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Liljecronas Heimat

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Am Werktage

Ja, nun war die Arbeit auf Lövdala in vollem Gang, und morgens und abends ertönte das Schnurren der neuen Spinnrädchen so laut wie das Klappern einer Mühle. Und während der Stunden, wo heller Tag war, durfte man auch dem lieben Gott die Zeit nicht stehlen, sondern mußte jede Minute aufs Nähen und Weben verwenden.

Eine Zeitlang hatte es ausgesehen, als hätte die Pfarrfrau die Anwesenheit der Kleinen ganz vergessen. Sie hatte ihr keine Arbeit aufgetragen und ihr nichts weiter befohlen, als in der Küchenkammer rein zu machen und das Feuer zu unterhalten. Aber an demselben Tag, an dem der Fähnrich abreiste, erschien sie an der Küchenkammertür, winkte der Kleinen und sagte, sie solle eine Weile mit ihr in den Saal kommen.

Die Kleine stand sogleich auf, aber sie fürchtete sich unbeschreiblich vor einem Alleinsein mit der Pfarrfrau. Sie mochte sie nicht nur so im allgemeinen nicht, wie man eben einmal jemand nicht gut leiden kann; nein, wenn die Kleine sie nur sah, lief ihr ein kalter Schauer um den andern über den Rücken.

Noch nie in ihrem Leben hatte sich die Kleine vor irgendeinem Menschen so gefürchtet, und sie hatte auch ihre eigenen Gedanken darüber, womit das wohl zusammenhängen konnte. Denn so viel war sicher, etwas war mit der Pfarrfrau nicht recht geheuer. Kein anderer Mensch hatte so weißes Haar und ein so junges Gesicht dazu, und es war doch auch gar nicht natürlich, daß eine Frauensperson mit einer Stimme sprach, die wie ein Wasserfall donnerte. Und ebensowenig hätte ein einziges gewöhnliches Menschenkind so viel Widerwärtiges und Unangenehmes anrichten können.

Immerfort mußte sie an etwas denken, was Mutter ihr einmal von dem Svartsjö und den Dreien gesagt hatte, die zurückgeblieben seien, als der See ausgetrocknet war. Mamsell Maja Lisa wollte nichts davon hören; aber die Kleine wußte wohl, wer diese Dritte war, und daß man auf Lövdala mehr als einmal ein Abenteuer mit ihr zu bestehen gehabt hatte.

Und wenn die Pfarrerstochter von so etwas nicht reden wollte, dann gab es andere Leute auf dem Hof, die es gerne wollten und es auch konnten. Die Kleine brauchte sich nur am Abend einmal ins Gesindehaus hinüberzuschleichen, wo der lange Bengt und seine Mutter, die alte Bengta, sowie seine Frau, die muntere Maja, um den Herd saßen und miteinander schwatzten.

Da pflegte dann der lange Bengt zu erzählen, daß die alte Wasserfrau, die im Svartsjö gewohnt hatte, sich heimatlos fühle, seit dieser ausgetrocknet sei – denn das könne doch kein Mensch verlangen, daß so eine vornehme Frau in dem ärmlichen Svartsjöbache, der jetzt noch durch den früheren Seegrund ziehe, befriedigt sein könne –, und daß sie immer wieder versuche, sich in einen Hof einzuschleichen. Sie habe sich schon da und dort eingenistet; aber an den anderen Orten habe man beizeiten herausgebracht, wer sie war, und so habe man sie fortgejagt, ehe sie etwas Böses anstellen konnte.

Die muntere Maja wußte auch eine Geschichte von dem Sohn des Herrn Olavus, dem früheren Svartsjöer Pfarrer, der in einer Frühlingsnacht an den Svartsjöbach hinuntergegangen und dort ertrunken war. Daraus gehe doch etwas deutlich hervor: die Wasserfrau, die hatte ihn bezaubert gehabt, sonst wäre es ihm ja gar nicht möglich gewesen, in so einem Bach zu ertrinken.

Der lange Bengt sprach von jenem Morgen, wo er und die Vettersbuben auf dem südlichen Anger das Heu gemäht hatten. Die beiden Buben und er hätten auch sofort gesehen, wer da durchs Gras daherkam. Sie sei ja so naß gewesen, daß ihre Kleider trieften. Das sei doch wohl ein genügend deutliches Zeichen dafür, was für eine sie war. Und wie irr und wirr ihre Augen ausgesehen hätten, wahrhaftig nicht wie bei einem Christenmenschen!

Keines von den dreien hegte den geringsten Zweifel, wer die jetzige Pfarrfrau in Svartsjö war, und darüber waren auch alle einig, daß sie nicht wieder fortgehe, ehe sie den ganzen Hof ins Verderben gebracht habe.

Die Kleine glaubte ganz dasselbe, besonders abends und in der Dunkelheit. Bei Tag fiel es ihr schwer zu glauben, daß die heimatlose Wasserfrau aus dem Svartsjö auf Lövdala umhergehe und spinne und webe. Aber auch da war das Mißtrauen in der Kleinen noch so lebendig, daß sie zusammenfuhr, wenn sie die Pfarrfrau nur sah.

Als aber die Pfarrfrau nun an der Küchentür erschien und ihr winkte, blieb ihr jedenfalls nichts anderes übrig, als mit ihr durch die Küchenkammer zu gehen, wo Mamsell Maja Lisa einen Hohlsaum an einem Laken nähte, und in den Saal hinein, einem schönen großen Zimmer mit Möbeln aus gelbgebeiztem Birkenholz und blaugewürfelten Bodenläufern. Das Zimmer hatte zwei Fenster. An dem einen stand eine hohe grüne Kallapflanze, vor dem andern ein kleiner Nähtisch. Die Platte war zurückgeschlagen, und man konnte die vielen kleinen Fächer sehen, die mit Zwirnsträngen und Seidenknäueln, Wachs und Nadelbüchern, Namentüchern und Bandrollen, Haken und Ösen und vielem andern, was sinnreich und bequem war, gefüllt waren.

Die Pfarrfrau zeigte der Kleinen alles, was in den Fächern war, und ließ sie erraten, wozu die einzelnen Gegenstände gebraucht wurden. Sie war so freundlich gegen das Kind, daß sie sogar zu lachen versuchte, wenn die Kleine falsch riet, obgleich ihr das so ungewohnt war, daß sich ihre Mundwinkel förmlich dagegen sträubten.

Je freundlicher sie wurde, desto fester preßte die Kleine den Mund zusammen, und desto aufmerksamer wurde der Blick ihrer glänzenden Augen. Wenn nur die Pfarrfrau sie nicht verführen wollte, etwas zu sagen, was der Pfarrerstochter Schaden bringen konnte!

Aber diesmal schien von einem Hinterhalt nicht die Rede zu sein. Die Pfarrfrau setzte sich an den Nähtisch, die Kleine mußte neben ihr Platz nehmen; nun sollte sie nähen lernen, denn die Pfarrfrau hätte ihrer Mutter versprochen, ihr eine gute Erziehung zuteil werden zu lassen.

Zuerst zeigte ihr die Pfarrfrau, wie man eine Nadel einfädelte.

Dies pflegt ja eine schwere Aufgabe für kleine Leute zu sein; aber die Kleine zog den Faden gleich beim ersten Versuch durchs Nadelöhr.

Die Pfarrfrau verwunderte sich höchlich. Sie sagte, das habe sie sehr gut gemacht. Wenn ihr alles ebenso leicht von der Hand gehe, könne eine Meisterin im Nähen aus ihr werden.

Dann gab ihr die Pfarrfrau ein kleines Stück Leinwand, an dem sie sich üben könnte. Sie zeigte ihr, wie man einen Knoten macht, wie man die Nadel in den Stoff hineinsteckt und wieder herauszieht.

Schweigend ließ sich die Kleine belehren. Dann nahm sie den Leinwandfleck in die Hand, legte ihn über den linken Zeigefinger und machte Stich um Stich, als sei das absolut nichts Schwieriges.

Ei du lieber Himmel! Wie sehr verwunderte sich doch die Pfarrfrau. Das sei das Merkwürdigste, das ihr je vorgekommen war!

Da konnte die Kleine nicht länger ernsthaft bleiben, sie fing an zu lachen.

Nun glaubte die Pfarrfrau endlich zu merken, wie die Sache zusammenhing, und sie fragte, ob die Kleine denn schon, ehe sie nach Lövdala gekommen sei, das Nähen versucht habe.

»Nein«, antwortete diese. »Ich habe noch nie einen Stich gemacht, ehe ich hierhergekommen bin.«

Ei so! Nun dann habe sie vielleicht hier jemand das Nähen gelehrt? Vielleicht Mamsell Maja Lisa?

Die Kleine erschrak, sobald die Pfarrfrau die Stieftochter nur erwähnte, und sie antwortete rasch, nein, aber die alte Frau Beata im Waschhaus drüben habe ihr Unterricht gegeben.

»Das zu hören freut mich sehr«, sagte da die Pfarrfrau. »Wie merkwürdig, daß Frau Beata mit ihren gichtischen Händen nähen kann!«

»Und ob sie nähen kann!« rief die Kleine. »Auf dem ganzen Hofe kann gewiß niemand so schön nähen wie Frau Beata.«

»Dann will ich dir sagen, was wir jetzt tun wollen«, sagte die Pfarrfrau. »Gleich jetzt gehen wir hinüber zu Frau Beata und bedanken uns bei ihr, daß sie dir einen so guten Unterricht gegeben hat.«

Damit nahm sie die Kleine mit sich; aber sie ging nicht den geraden Weg nach dem Waschhausflügel, sondern machte einen weiten Bogen um den Stall und die Scheunen herum. Frau Beata pflegte den ganzen Tag an einem Fenster zu sitzen, von wo sie alle Leute, die vom Wohnhaus zu ihr herüber kamen, sehen konnte, aber sie hatte keine Aussicht nach der Seite, wo die Wirtschaftsgebäude lagen.

Als die Pfarrfrau und die Kleine vor der schwierigen Treppe standen, die im Zickzack zum Giebel hinaufführte, sagte die Pfarrfrau, die Kleine solle vorausgehen. Wer jung sei, laufe rasch und leicht hinauf, sie würde dann nachkommen, so gut es eben gehe. Nun, die Kleine lief laut polternd die Treppe hinauf, und da konnte niemand merken, daß jemand hinter ihr herschlich.

Frau Beata saß immer mit den gefalteten Händen im Schoß da, wenn die Pfarrfrau zu ihr kam. Und immer sprach sie davon, wie schwer es ihr werde, daß sie nichts mehr nutz sei. Auch sie sei früher ein sehr tätiger Mensch gewesen, obgleich nicht ganz so tüchtig wie Anna Maria Raclitz.

Die Pfarrfrau hatte die Ärmste wirklich bedauert. Wie schrecklich, wenn man den ganzen Tag hindurch immer stillsitzen mußte und kein bißchen etwas tun konnte!

Aber als die Pfarrfrau an diesem Tag bei ihr eintrat, hatte Großmutter ein Laken in der Hand und stickte an einem Hohlsaum, und ihr Arm ging dabei so schnell auf und ab wie die Flügel einer Lerche.

Als aber Frau Beata die Pfarrfrau erblickte, machte sie eine Bewegung, wie wenn sie die Arbeit verstecken wollte. Aber als sie merkte, daß die andere sie schon gesehen hatte, nähte sie ruhig weiter.

Die Pfarrfrau trat zu ihr und sprach ihre große Freude darüber aus, Frau Beata am Nähtisch zu finden. Das sei doch sehr schön, daß die Gicht sich so gebessert habe und sie nun etwas arbeiten könne. Sie solle ihr doch zeigen, woran sie eben sei, denn sie habe gehört, Frau Beata Spaak könne wunderschön nähen, und ihre Stiche lägen wie Perlen einer neben dem andern.

»Aber das ist sonderbar,« fuhr die Pfarrfrau fort, indem sie sich immer tiefer über Frau Beatas Arbeit beugte, »dieses Laken meine ich doch zu kennen. Es ist eines von dem Paar, das ich Maja Lisa für diesen Morgen zum Nähen gegeben habe. Vielleicht helft Ihr ihr bei dem einen. Ja, ich habe nichts dagegen, nein, nicht das geringste; aber ich meine, Ihr hättet es mir sagen sollen, damit ich Maja Lisa genügend mit Arbeit versehe. Denn wenn sie nur ein Laken vom Paar näht, so ist es ja die reine Faulenzerei.«

 

Frau Beata hielt die Arbeit noch in der Hand. Sie konnte nichts erwidern, denn ihr Unterkiefer und ihr ganzer Kopf zitterte, wie wenn jemand hinter ihr stünde und sie schüttelte.

Nun wendete sich die Pfarrfrau wieder der Tür zu, um zu gehen. Sie sehe ja, wie eilig es die Großmutter habe, deshalb wolle sie nicht länger stören. Frau Beata brauche jetzt gewiß auch nicht mehr so viel Gesellschaft, da sie wieder arbeiten könne.

Frau Beata stotterte etwas hervor, das wie »übermenschliche Arbeit für die Jugend« klang, und es könne »Leben und Gesundheit« kosten.

Aber die Pfarrfrau erwiderte: »Oh, Ihr wißt wohl, daß es Maja Lisa nicht schlimm geht, da sie noch imstand ist, die halbe Nacht aufzusitzen und zu lesen. Ich glaube auch nicht, daß Arbeit einem jungen Menschen schadet. Nein, aber lügen und heucheln und krumme Wege gehen, das ist schädlich.«

Damit ging sie, und Frau Beata hatte noch nicht ein verständliches Wort zu ihrer Verteidigung herausbringen können, als die Tür auch schon hinter ihr ins Schloß fiel. Aber die Treppe, die die Pfarrfrau nun hinuntergehen mußte, war schmal und steil, und so kam sie nur langsam vorwärts. Indessen konnte sich Frau Beata aufraffen, und gerade, als die Pfarrfrau die unterste Stufe erreicht hatte, riß die alte Frau oben ihre Tür auf.

»Stiefmutter!« rief sie ihr nach, und zwar so laut, daß man es auf dem ganzen Hofe hörte. Eine Antwort wartete sie nicht ab, sondern ging rasch wieder hinein und schob den Riegel vor, damit sie nicht aufs neue überrascht würde.

Man konnte der Pfarrfrau nicht anmerken, ob sie sich etwas aus Frau Beatas Rede machte. Sie war noch immer in ausgezeichneter Laune, und während sie mit der Kleinen ins Wohnhaus zurückging, sagte sie ganz ruhig zu ihr, sie solle jetzt in den Saal gehen und ein wenig nähen, sie werde gleich selbst nachkommen, sie wolle nur vorher noch ein paar Worte mit Mamsell Maja Lisa sprechen.

Die Kleine kniff die Lippen zusammen und erwiderte nichts; aber ihr Gesicht hatte ungefähr denselben Ausdruck wie an dem Weihnachtsfeiertag, wo sie mit dem Sturm kämpfte.

Als sie in dem Flur angekommen waren, ging sie nicht in den Saal, wie ihr befohlen war, sondern wendete sich der Küchentür zu.

Die Pfarrfrau fragte sofort, wohin sie wolle. Ob sie nicht gehört habe, daß sie in den Saal gehen und nähen solle?

Da antwortete die Kleine mit leiser Stimme, sie meine, das sei jetzt unnötig.

»Warum denn unnötig? Meinst du, du kannst jetzt schon ausgezeichnet nähen und brauchst nichts mehr zu lernen?«

Nein, das meine sie durchaus nicht. Aber sie brauche nicht mehr zu lernen, als sie schon könne, weil sie jetzt wieder heim nach Koltorp gehe.

Zugleich trat sie auf die Pfarrfrau zu, reichte ihr die Hand und sagte, sie könne sich auch ebensogut gleich verabschieden.

»Aber liebes Kind!« rief die Pfarrfrau. »Ich verstehe dich absolut nicht. Warum willst du denn auf und davon gehen?«

Die Kleine trat ein paar Schritte zurück, wie um außerhalb greifbarer Nähe zu sein, ehe sie ihre Erklärung gab.

»Mutter ist Kindermädchen hier auf Lövdala gewesen, und Mutter hat die Pfarrerstochter lieb. Und als Mutter an Weihnachten hier war, hat sie zu mir gesagt, wenn Mamsell Maja Lisa meinetwegen noch weitere Unannehmlichkeiten bekomme, solle ich nicht hierbleiben, sondern heimkommen.«

Als die Kleine das gesagt hatte, schob sie sich an der Wand weiter, bis sie die Ecke neben der Küchentür erreicht hatte. Da blieb sie stehen und wartete auf das, was kommen würde.

Die roten Flecke brannten auf Frau Raclitzas Wangen, und sie ging mit erhobener Hand auf die Kleine zu. Diese aber duckte sich nicht, und ihre Augen sahen die Pfarrfrau kalt an. Sie wußte, daß sie jetzt Schläge bekommen würde; aber sie war so von Haß erfüllt, daß sie keine Angst fühlte, sondern eher froh darüber war, daß es jetzt zum offenen Streit kam.

Aber nun geschah etwas, was sich die Kleine nie und nimmer hätte träumen lassen. Die Pfarrfrau gab ihr nicht einmal eine Ohrfeige, sie bezwang sich vielmehr im letzten Augenblick und versuchte zu lächeln.

»Liebes Kind, du siehst ja aus wie eine Katze, die auf einen Hund losfauchen will. Aber sei ganz ruhig, ich werde dich gewiß nicht schlagen, weil du gegen die, der du dienst, treu bist. Gerade das gefällt mir, und deshalb verspreche ich dir, Maja Lisa soll nicht ein einziges Wort von mir über das hören, was ich heute entdeckt habe. Und jetzt gehen wir miteinander in den Saal und denken nie wieder an diese Sache.«

Die Kleine fühlte sich ganz verwirrt. Hinter diesem allem lag etwas, was sie nicht verstand. Aber sie war nur zu froh, daß sie im Pfarrhaus bleiben durfte, und so gab sie sich keine weitere Mühe, das Rätsel zu lösen.

Als sie nun wieder an dem Nähtisch saßen, war indes vom Nähen keine Rede mehr, sondern die Pfarrfrau öffnete ein Fach, das unter den andern verborgen war. Diesem entnahm sie zuerst ein Abc-Buch, dann Papier und einen Gänsekiel sowie ein Fläschchen Tinte.

Die Kleine glaubte, die Pfarrfrau wolle sie nun im Lesen und Schreiben prüfen; aber das war nicht deren Absicht, sondern sie sagte, sie habe als Kind ihrer Mutter immer bei der Pflege der kleinen Geschwister helfen müssen, und so habe sie nie lesen und schreiben gelernt. Aber seit sie Pfarrfrau geworden sei, sei es ihr äußerst unangenehm, daß sie es nicht könne. Nun solle die Kleine ihr Lehrmeister werden. Sie habe gleich daran gedacht, als sie sie an Weihnachten nach Lövdala kommen ließ, aber bis jetzt nur keine Zeit dazu gehabt.

Die Kleine war höchlich erfreut und sagte sofort, sie wolle der Pfarrfrau gerne helfen, so gut sie es vermöge.

Nun, das sei also ausgemacht, sagte die Pfarrfrau. Aber, fuhr sie fort, die Kleine solle niemand sagen, daß sie sie lesen lehre. Sie habe Angst, die Leute würden sie auslachen. Es solle so aussehen, als lehre die Pfarrfrau sie nähen und verbringe deshalb jeden Vormittag eine Stunde mit ihr im Saal.

Ja, da könne ja nichts Böses dabei sein, meinte die Kleine.

Die Pfarrfrau sagte, sie freue sich aufrichtig über dieses Übereinkommen. Die Kleine werde wohl begreifen, wie schwer es für eine Pfarrfrau sei, wenn sie nicht schreiben könne. Heute zum Beispiel hätte sie so gerne einen Brief abgeschickt, wenn sie ihn nur zustande brächte. Sie habe sich schon wiederholt gefragt … ob die Kleine wohl so gewandt im Schreiben sei, daß sie die Worte aufs Papier setzen könne, wenn sie ihr diktiere?

O ja, das getraue sie sich gut, rief die Kleine. Sie schlug auch gleich eine Klappe an einem der Tische auf, legte das Papier zurecht, zog den Stöpsel aus dem Tintenfläschchen und begann zu schreiben, was ihr die Pfarrfrau diktierte.

*******************************

Ein Frühlingsabend

An einem schönen Frühlingsabend war die Pfarrerstochter mit der Kleinen im Freien. Sie war es von jeher gewohnt gewesen, sich am Abend eine Weile draußen zu ergehen, und die Stiefmutter hatte sich dem nicht widersetzt, sondern ihr nur befohlen, die Kleine mitzunehmen, weil es sich für ein siebzehnjähriges Mädchen nicht schicke, allein auf der Landstraße zu sein.

Wie immer ging sie auch jetzt in südlicher Richtung, denn da war der beste Weg. Sie wanderte langsam dahin, und die Kleine konnte sich diesem langsamen Tempo nur schwer anpassen. Bald lief sie voraus, bald blieb sie eine große Strecke zurück, nur um sich wieder außer Atem laufen zu können, bis sie die Pfarrerstochter einholte.

Der Weg führte den Waldhügel entlang, der die Grenze von Lövdala bildete, und während nun die Pfarrerstochter so dahinwanderte, kam es ihr ganz sonderbar vor, daß die Kleine auf der kurzen Wegstrecke, die sie Abend um Abend hin und her wanderten, so viel Vergnügliches finden konnte.

Da war zuerst das Echo. Die Kleine lief eiligst durch die Allee voraus, um es hervorzulocken. Sie wußte, wo es sich fand. Ein kleines Stück auf dem Weg draußen, gerade vor der Lövdaler Roggenscheune. Da blieb sie stehen, drehte sich der Scheunenwand zu und begann zu rufen.

 
»Echo, Echo, sag’ mir wahr!«
»Sag’ mir wahr!« das Echo klang.
»Heirat ich in diesem Jahr?«
»Diesem Jahr!« das Echo klang.
»Ist mein Schatz ein schöner Mann?«
»Schöner Mann!« das Echo klang.
»Kommt mit vielen Gold er an?«
»Gold er an!« das Echo klang.
»Sprichst du Wahrheit? Lüg’ nicht an!«
»Lüg’ nicht an!« das Echo klang.
 

Die Pfarrerstochter selbst hatte vor ein paar Monaten die Kleine diese Reime gelehrt; aber damals war eben alles ganz anders gewesen als heute. Jetzt hatte sie keine Kraft, mit dem Echo zu scherzen.

Die Kleine blieb ihr nun an der Seite, bis sie eine Kiesgrube erreichten, die links vom Wege dicht unter dem Bergabhang lag. Aber hier verließ die Kleine die Pfarrerstochter und sprang in die Grube hinunter, wo sie dann zwischen den heruntergefallenen Steinen eifrig nach Katzengold suchte. Erst als sie die Pfarrerstochter an der Wegbiegung aus den Augen verlor, jagte sie wieder hinter ihr her.

Dann gingen sie miteinander bis an den Bach. Der Kleinen war es ganz und gar unbegreiflich, daß Mamsell Maja Lisa an dem Bach vorübergehen konnte, ohne stehenzubleiben, ja ohne auch nur einen Blick auf ihn zu werfen. Wildschäumend brauste er von der bewaldeten Höhe herab und bildete einen Wasserfall um den andern, den einen immer großartiger als den andern, bis er unten beim Wege angelangt war. Wenn er sich dann aber brausend und schäumend unter der Brücke durchgezwängt hatte, wollte er nicht mehr in dem alten Bett bleiben, sondern riß sich los und trat über seine Ufer. Aber das konnte die Kleine nicht leiden. Sie eilte an den Wegrand hin und begann zu graben und einzudämmen, um das Wasser in sein altes Bett zurückzuzwingen.

Sie wäre sehr dankbar gewesen, wenn die Pfarrerstochter angehalten hätte, um ihr zu helfen. Aber ach, die Pfarrerstochter konnte mit knapper Not auf dem ebenen Weg weiterkommen! Sie hatte das Gefühl, als schleppe sie sich nur noch dahin. In andern Jahren hatte sie auch beim Eindämmen des Baches mitgeholfen, aber da war sie ja noch ein Kind gewesen.

Plötzlich blieb sie stehen, denn auf einmal begriff sie, was ihr widerfahren war: Ach, alt war sie geworden, die Jugend und die Jugendlust waren von ihr genommen!

Die Pfarrerstochter wanderte langsam immer weiter, und schließlich mußte die Kleine den Bach im Stich lassen und ihr folgen. Aber sie hielt sich nicht lange auf dem geraden Wege.

Jetzt kamen sie an ein Gatter, das auf einen eingefriedigten Weideplatz führte, wo man immer die ersten Anemonen fand. Sie waren noch nicht aufgeblüht, aber jetzt war der Frühling so weit vorgeschritten, daß man sie jeden Tag erwarten konnte. Die Kleine machte das Gatter auf, um ein bißchen hineinzulugen. Sie hatte sich fest vorgenommen, die zu sein, die in diesem Jahre die erste Anemone nach Hause brachte.

Aber die Pfarrerstochter ging weiter wie eine alte, alte Frau und zeigte nicht die geringste Lust, Frühlingsblumen zu suchen.

Etwas weiterhin hatte die Kleine einen alten Freund, den sie nie zu begrüßen vergaß. Das war ein Käuzchen, das in der großen hohlen Birke, dem größten Baum auf ganz Lövdala, wohnte. Die Kleine nahm ein Hölzchen und steckte es in die Behausung des Käuzchens hinein; sogleich streckte der Vogel einen Fuß heraus und versuchte das Hölzchen hinauszuschieben. Noch nie hatte die Kleine mehr von dem Käuzchen zu sehen bekommen als diese großen Klauen. Das wußte die Pfarrerstochter wohl, denn sie war früher auch bei dem Käuzchen stehengeblieben, um es zu necken. Jetzt konnte sie nicht begreifen, daß ihr das je Vergnügen hatte machen können.

Sobald sie an der Birke mit dem Käuzchen vorbei waren, kam die Kleine eilig dahergelaufen, und nun, das wußte die Pfarrerstochter recht gut, würde ihr das Mädchen eine Weile nicht von der Seite weichen. Denn nun mußten sie an dem alten moosbewachsenen Feldmäuerchen vorüber, in dessen Nähe es nicht ganz geheuer war. Ach, die Pfarrerstochter sehnte sich in die Zeit zurück, wo auch sie sich vor dem schauerlichen Pfarrer ohne Kopf gefürchtet hatte, der einem gerade hier bei dem Feldmäuerchen begegnen konnte.

Es ging jetzt bergauf; und die Pfarrerstochter merkte, daß sie nicht nur wie eine Schnecke dahinschlich, nein, es war ihr, als könne sie den Gipfel des Hügels nie und nimmer erreichen.

 

Weiter als bis auf den Gipfel dieses Hügels pflegte sie nie zu gehen. Da droben lag dicht am Wegrand ein großer Felsblock, und auf diesen setzte sie sich dann eine Weile. Auf der Vorderseite des Felsens war ein kleiner Sitzplatz ausgehauen, gerade groß genug, daß sie und die Kleine zur Not darauf Platz hatten. Maja Lisa schloß die Augen und fühlte sich so müde, daß sie nichts sagen konnte, und die Kleine verhielt sich auch ganz still. Einmal öffnete die Pfarrerstochter die Augen und schaute sich um, weil sie geglaubt hatte, die Kleine sei aufs neue ausgeschwärmt. Aber sie saß noch neben ihr und strich sachte mit der Hand über einen Zipfel von Mamsell Maja Lisas Kleid, der zufällig auf ihrem Knie liegengeblieben war.

Ach, alles war so betrübt für die Pfarrerstochter, für sie, die Lövdala und das ganze Kirchspiel hätte erben sollen! Es kam ihr vor, als sei dieses Kind hier jetzt der einzige Mensch, der sie nicht verlassen hatte.

Ja, gerade deshalb fühlte sie sich alt und schwach, weil sie von allen verlassen worden war. Sie war ebenso einsam wie jemand, dem alle seine Freunde gestorben und ins Grab gesenkt worden sind.

Seit jenem Tage in Svansskog war sie mit niemand mehr zusammengetroffen, der ihr wohlwollte und sich ihrer annahm. Nachdem sie wieder daheim war, hatte sie zuerst jeden Tag erwartet, es werde jemand kommen, der sie von aller ihrer Not und Drangsal befreite. Sie wußte nicht, wer kommen sollte, und wußte auch nicht, wie er es anstellen sollte, ihr zu helfen; aber sie meinte, in jenen beiden Tagen habe sich soviel Merkwürdiges zugetragen, und wenn es so gut angefangen hatte, müßte es auch so weitergehen.

Aber seither war ein Tag um den andern vergangen, ohne daß sich irgend etwas ereignet hatte. Woche folgte auf Woche, und eine war der andern so ähnlich gewesen, daß Maja Lisa sie in ihrer Erinnerung nicht auseinanderhalten konnte.

Ja, unbegreiflich und sonderbar war es, daß alles so ruhig um sie her verblieb. Manchmal bildete sie sich ein, es müßten weit draußen in der Welt Dinge geschehen, die sie angingen. Bisweilen fühlte sie sich von Stimmen umgeben, die mit ihr sprachen, bisweilen auch überkam sie Angst, weil sich niemand nach ihr sehnte und ihr zu Hilfe kam. Aber der ganze Februar, der ganze März und fast der ganze April waren jetzt vergangen, und bis zum heutigen Tag war weder Botschaft noch Brief zu ihr gedrungen von denen, die frei waren, die sich bewegen konnten, wie sie wollten, und die nicht in einem eisernen Käfig eingesperrt waren.

Nun wurde ihr allmählich klar: – niemand würde kommen. Sie mußte ihren Kampf allein auskämpfen, ohne irgendwelche Hilfe. Aber ach, es war so schwer, alle Hoffnung aufzugeben! Nun hatte sie gemeint, recht starke und gute Freunde gefunden zu haben, und sie konnte es noch nicht fassen, daß sie sich gar nicht um sie kümmerten.

Der alte Felsblock, auf dem sie saß, sollte schon zu der Zeit hier am Wegrand gelegen haben, als Lövdala nur eine Sennerei mitten im wilden Walde gewesen war, zu der die Sennerinnen jeden Sommer mit ihren Kühen und Geißen zogen. Da habe einmal ein junger Bursche einen Sitzplatz in den Felsen gehauen, damit sein Schatz ein Plätzchen zum Ausruhen hätte. Hier vom Gipfel des Berges, auf dem der Felsblock lag, konnte man bis zum Lövsee und zur Kirche hinsehen, und sicher hatte von denen, die die Herde hier weideten, gar oft ein Mädchen hier gesessen und nach jemand ausgeschaut, der sie abholen und aus der Einöde zu den Menschen zurückführen würde. Ja, Maja Lisa fühlte, wenn sie hier saß, ganz deutlich, daß an diesem Platz oft mit bitterem Heimweh gekämpft worden war.

Die Pfarrerstochter stützte den Kopf in die Hand und seufzte. Wer ihr helfen wollte, mußte bald kommen, denn lange konnte sie es jetzt nicht mehr aushalten. Sie litt zwar an keiner eigentlichen Krankheit, aber sie siechte vor Kummer und Verlassenheit dahin.

Und nicht ihr allein tat Hilfe und Rettung not, nein, ganz Lövdala war in Gefahr. Diese ihre Heimat, wo sie jeden Stein liebte, war dem Verderben geweiht.

Es war jetzt erst Ende April, und man fror beim Stillsitzen auf dem kalten Stein. Sie machte sich langsam auf den Heimweg. Dabei dachte sie aber nicht mehr an sich selbst, sondern nur noch an Lövdala.

Eines Sonntags, es war Ende März gewesen, war der Vater mit der Nachricht von der Kirche heimgekommen, Pastor Liljecrona habe bei dem König um die Erlaubnis nachgesucht, seine Bewerbung um die Propstei in Sjöskoga zurückziehen zu dürfen.

Der Vater hatte beim Mittagessen davon gesprochen, und Maja Lisa war sehr rot und erregt geworden. Sie hatte den Vater sofort gefragt, warum Pastor Liljecrona denn die große Pfarrei nicht angenommen habe. Aber darauf hatte der Vater keine Antwort geben können. Er wußte nur, daß Pastor Liljecrona außerordentlich viel für seine Gemeindeglieder tue, und sagte dann, Liljecrona müsse ein besonders edler Mann sein, wenn er auf Wohlstand und eine hohe Stellung verzichten könne, um bei denen zu bleiben, die ihn brauchten.

Auch die Stiefmutter hatte sich ganz auffallend für Vaters Neuigkeit interessiert. Sie fragte, ob es denn auch wirklich wahr sei, daß Liljecrona Sjöskoga ganz aufgegeben habe? Und als Vater ihr dies bestimmt versicherte, war die Mutter in ihrer rücksichtslosen Weise vorgegangen und hatte gesagt, sie meine, nun sollte sich Vater darum melden.

Der gute Vater war gewiß nicht oft in seinem Leben sprachlos gewesen, aber jetzt blieb er stumm und still sitzen und starrte die Mutter nur an. Er sah fast entsetzt aus, wie wenn er es geradezu für ein Unglück hielte, daß Mutter diesen Gedanken gefaßt hatte. Ach, er war wohl nicht mehr recht sicher, ob er die Kraft hätte, ihr eine abschlägige Antwort zu geben.

Auch Maja Lisa war ganz bestürzt. Fast hätte sie geglaubt, die Stiefmutter scherze; aber dazu war diese nicht angetan. Es war auch gar nicht so töricht gedacht – Maja Lisa hatte selbst oft gemeint, ihr Vater sollte von Rechts wegen mindestens Bischof werden –, aber seit er den Schlaganfall gehabt hatte, wäre es ja das größte Unrecht, wenn man ihn anspornen wollte, sich um ein großes, geschäftsvolles Amt zu bewerben. Der Vater war allerdings in der letzten Zeit viel frischer und jetzt wieder fast ganz wie früher, aber Mutter wußte doch recht gut, daß er nicht mehr bei seiner vollen Kraft war.

Maja Lisa hatte sich gezwungen, zu schweigen. Wenn sie sich mit ihren Einwendungen hervorgewagt hätte, wäre die Stiefmutter erst recht in Eifer geraten. Als die Mutter dann weder von dem einen noch von dem andern eine Antwort erhielt, hatte sie weiter über die Sache geredet.

»Wenn man zu lange auf einer Stelle sitzenbleibt,« sagte sie, »wird man vor der Zeit alt. Nichts trägt sosehr dazu bei, die Bequemlichkeit abzuschütteln, als in eine neue Arbeit hineinzukommen.«

Maja Lisa hatte gedacht, Vater sei schon zu weit in den Jahren fortgeschritten, als daß er durch vermehrte Arbeit wieder frisch gemacht werden könnte; aber immer noch gelang es ihr, zu schweigen. Darauf hatte die Stiefmutter weitergesprochen, als ob es schon beschlossene Sache sei, daß Vater auf ihren Vorschlag eingehe: Natürlich werde ja die ganze Wahl noch einmal vorgenommen, und jedenfalls müsse Vater morgen nach Karlstadt fahren, um sich danach zu erkundigen; ja, das beste wäre, er führe gleich nach Stockholm und meldete sich persönlich bei Seiner Majestät. Sie wisse, wie gelehrt Vater sei und wie leicht er gute Empfehlungen bekommen könne, weil er ja mehrere Jahre bei den hohen Herren, die jetzt an der Spitze standen, Hauslehrer gewesen sei.

Bis jetzt hatte sich Maja Lisa nur für den Vater geängstigt; aber nun fiel ihr noch etwas anderes ein, und da konnte sie sich nicht länger beherrschen, sondern sie unterbrach die Mutter und sagte: