Die Würde des Tieres ist unantastbar

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Tierschutz und Tierrechte kontra Natur- und Umweltschutz?

Eine zeitgemäße Tierethik fordert, dass die Existenz, die Interessen und das Wohlergehen von Tieren in menschlichen Entscheidungen und Handlungen berücksichtigt werden. Erkenntnistheoretisch (epistemisch) ist alle Ethik selbstverständlich ein an bestimmte Vorgaben und Bedingtheiten der Natur gebundenes „Kunstprodukt der menschlichen Vernunft“78, erdacht und gestaltet von Menschen innerhalb spezifischer geschichtlicher und gesellschaftlicher Kontexte. Ethische Normen werden von Menschen geschaffen, diskutiert und reformiert. Sie können nicht in einem Diskurs oder Gespräch zwischen Menschen und Tieren ausgehandelt werden. Diese Tatsache aber bedeutet nicht, dass es in der Ethik ausschließlich um den Menschen und seine Bedürfnisse gehen sollte. Ganz im Gegenteil: Immer mehr Ethiker wenden sich heute Ethikkonzepten zu, die auch die nichtmenschliche Natur berücksichtigen, und zwar die nichtmenschliche Natur im Allgemeinen, Tiere als – zumindest in vielen Fällen – empfindungsfähige, Lust und Schmerz, Freude und Leid verspürende Wesen im Besonderen.

Es gibt unterschiedliche post-anthropozentrische Ethikansätze79: das sentientistische (pathozentrische) Ethikmodell, in dem nicht nur der Mensch, sondern alle empfindungsfähigen Lebewesen, also neben dem Menschen auch empfindungsfähige Tiere berücksichtigt werden; das biozentrische Modell, das alle Lebewesen, also auch Pflanzen, einschließt (Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“), und das ökozentrische Modell (Holismus, „deep ecology“), dem es vor allem um die Bewahrung von Ökosystemen geht, weil es weder menschliches noch tierisches und pflanzliches Leben geben würde, wenn diese nicht zumindest einigermaßen intakt sind. Innerhalb jedes dieser Ethikmodelle gibt es wiederum verschiedene Untergruppen, die hier aber nicht besprochen werden müssen und können. Zwischen den genannten post-anthropozentrischen Ethikmodellen gibt es Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge, aber auch Differenzen und Spannungen.

Im alltäglichen Sprachgebrauch wird kaum zwischen „Tierschutz“ (Verbesserungen für Tiere im Rahmen des nicht grundsätzlich in Frage gestellten menschlichen Nutzungsanspruchs) und „Tierrechten“ (Rechte der Tiere, Pflichten der Menschen, sehr enges Verständnis des Begriffs „Vermeidung unnötigen Tierleids“) unterschieden, wobei ohnehin die Frage nach einer eindeutigen Abgrenzung nicht völlig geklärt ist. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird zudem auch zwischen bio- oder ökozentrischen Umweltschützerinnen und pathozentrischen Tierschützern bzw. Tierrechtlern nicht streng differenziert: Beide fallen unter die breite Kategorie „Naturschützer“ / „Umweltschützer“. Einer weit verbreiteten Auffassung nach sind Schutz der Umwelt und Schutz der Tiere mehr oder weniger ein und dieselbe Sache. Tierethik wird häufig als Unterkapitel der Umweltethik betrachtet, gerade auch in der Moraltheologie bzw. der theologischen Ethik. Das ist nicht von vornherein völlig falsch, denn Tierschutz und Naturschutz, Tierethik und Umweltethik haben vieles gemeinsam: Sowohl die Umweltbewegung als auch die Tierrechtsbewegung wurden in den 1970er Jahren populär, beide widersetzen sich einem obsoleten, einseitigen Anthropozentrismus, der der nicht-menschlichen Natur jeden Eigenwert abspricht. Zudem sind viele Umweltschützer zugleich Tierschutzaktivisten und selbstverständlich decken sich Forderungen und Anliegen des Umwelt- und des Tierschutzes in vielen Punkten.

Blickt man genauer hin, kann man allerdings erkennen, dass es bei allen Gemeinsamkeiten auch Differenzen zwischen Umwelt- und Tierrechtsethik gibt.80 Während die Tierrechtsethik den Kreis der berücksichtigungswürdigen moralischen Objekte („moral patients“) auf empfindungsfähige (nichtmenschliche) Lebewesen ausdehnt, geht es in der Öko-Bewegung um den Eigenwert aller Lebewesen, also auch von Bäumen und anderen Pflanzen (Biozentrismus) oder von zu Ökosystemen verbundenen Menschen, Tieren, Pflanzen, Steinen, Gewässern und Böden (Ökozentrismus).

Das primäre Ziel einer ökozentrischen Ethik ist es, die Integrität, Stabilität und Schönheit von Ökosystemen zu erhalten, das primäre Anliegen einer sentientistischen Ethik dagegen ist das Wohlergehen jedes einzelnen empfindungsfähigen (menschlichen und nichtmenschlichen) Tieres. Lebewesen und Ökosysteme, denen kein Lust- und Schmerzempfinden zu eigen ist, verdienen dieser Ansicht zufolge ethisch nicht die gleiche Beachtung. „Es wäre unsinnig zu behaupten“, schreibt Peter Singer völlig zu Recht, „es sei nicht im Interesse eines Steines, von einem Schuljungen die Straße entlang gekickt zu werden. Ein Stein hat keine Interessen, weil er nicht leiden kann. Nichts, was wir ihm zufügen können, würde sein Wohlergehen auf irgendeine Weise beeinflussen. … Eine Maus [dagegen] hat ein Interesse daran, nicht … getreten zu werden, weil sie dabei leiden würde.“ 81

Während Umweltschützer häufig keine Probleme damit haben, zu jagen, zu fischen und Tiere zu essen, solange diese Tätigkeiten ihrer Meinung nach das Ökosystem nicht gefährden oder womöglich sogar erhalten helfen, scheuen vor allem Tierrechtler davor zurück, das konkrete Leben einzelner Tiere mehr oder weniger bereitwillig für das im letzten doch recht vage und abstrakte Wohl eines Ganzen zu opfern.

Die unterschiedlichen Prioritäten des sentientistischen und des ökozentrischen Ethikkonzeptes führen einerseits bisweilen zu moralischen Konflikten und Dilemmata. Anderseits ist auch klar, dass das Wohl des Ökosystems und das Wohl der einzelnen Lebewesen eng miteinander verbunden sind. Die Retinität (Vernetzung) allen Lebens und die Einbindung der Menschen und Tiere in das tragende Netzwerk der übrigen Natur sind unbestritten. Eben weil ein angemessener Lebensraum (Habitat) für das Überleben und Wohlergehen von Tieren so wichtig ist, bedarf es intakter Ökosysteme. Weil aber die Integrität des Ökosystems auf das Wohl aller und jedes einzelnen Lebewesens hin zu ordnen ist, dürfen Tiere nicht bloß instrumental als reine Mittel oder Hindernisse zur Systemerhaltung betrachtet werden, sondern sind in ihrem Eigenwert und ihrer Befindlichkeit zu respektieren. Dies ist sowohl die normative Richtlinie als auch die praktische Herausforderung.

Die Fähigkeit einer Kreatur, Lust und Schmerz zu empfinden, ist zweifellos ein wesentliches Kriterium dafür, es in besonderer Weise moralisch zu berücksichtigen. Es wäre jedoch falsch, den Fehler früherer Generationen zu wiederholen und eine einzige Eigenschaft oder Fähigkeit wie zum Beispiel Vernunft, Sprache oder eben Empfindungsfähigkeit herauszugreifen und zur Grenzbarriere zu stilisieren, jenseits derer ethische Überlegungen unnötig sind. Nicht empfindungsfähige Kreaturen sowie Ökosysteme dürfen deshalb nicht aus dem Kreis der moralischen Objekte entlassen werden. Dies verbieten sowohl ihr Eigenwert und die Interdependenz alles Seienden als auch das Wissen um die Tatsache, „dass alle moralischen Kategorien und Unterschiede der Veränderung unterliegen, weil sich unser Bewusstsein weiterentwickelt und unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse ständig wachsen.“82

Artensterben als Verstümmelung

Das moralische Bewusstsein in der Gesellschaft in Bezug auf Tiere hat sich geschichtlich gewandelt und weiterentwickelt, auch das moralische Bewusstsein in den christlichen Kirchen. Thomas von Aquin lehrte, dass die Tiere allein zum Gebrauch durch die Menschen bestimmt seien. Noch die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, Gaudium et spes, erklärte, dass der Mensch die auf Erden „einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist.“83 Und auch im Katechismus der Katholischen Kirche aus dem Jahre 1993 ist zu lesen: „Er [Gott] hat alle materiellen Geschöpfe [Engel dagegen sind nichtmaterielle Geschöpfe] zum Wohl des Menschengeschlechtes bestimmt:“ (Paragraf 353)

Doch bereits der Sozialhirtenbrief der katholischen Bischöfe Österreich, der 1990, also drei Jahre vor dem Katechismus erschienen ist, stellte fest, „dass die Schöpfung und alles was lebt, einen gottgewollten Eigenwert besitzt und nicht allein zum Nutzen des Menschen da ist.“84 Im darauffolgenden Jahr betonten die katholischen Bischöfe der USA in ihrer pastoralen Erklärung Renewing the Earth. An Invitation to Reflection and Action on Environment in Light of Catholic Social Teaching: „Die übrigen Geschöpfe … sollten nicht bloß als Mittel für die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse behandelt werden, sondern auch als Geschöpfe Gottes, die einen unabhängigen, eigenen Wert besitzen und die unseren Respekt und unsere Fürsorge verdienen.“85 In seiner Enzyklika Laudato Sí vom Mai 201586 und in seiner Ansprache vor der UNO im September 2015 bestätigte Papst Franziskus die neue kirchenamtliche Lehre auf höchster Ebene: „Jedes Geschöpf – besonders die Lebewesen – hat einen Eigenwert, einen Wert des Daseins, des Lebens.“87

Die gegenwärtige kirchenamtliche Lehre verkündet den Eigenwert aller Lebewesen und der gesamten Schöpfung. Sie betont jedoch ebenso die gegenseitige Verflechtung und Interdependenz aller Kreaturen. In Laudato Sí betont Papst Franziskus, „dass sämtliche Geschöpfe des Universums, da sie von ein und demselben Vater erschaffen wurden, durch unsichtbare Bande verbunden sind und wir alle miteinander eine Art universale Familie bilden, eine sublime Gemeinschaft.“ Der Papst fährt fort: „Ich möchte daran erinnern, dass ,Gott uns so eng mit der Welt, die uns umgibt, verbunden [hat], dass die Desertifikation des Bodens so etwas wie eine Krankheit für jeden Einzelnen ist, und wir […] das Aussterben einer Art beklagen [können], als wäre es eine Verstümmelung‘.“88

 

Gegen Anfang dieses ersten Kapitels wurde über die Ausrottung des Dodo berichtet und darüber, dass die christliche Lehre von der göttlichen Bestimmung der vernunftlosen Tiere zum Wohle des Menschen und zum Gebrauch durch ihn nicht unwesentlich dazu beigetragen hat. Am Ende des Kapitels erfahren wir, dass der amtierende Papst ein solches Aussterben einer Tierart in ökozentrisch anmutender Art und Weise als Verstümmelung der mit allen anderen Geschöpfen verbundenen Menschheit bezeichnet.

Eine „natürliche“ Beziehung zu Tieren?

Die eben dargelegten neueren päpstlichen und bischöflichen Lehraussagen über die Tiere betonen ganz offensichtlich den Eigenwert jedes Tieres und die ökologische Verbundenheit aller Wesen mit- und untereinander. Das ist ein nicht zu unterschätzender Wandel in der theologischen Schöpfungslehre, den es zu würdigen gilt. Die Frage, ob diese neuen theologischen Akzentsetzungen Verhaltensänderungen im täglichen Umgang mit Tieren zur Folge haben sollten und, falls ja, welche genau, wurde in den genannten kirchenamtlichen Dokumenten bestenfalls sehr allgemein beantwortet. Das konkrete Handeln der meisten Christen ist explizit oder implizit nach wie vor von der traditionellen theologischen Überzeugung geprägt, der Mensch sei die Krone der Schöpfung und die übrige Kreatur habe ihm bis zur Hingabe und Opferung des Lebens zu dienen. Wäre es anders, würden wissenschaftliche und medizinische Tierversuche in bischöflichen Hirtenbriefen als moralisches Problem benannt und ihre sittliche Qualität sowie ihre wissenschaftliche Relevanz in Frage gestellt. Wäre es anders, würde es in Spanien zumindest einen Bischof geben, der sich gegen das grausame, religiös verbrämte Ritual der Stierkämpfe stellt. Wäre es anders, würden Bischöfe, Pfarrer und fromme Kirchgänger nicht der Jagd als Hobby nachgehen. Wäre es anders, würden sich auch viel mehr Christen vegetarisch oder vegan ernähren.

Kurz nach seiner Ernennung zum Bischof der österreichischen Diözese Graz-Seckau im April 2015 wurde Wilhelm Krautwaschl von der lokalen Kirchenzeitung gefragt, ob er Tiere möge. „Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen“, antwortete der neue Bischof, „da bekommt man eine sehr gute und natürliche Beziehung zu den Tieren.“ Gut und schön. Worin aber zeigt sich für Krautwaschl diese gute und natürliche Beziehung zu Tieren? Seine verblüffende Antwort lautet: „Meine wichtigste Aufgabe war das ,Sauschwanzerl-Halten‘ [Halten des Schweineschwanzes] beim Schlachten.“89

Wilhelm Krautwaschl ist ein frommer und freundlicher, offener und auf die Menschen zugehender Bischof. Er ist, wie er selbst bekennt, in kleinbäuerlichen Verhältnissen aufgewachsen und durch sie stark geprägt. Es ist dies ein Kontext, in dem das Schlachten von Tieren selbstverständlich ist, so selbstverständlich jedenfalls, dass Krautwaschl eine Schlachtszene als Musterbeispiel für eine vorbildliche, natürliche Mensch-Tier-Beziehung in den Sinn kommt. Dieser idyllisch verklärte, kleinbäuerlich-agrarisch geprägte Blick auf so genannte Nutztiere, die man zwar kennt und die Namen haben, deren Lebenszweck und -sinn aber dennoch ausschließlich darin besteht, dem Menschen zu dienen und für den Menschen geschlachtet zu werden, bestimmt noch heute die Einstellung und das Essverhalten des überwältigenden Teils der Christen. Die Tatsachen, dass die Bauernhöfe der Vergangenheit weder für Mensch noch für Tier eine Idylle darstellten, und dass die kleinbäuerliche Landwirtschaft sukzessive durch agroindustrielle Tierfabriken abgelöst wurde und diese Entwicklung noch weitergeht, wird ausgeblendet. Wie sonst wäre es zu erklären, dass fast alle Theologen, Pfarrer und Bischöfe und, soweit ich weiß, auch der Papst selbst, mehr oder weniger unbekümmerte Omnivoren, also Alles(fr)esser sind, die auch Tiere bedenkenlos verspeisen? Mag sein, dass der eine oder die andere dieser Christen zumindest gelegentlich darauf achtet, dass Fleisch, vielleicht auch noch Milch und Eier, die er oder sie konsumiert, aus artgerechter Tierhaltung stammen, aber das ist eine verschwindende Minderheit. Die große Mehrheit aller Christen, der Katholiken wie der Protestanten, der Anglikaner wie der Orthodoxen, hat – zumindest was ihr tatsächliches Verhalten betrifft – keine Probleme damit, sogenannte Nutztiere auf engem Raum einsperren, in kurzer Zeit mästen und im Kindesalter unter hohem Stress am laufenden Band schlachten zu lassen. Dies scheint den meisten Christen der angemessene und unhinterfragte Preis zu sein, den sogenannte Nutztiere eben zahlen müssen, damit die Menschen ihren Geschmackskonservatismus und ihre davon bestimmten kulinarischen Vorlieben aufrecht erhalten können. Wenn aber, wie Papst Franziskus in Laudato Sí so eindrucksvoll formuliert, die Desertifikation des Bodens jeden einzelnen Menschen wie eine Krankheit betrifft und das Aussterben einer Art wie eine Verstümmelung, warum gilt Gleiches nicht auch für die Intensiv- und Massentierhaltung in Tierfabriken, die fühlenden Wesen massive Einschränkungen und Schmerzen zufügt und zudem maßgeblich zur Desertifikation der Böden beiträgt?90 Ist die traditionelle christliche Tierethik nicht durch tiefgreifende Ambivalenzen und Widersprüche gekennzeichnet? Werden diese Ambivalenzen und Widersprüche in den Kirchen überhaupt als solche wahrgenommen? Ist die Macht kollektiver Gewohnheiten so stark, dass selbst neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse über Tiere, menschliches Mitgefühl und eine franziskanische Schöpfungsspiritualität sie nicht brechen können? Stimmt der Vorwurf von Kirchenkritikern, das christliche Verhältnis zu den Tieren sei im Innersten nach wie vor von einem arroganten Anthropozentrismus geprägt, vielleicht doch? Hier soll zunächst nur so viel gesagt werden: Christen verhalten sich gegenüber Tieren unter anderem deshalb ambivalent und widersprüchlich, weil diese Ambivalenz und Widersprüchlichkeit fast die gesamte christliche Ethik durchzieht. Sie ist in den Schriften der Bibel grundgelegt.

II. Die Bibel: Gottes Lizenz zum Töten von Tieren?

In seinem geistreichen kurzen Roman Das Leben der Tiere erzählt der südafrikanische Literaturnobelpreisträger John M. Coetzee von der Schriftstellerin Elizabeth Costello. Frau Costello erhielt vom Appleton College, einer angesehenen Hochschule in einer amerikanischen Kleinstadt, die Einladung, die prestigeträchtigen Gates-Gastvorträge zu halten. Diese Vorlesungen werden vom College jedes Jahr einer anderen prominenten Person übertragen. Zum Thema ihrer Vorlesungen am Appleton College, wo ihr Sohn John Assistenzprofessor für Physik und Astronomie ist, hat Costello nicht ihr eigenes Leben oder ihre Romane gewählt, sondern ein Problem, das sie persönlich seit längerem sehr beschäftigt, nämlich die Beziehung zwischen Menschen und Tieren, vor allem die menschliche Grausamkeit gegenüber Tieren. „Wenn ich zu Ihnen über Tiere spreche“, erklärt Costello in ihrem ersten Vortrag, „will ich Sie mit der Schilderung der Schrecken ihres Lebens und Sterbens verschonen. Obschon ich keinen Grund zu der Annahme habe, dass Ihnen deutlich vor Augen steht, was Tieren in diesem Augenblick überall auf der Welt angetan wird – in Produktionsstätten (ich zögere, sie noch Bauernhöfe zu nennen), in Schlachthöfen, auf Fischtrawlern, in Versuchslabors. […] Ich möchte Sie nur darauf hinweisen, dass diese Schrecken, die ich hier ausspare, trotzdem im Mittelpunkt dieser Vorlesung stehen.“91

Nach dieser ersten Vorlesung findet ein feierliches Abendessen zu Ehren von Frau Costello statt, zu dem Professor Garrard, der Rektor des College, eingeladen hat. In der Tischkonversation kommt Garrard auf religiöse Speisevorschriften zu sprechen. Er regt damit eine lebhafte Diskussion über reine und unreine Nahrungsmittel an, über Schlachtvorschriften und über Sühnerituale, mit denen man schon in der Antike den Segen Gottes für das Schlachten und Essen von Tieren erbeten hat. „Vielleicht ist das der Ursprung der Götter“, wirft Costello ein. „Vielleicht haben wir die Götter erfunden, damit wir sie verantwortlich machen können. Sie haben uns erlaubt, Fleisch zu essen. … Es ist nicht unsere Schuld, es ist die ihre. Wir sind nur ihre Kinder.“ „Und das glauben Sie?“, fragt die Frau des Rektors vorsichtig. Frau Costello antwortet mit einem Bibelzitat: „Und Gott sprach: Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise.“ Und sie fügt hinzu: „Das ist bequem. Gott hat uns gesagt, dass es in Ordnung ist.“92

In diesem Kapitel werde ich mich mit Frau Costellos folgenschwerem Verdacht auseinandersetzen, Gott sei nichts Anderes als eine menschliche Projektion, die dazu diene, das Töten und Essen von Tieren zu gestatten und damit die Menschen aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Dabei steht hier nicht die metaphysische Frage nach der Existenz Gottes im Mittelpunkt, sondern die metaethische und theologische Frage, ob eine bestimmte, in einem konkreten historischen Kontext entstandene Bibelstelle legitimerweise als unangreifbare ethische Norm und als autoritativer, für alle Zeiten gültiger Ausdruck des Willens Gottes verstanden werden darf. Anders ausgedrückt: Hat Elisabeth Costello recht, wenn sie den Christen vorwirft, daran zu glauben, dass die Herrschaft des Menschen über die Tiere dieser Erde und damit auch das Recht, sie zu töten und zu essen, als göttliches Wort und göttlicher Wille unverrückbar für alle Zeiten in der Bibel festgeschrieben sind? Und hat sie recht, dass sich nach christlicher Überzeugung deshalb jede weitere ethische Diskussion darüber erübrige, ob der Mensch Tiere töten und essen dürfe?

Die kulinarische Praxis des überwiegenden Teils der Christen gibt Frau Costello recht: Bis auf wenige Ausnahmen wird Fleisch in christlichen Familien ebenso wie in Ausbildungsstätten des christlichen Klerus, in katholischen Bildungshäusern wie in evangelischen Akademien, im Vatikan wie im Bible Belt als selbstverständlicher und fester Bestandteil des Speiseplanes gesehen. Fleisch ist eine Gabe Gottes, für die man Gott im Tischgebet dankt: „Herr, segne uns und diese Gaben, die wir von Deiner Güte empfangen haben, durch Christus, unseren Herrn. Amen.“93 Und wenn es einmal kein Fleisch gibt, dann eben meist Fisch. Fische sind Kaltblüter, atmen unter Wasser, säugen keine Jungen und gelten traditionell als Fastenspeise. Aber Fische besitzen ebenso wie Säugetiere und Vögel Intelligenz und individuelle Charaktereigenschaften, sie benutzen Werkzeuge und empfinden Schmerzen.94

Die Auseinandersetzung mit Elizabeth Costello ist nur sinnvoll, wenn man ihr zentrales Argument, dass Christen sich auf Gottes Erlaubnis berufen bzw. ausreden würden, wenn sie Tiere essen, ernst nimmt. Das wird hier getan. Dieses Kapitel ist deshalb ein ehrlicher Versuch, sich Costellos kritischer Interpretation grundlegender theologischer Konzepte wie des Willens Gottes oder des Wortes Gottes zu stellen. Immerhin haben beide Konzepte dazu gedient und dienen weiterhin dazu, die Unterwerfung der Tiere unter die Vorherrschaft des Menschen sowie das Recht des Menschen, Tiere zu nutzen und zu töten, göttlich zu legitimieren.

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