Tao Te King

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Einführung

Verborgen und geheimnisvoll wie das Tao, von dem er spricht, muss uns der Verfasser des Tao Te King erscheinen. Die chinesische Überlieferung weiß zu berichten, dass Lao-tse im 6. Jh. v. Chr. in einem Dorf mit Namen Khü-yen geboren wurde und ein sehr hohes Alter von weit über hundert Jahren erreicht haben soll.

In den ›Historischen Aufzeichnungen‹ (chin. Shih-chi), einem bedeutenden chinesischen Geschichtswerk des Szu-ma Chien aus dem 1. Jh. v. Chr., heißt es: »Lao-tse, der Alte Meister, lebte im Einklang mit dem Tao und dessen Wirkkraft. Sein Bestreben war, sich im Verborgenen zu halten und ruhmlos zu bleiben. Er lebte lange Zeit in Tschou, doch als er sah, dass es im Verfall begriffen war, setzte er sich auf einen Wasserbüffel und ritt auf ihm fort. Am Grenzpass angekommen, traf er auf den Grenzwächter Yin Hsi, der den Meister erkannte und ihn bat, doch wenigstens etwas Schriftliches für die Nachwelt zurückzulassen. Daraufhin schrieb Lao-tse ein Buch mit über fünftausend chinesischen Schriftzeichen, in dem er seine Gedanken vom Tao und dessen Wirkkraft zum Ausdruck brachte. Danach zog er, auf seinem Wasserbüffel reitend, von dannen. Niemand weiß, wo er geendet.«

Wenn auch der Verfasser des Tao Te King für uns im Dunkel der Geschichte verborgen bleibt, so zeugen doch Inhalt und Aufbau des genialen Werkes in um so eindringlicherer Weise von seiner einmaligen Persönlichkeit.

Natürlich fehlt es auch nicht an kritischen Stimmen, die bestrebt sind, die geschichtliche Existenz des alten Meisters in Frage zu stellen oder gar ganz dem Reich der Mythen und Sagen zuzuordnen. Doch schon der Sinologe Richard Wilhelm sagte 1910 in seinem Kommentar zum Tao Te King über Lao-tse: »Wie alles Geschichtliche, so löst sich auch das Lebensgeschichtliche für den Mystiker auf in wesenlosen Schein. Und doch spricht uns aus den vor uns liegenden Aphorismen eine originale und unnachahmliche Persönlichkeit an, unseres Erachtens der beste Beweis für ihre Geschichtlichkeit. Aber man muss das Gefühl für solche Dinge haben, streiten lässt sich darüber nicht.«

Wer nun das Tao Te King, wörtlich ›Das Buch vom Tao und der Wirkkraft‹, zur Hand nimmt, wird sich sogleich fragen: Was ist das Tao?

Westliche Interpreten übersetzen das chinesische Schriftzeichen ›Tao‹ mit Weg, Wesen, Weltgesetz, Sinn, Vernunft, Bahn, Führerin des Alls, um nur einige zu nennen. Es muss hier aber gesagt werden, dass jede noch so gut gemeinte Übersetzung des Wortes nur einen Teilaspekt des Tao deutlich macht, aber das Tao selbst nicht lebendig werden lässt. Denn welche Namen und Umschreibungen wir dem unvorstellbaren und somit unaussagbaren Urgrund allen Seins auch geben, es sind doch nur unsere eigenen, begrenzten Vorstellungen und Bilder vom Tao, aber niemals das Tao selbst. Tao ist unfassbar und undefinierbar, denn definieren bedeutet Grenzen setzen. Es ist ein Begriff für etwas, was sich jeder Begrifflichkeit entzieht. Alle Bemühungen, das Tao in begriffliche Formen zu zwängen, kommen dem Versuch gleich, den Himmel mit einem Netz einfangen zu wollen. Gleich zu Beginn des ersten Kapitels sagt deshalb Lao-tse:

Das aussagbare Tao

ist nicht das ewige Tao.

Der nennbare Name

ist nicht der ewige Name.

Und der chinesische Zen-Meister Huai Jang sagte im sechsten Jahrhundert: »Alles, was ich darüber aussagen könnte, würde das Wesentliche verfehlen.«

Die eigentliche Bedeutung des Tao ist die des harmonischen Wandels der Natur, des schöpferischen Urprinzips, das aus sich heraus in nie endender Fülle alle Dinge gebiert, erhält und wieder auflöst. So ist es der Urgrund allen Seins, unwandelbar und ewig. Es ist das Absolute, das höchste Transzendente, die eine anfanglose Wirklichkeit, aus der das Universum entspringt.

Die Wirkkraft des Tao, wie sie sich im Menschen, der im Einklang mit dem Tao lebt, offenbart, nennt Lao-tse ›Te‹. Er versteht darunter das Wirken des Tao im Menschen. Es ist das, was man als spontanes Gelebtwerden durch Tao bezeichnen kann. Obwohl das chinesische Wort ›Te‹ manchmal mit Tugend übersetzt wird, dürfen wir nicht übersehen, dass es mit dem herkömmlichen Tugendbegriff, wie wir ihn sonst verstehen, nichts zu tun hat.

Für den Taoisten entspringt die wirkliche ›wahre Tugend‹ der inneren Wirkkraft des Tao im Menschen und wird nicht von außen auferlegt. Denn das Leben kann nicht durch das Befolgen von Regeln in starre Formen gepresst werden. Ein Leben nach künstlich auferlegten Regeln erweckt zwar das oberflächliche Gefühl, dass alles in bester Ordnung ist, aber in Wirklichkeit ist es nichts weiter als eine Form falscher

Sicherheit.

›Te‹ ist nicht das Wirken moralischer Rechtschaffenheit, das durch sein Haften an äußeren Sittenvorschriften zur tugendbewussten Geisteshaltung entartet, weshalb Lao-tse sagt:

Hohe Wirkkraft ist ohne Wirken,

darum hat sie Wirkkraft.

Niedere Wirkkraft hält fest am Wirken,

darum hat sie keine Wirkkraft. (38)

Die ›wahre Wirkkraft‹ entspringt einem inneren, geis-tigen Gleichgewicht, das wir als inneres Wirken des Tao zu verstehen haben. Es ist die ausstrahlende und segensreich wirkende Kraft des Tao, die auf die Umgebung des im Tao verwurzelten Weisen als wohltuende, spontane Güte wirkt.

Der Weise meidet jedes äußere sich zur Schau stellen, denn er bevorzugt es eher, im Verborgenen zu bleiben. Ruhe und Frieden sind ihm das Höchste, und sein Bestreben ist es, sich im ›Wu-wei‹, dem ›Nicht-Tun‹ zu üben. Wir dürfen nun aber auf keinen Fall den Fehler machen, dieses Nicht-Tun mit dem passiven Nichtstun zu verwechseln. Denn wir haben hier unter Wu-wei eine im höchsten Grade wirkkräftige Geistesverfassung zu verstehen, aus der jede Aktion zu jeder Zeit möglich ist. Indem nun aber der Weise das Nicht-Tun lebt, steht er im Einklang mit dem Tao, dessen universelle Wirkkraft gerade durch sein Nicht-Eingreifen zur Geltung kommt. Und so sagt Lao-tse:

Tao ist ewig ohne Tun,

doch nichts bleibt ungetan. (37)

Wir sehen also, dass es sich beim Wu-wei um ein schöpferisches Nicht-Tun handelt, ein tatenloses Tun, dem die Geisteshaltung des Nicht-Eingreifens mit der Wirkkraft des Geschehenlassens zugrunde liegt.

Das Wu-wei übersteigt die beiden Extreme – rastlose Geschäftigkeit und absolutes Nichtstun. Es ist ein Nicht-Verweilen im Nichtigen, welches zugleich ein Wirkenlassen des Notwendigen ist. Es geht also darum, sich mitten in jeder Situation, wo Handeln erforderlich ist, so zurückzunehmen, dass die universelle Wirkkraft des Tao durch uns hindurch wirkt, so dass unser ganzes Tun zu einem ›Handeln ohne handeln‹ wird. Lao-tse sagt:

Tue das Nicht-Tun.

Schaffe ohne Geschäftigkeit. (63)

Das heißt: Handeln wir und bleiben wir dabei im Nicht-Tun, dann ist dies rechtes Handeln im Einklang mit dem universellen Gesetz des Tao. Die Taoisten sprechen von einem ›Mitfließen mit dem Tao‹. Deshalb ist für sie das Wasser auch das Lieblingssymbol für das Tao. Es steht für Stärke in scheinbarer Schwäche, es zeigt uns das Fließen des Lebens und auch das sich Anpassen an den Wandel der Natur. In seiner charakteristischen Eigenart des Umgehens und Zurückweichens ist das Wasser zugleich ein Symbol für Gewaltlosigkeit. Deshalb sagt Lao-tse:

Nichts auf der Welt

ist so weich und nachgiebig wie das Wasser.

Und doch bezwingt es das Harte und Starke,

nichts kommt ihm darin gleich. (78)

Das Wasser ist gut,

es nützt den abertausend Wesen

und streitet nicht. (8)

Für Lao-tse ist das Wasser der Schlüssel zur Wandlung aller Dinge, und nur wer mit seinen Gesetzen umzugehen vermag, steht im Einklang mit Himmel und Erde und weiß in rechter Weise zu handeln.

Der Weise ist sich bewusst, wie das Kleine und Geringe das Leben groß macht und wie wenig wirklich wichtig

ist in Anbetracht der Unbeständigkeit allen Seins. Er durchschaut die Bedeutungslosigkeit all dessen, was die breite Masse der Menschen für wichtig und erstrebenswert hält. Und da er nicht zu denen gehört, die sich in ihrem Verlangen nach Besitz und äußeren Sinnesreizen an der Oberfläche des Daseins dahintreiben lassen:

verweilt er bei innerer Fülle

und nicht beim äußeren Schein,

er hängt nicht an der Hülle

und lebt nur aus dem Sein. (38)

Immer wieder betont Lao-tse im Tao Te King, dem Buch vom Tao und der Wirkkraft, wie unklug es ist, nach Ehre, Reichtum und Ansehen zu streben. Die Weisheit besteht darin, wunschlos zu werden und anspruchslos in natürlicher Einfachheit zu leben. Der Weise erlebt in der Stille innerer Abgeschiedenheit sein Einssein mit dem Tao, der ewigen Mutter des Alls. Als ihr Kind weiß er sich über den Tod hinaus getragen und geborgen, denn:

Wer einmal seine Mutter fand,

der hat sich als ihr Kind erkannt.

Hat er sich als ihr Kind erkannt,

bleibt er stets der Mutter nah,

sinkt sein Leib dahin, ist er ohne Gefahr. (52)

Der Mensch, der so zurückgefunden hat zu seiner wahren ursprünglichen Natur, dessen ganzes Wesen befindet sich im harmonischen Einklang mit der allumfassenden Ganzheit des Seins. Sie offenbart sich im Verhalten des Vogels; er singt aus innerer Freiheit und lebt mit dem Himmel in wesensgleicher Harmonie.

Lao-tse empfiehlt uns, dem Weg des Himmels zu folgen, das Nicht-Tun zu üben und so die universelle Wirkkraft des Tao in uns wirken zu lassen. Denn der Himmel ist ohne Tun und wirkt doch alle Dinge, wörtlich: ›Wei-wu-wei‹, Tun das Nicht-Tun.

 

Der im Tao verwurzelte Mensch, der so im Einklang mit dem harmonischen Wandel des Himmels lebt, wird zu einer Offenbarung des Tao inmitten der Welt und erlangt über den Tod hinaus Unsterblichkeit.

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