es war ein Autounfall.« Mum hatte mir erlaubt, bei meiner Freundin Sally zu übernachten, weil sie und Dad Freunde besuchen wollten. Auf dem Rückweg war ihr Auto mit einem anderen Wagen zusammengestoßen.

»Sie waren beide schon tot, als man sie fand. Der Fahrer des anderen Wagens starb im Krankenhaus. Er war betrunken und hat die Kontrolle über das Auto verloren.« Ich musste heftig blinzeln, damit die Tränen blieben, wo sie waren.

»Das tut mir leid.«

Ich sah auf und da war tatsächlich ehrliches Mitgefühl in seinen Augen.

»Und … du hast recht. Es tut weh.« Er schien noch etwas sagen zu wollen, doch die tiefen Stundenschläge der alten Standuhr zerstörten den besonderen Moment und mit jedem Gong schien sich die unsichtbare Mauer zwischen uns wieder aufzubauen.

Wie viele Schläge waren es gewesen? Nein. Es konnte doch unmöglich schon so spät sein.

Ich räusperte mich, noch immer etwas benommen von der seltsamen Stimmung. »Ich glaub, ich muss jetzt nach Hause.«

Cassian verließ sofort seinen Platz am Kamin und öffnete wortlos die Tür.

Nach der wohligen Wärme im Wohnzimmer spürte ich die eisige Kälte hier im Flur noch intensiver und bei dem Gedanken, jetzt allein in der Dunkelheit nach Hause laufen zu müssen, war mir alles andere wohl.

»Warte«, hielt Cassian mich auf. »Besser, du ziehst die hier an. Sonst holst du dir noch den Tod in deinem dünnen Zeug.« Er nahm eine schwarze Lederjacke von dem Haken neben der Tür und legte sie mir um die Schultern. Ganz offensichtlich seine eigene.

 

»Danke«, murmelte ich verblüfft über seine unerwartete Fürsorge. »Ich … ich bring sie dir morgen wieder mit in die Schule«, versprach ich, während ich zusah, wie er selbst nach dem grauen Kapuzen-Sweatshirt griff, das unter der Jacke gehangen hatte.

»Mach das.« Er hob die Arme, um sich das Sweatshirt über den Kopf zu ziehen. Dabei rutschte sein dunkelblaues T-Shirt ein Stück hoch.

Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Sein durchtrainierter Sixpack hätte selbst Doug neidisch werden lassen und ich spürte, wie meine Wangen trotz der Kälte zu glühen begannen.

»Gut, ähm … dann sehen wir uns morgen«, versuchte ich meine Verlegenheit zu überspielen, während er sich mit den Fingern durch seine Haare fuhr, die durch das Anziehen noch mehr verstrubbelt waren.

»Du denkst doch nicht ernsthaft, dass ich dich allein durch den Wald nach Hause marschieren lasse, oder?« Er sah mich auf eine merkwürdige Weise an.

»Ich … nein, ähm … doch. Natürlich. Ich kann gut alleine nach Hause gehen«, stotterte ich.

Und schon wieder hatte er es geschafft, mich zu verblüffen.

»Ich will hoffen, dass du allein gehen kannst und ich dich nicht tragen muss.«

Ich ignorierte seine spöttische Bemerkung und wollte mich umdrehen. Doch seine Hand auf meinem Arm hielt mich zurück und wieder spürte ich dieses eigenartige Kribbeln dort, wo er mich berührte.

»Bist du immer so schwierig?«

»Ich bin überhaupt nicht schwierig«, protestierte ich.

Er seufzte. »Und warum darf ich dich dann nicht nach Hause bringen?«

»Weil ich gut auf mich alleine aufpassen kann.«

»Wahrscheinlich kannst du das.« Eigenartigerweise klang es alles andere als überzeugt. »Aber … vielleicht könnten wir uns darauf einigen, dass ich heute Nacht einfach besser schlafe, wenn ich es tue?« Er sah mich fragend an.

Hatte ich die Vorstellung nicht eben noch furchtbar gefunden, draußen alleine im Dunkeln herumzustolpern? Warum machte ich dann so ein Theater? Also nickte ich und schlüpfte in die Ärmel seiner Jacke. Da sie im Flur gehangen hatte, war sie unangenehm kalt.

Ich hob fröstelnd die Schultern, während ich ihm zur Haustür folgte. Er zog sie hinter mir zu, schloss aber nicht ab.

Nun, da die einzige Lichtquelle aus dem Wohnzimmer uns nicht mehr den Weg beleuchtete, war es wieder vollkommen finster. Am Himmel waren weder Sterne noch der Mond zu sehen, aber irgendwo direkt vor uns musste die Einfahrt sein. Ein Auto hatte ich nirgends gesehen. Also mussten wir zuerst zur Garage, aber wie sollten wir die finden? Ich spürte ihn neben mir.

»Darf ich?«, erkundigte er sich höflich und ehe ich wusste, was er meinte, hatte er wieder meine Hand genommen.

Erneut fühlte ich das vertraute Kribbeln, aber diesmal war es sofort angenehm. Doch mein wohliges Gefühl verging schnell wieder, als er sich erkundigte, ob ich etwas gegen einen Spaziergang hatte. Ein Spaziergang um diese Uhrzeit? War er verrückt? Bei Tageslicht hätte ich damit kein Problem gehabt, aber jetzt? Wir würden uns die Beine brechen. Aber ich kam nicht dazu abzulehnen, denn er deutete mein Schweigen als Zustimmung.

»Gut. Es gibt hier nämlich ’ne Abkürzung. Ist allerdings etwas unwegsam und dunkel. Also bleib dicht hinter mir, ja?«

Noch dunkler als die Einfahrt? Das sollte wohl ein Witz sein!

Ich nahm an, er würde eine Taschenlampe benutzen, doch es blieb dunkel, als er zielstrebig losmarschierte und mich einfach hinter sich herzog. Es knackte unter unseren Füßen und der Boden wurde unebener, deshalb vermutete ich, dass wir durch den Wald liefen. Das war also seine Abkürzung. Na super.

Auf einmal hatte ich ein mulmiges Gefühl. Nicht nur er musste verrückt sein. Ich war es eindeutig auch, mit einem wildfremden Typen im dunklen Wald herumzurennen. Was, wenn er sich verirrte?

Oder wenn Abby doch recht hatte und er ein wahnsinniger Killer war? Schließlich wusste ich rein gar nichts über ihn, außer dass er zufällig die gleiche Highschool besuchte und mir vielleicht sogar Drogen gegeben hatte.

Doch dann beruhigte ich mich. Wenn er mir tatsächlich etwas hätte antun wollen, wäre es in dem einsamen Haus viel einfacher für ihn gewesen. Außerdem machten sich Mörder vermutlich keine Gedanken darüber, dass ihre Opfer frieren könnten, dachte ich, und kuschelte mich noch enger in seine Lederjacke.

Während wir weitergingen, rechnete ich ständig damit, dass wir gegen einen Baum prallen oder stolpern würden. Doch Cassian hatte offenbar mit der Dunkelheit überhaupt kein Problem. Er schien genau zu wissen, wohin er treten musste. Ab und zu wies er mich an mich zu ducken, weil ein Ast über unseren Köpfen hing, oder einen großen Schritt zu machen, wenn wir über Wurzeln liefen. Nur einmal war mein Schritt nicht groß genug und ich stolperte. Aber ich fiel nicht, denn er hatte sich zufällig genau in dem Moment zu mir umgedreht und ich landete direkt in seinen Armen. Sein Atem streifte meine Stirn, während mein Gesicht an seiner Brust lag.

Er riecht wie der Wald, dachte ich. Frisch, erdig, ein wenig nach Minze, und mit einem Mal fühlte ich mich wieder seltsam benommen. Ich konnte - nein - ich wollte mich nicht mehr bewegen. Stattdessen lauschte ich dem regelmäßigen Schlagen seines Herzens.

»Alles in Ordnung?«

Ich nahm seine Stimme wie aus der Ferne wahr und mir wurde bewusst, wo ich mich befand, und sofort begann mein Herz wieder zu rasen. Eigentlich hätte ich mich von ihm losmachen müssen, damit er es nicht bemerkte, doch ich rührte mich nicht und er hielt mich weiter fest. Irgendwann brachte ich dann aber doch ein verlegenes »Ja« heraus. Bedauernd spürte ich, wie er mich losließ und einen Schritt zurücktrat. Als er wieder meine Hand nahm, dachte ich, wir würden weitergehen. Doch er rührte sich nicht.

»Was ist?«, erkundigte ich mich.

Er antwortete nicht, aber ich spürte, wie sich der Druck seiner Hand verstärkte.

»Cassian? Alles in Ordnung?« Ich runzelte die Stirn. Hatten wir uns etwa doch verirrt?

Der Druck ließ wieder nach. »Ja«, antwortete er ruhig. »Keine Sorge. Es ist nicht mehr weit.«

Schweigend setzten wir unseren Weg fort und er hatte sich tatsächlich nicht geirrt. Einen Moment später endete der Wald und das Haus meiner Grandma tauchte vor uns auf.

Als wir vor dem Gartenzaun an der Rückseite stehen blieben, stellte ich fest, dass nur mein Auto in der Einfahrt stand. Grandma war also noch nicht wieder zurück.

Cassian ließ meine Hand los, machte jedoch keine Anstalten, etwas zu sagen.

Ich räusperte mich etwas verlegen. »Danke fürs Bringen und natürlich auch fürs Auffangen gerade.« Ich versuchte, möglichst locker zu klingen. »Du hast wirklich gute Reflexe. Ganz im Gegensatz zu mir.«

»Reines Training«, gab er gelassen zurück.

»Und wie machst du das, dass du im Dunkeln so super sehen kannst? Ist das auch nur Training?«

Er lachte leise und brachte meinen Magen wieder zum Vibrieren. »Wenn du meinst, dass ich jede Nacht durch den Wald stapfe, dann lautet die Antwort eindeutig nein. Ich hab einfach nur gute Augen und kenne den Weg. Das ist alles.«

Die Außenbeleuchtung zauberte ein seltsames grünes Leuchten in seine Augen und sofort zogen sie mich wieder in ihren Bann. Doch diesmal wurde ich nicht ohnmächtig oder schwebte. Ich hatte nur einen Wunsch … und er reagierte.

Nur leider ganz anders, als ich es gehofft hatte.

»Du gehst jetzt wohl besser rein, ehe deine Grandma kommt.« Er sah zu unserem Haus hinüber und er hatte recht. Sie konnte wirklich jede Minute nach Hause kommen.

»Danke noch mal«, murmelte ich widerstrebend, denn obwohl ich keine Lust gehabt hätte, Grandma zu erklären, weshalb ich mit einem fremden Typen vor unserem Haus stand, wollte ich noch nicht gehen.

»Kein Problem. Wie schon gesagt, ich kann jetzt besser schlafen.« Er zögerte, als wollte er noch etwas sagen, doch dann überlegte er es sich offenbar anders und wünschte mir nur eine gute Nacht.

»Gute Nacht.«

Widerwillig wandte ich mich zum Gartentor um, aber während ich es öffnete, fiel mir etwas ein, das ich ihn unbedingt noch fragen musste.

»Woher wusstest du eigentlich, dass ich hier …«

Doch er war nicht mehr da.

Ich hatte nicht gehört, dass er gegangen war, aber er war verschwunden. Angestrengt spähte ich in die Dunkelheit und lauschte. Nichts. Kein Knirschen von Schritten im Kies. Es war totenstill. Nicht einmal der Wind war zu hören.

Einen Moment wartete ich noch, dann trat ich durch das Tor in den Garten und schloss es hinter mir.

In der Küche stellte ich den Herd auf kleine Stufe. Die heiße Nudelsuppe zu essen war bestimmt eine gute Idee, obwohl ich schon lange nicht mehr fror, aber Grandma war dann zufrieden. Und als sie eine halbe Stunde später die Tür aufschloss, hatte ich bereits geduscht und einen Großteil der Suppe verputzt.

Um mich von Cassian abzulenken, machte ich es mir auf dem Sofa gemütlich und guckte mit Grandma die DVD an, die ich ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Während Jack Lemmon und Tony Curtis als Frauen verkleidet mit ihren Instrumenten in den Zug kletterten, meinte Grandma plötzlich: »Du hattest mich doch letzte Woche nach dem Warnerhaus gefragt …«

Ich hätte mich fast an meinem Popcorn verschluckt. Anscheinend gelang es mir heute nicht mehr, nicht an ihn zu denken. Aber ich nickte nur, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen, und kaute weiter.

»Sue Bailey hat mir heute beim Essen erzählt, dass ein Mann es für sich und seinen Neffen gemietet hat.«

Ich war überrascht. Einen Onkel hatte Cassian gar nicht erwähnt?

Aber eigentlich war es ja klar, dass er dort nicht alleine wohnte.

»Der Junge muss etwa in deinem Alter sein. Ich glaube, Sue sagte, er heißt Beckham und geht auf deine Schule.«

»Beckett«, verbesserte ich. Mein Mund war gerade leer.

»Beckett?« Sie zog nachdenklich ihre Stirn in Falten. »Kann sein. Du weißt ja, ich habe ein fürchterliches Namensgedächtnis. Kennst du ihn?«

»Jeb, hab Mathe mit ihm.«

»Er hat seine Eltern auch verloren, der arme Junge, und sein Onkel ist anscheinend viel unterwegs. Er ist Meeresbiologe oder so was Ähnliches. Jedenfalls soll er nicht viel Zeit für seinen Neffen haben, was man so hört.«

Ich machte »Aha«, blickte aber weiter stur auf den Fernseher. Grandma musste ja nicht wissen, wie sehr ich an unseren neuen Nachbarn interessiert war. Und weil ich nichts weiter zu dem Thema sagte, verlor auch sie das Interesse und widmete sich wieder dem Film. Ich war mit meinen Gedanken allerdings längst nicht mehr bei der Handlung.

Auch als ich später im Bett lag, beschäftigte mich unsere Begegnung noch immer. Vor allem die Fragen, die ich ihm hatte stellen wollen, bevor er so plötzlich verschwunden war. Woher kannte er einen Schleichweg, der zufällig direkt zu unserem Haus führte? Und woher wusste er überhaupt, wo ich wohnte? Und da war noch etwas. Ich hatte ihm zwar erzählt, dass meine Eltern gestorben waren, aber nicht, dass ich bei meiner Grandma lebte.

»Du gehst jetzt wohl besser rein, ehe deine Grandma kommt«, hatte er gesagt. Aber wie konnte er von ihr wissen?

Einen schwachen Moment lang hoffte ich, er würde sich vielleicht tatsächlich für mich interessieren und hätte sich sogar über mich erkundigt. Aber dann sagte ich mir wieder, dass das doch zu absurd war. Ein so attraktiver Typ, der Mädchen wie Megan Wilcox oder Angelina Winchester haben und abservieren konnte, würde niemals ernsthaft eine Verabredung mit mir in Erwägung ziehen. Aber so oft ich mir das auch sagte, es änderte nichts an meinen Gefühlen.

Verträumt kuschelte ich mich an das weiche Leder seiner Jacke. Ganz schwach war er da, dieser feine Duft, und sofort kam die Erinnerung wieder, wie er mich im Wald in seinen Armen gehalten hatte.

Und dann der Moment am Gartenzaun, als ich mir zum ersten Mal gewünscht hatte, Cassian Beckett würde mich küssen.

Er war da. Er hielt meine Hand und lief mit mir durch den nächtlichen Wald, aber diesmal schien der Mond und es war taghell. Ich konnte sein Gesicht deutlich erkennen, denn er war mir ganz nah. Er lächelte und ich war unsagbar glücklich.

Doch auf einmal erklang ein durchdringendes Heulen.

Mein Wolf! Und ich bekam eine Gänsehaut, denn ich wusste, was es bedeutete. Sein Heulen war eine Warnung für mich …