Die Würde des Tieres ist unantastbar

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Primatt und Bentham

Zwei Jahrhunderte bevor der Dodo ausstarb, hatten die europäischen Eroberer der so genannten Neuen Welt begonnen, die indigene Bevölkerung Nordamerikas auszurotten. Wie der Historiker Howard Zinn darlegt, flohen die amerikanischen Indianer nicht, als sie Christoph Kolumbus und seinen Männern das erste Mal begegneten, sondern verhielten sich lange Zeit äußerst gastfreundlich. Kolumbus selbst beschrieb das Zusammentreffen wie folgt: „Die Indianer sind so naiv und so freigebig, das niemand es glauben würde, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Wenn man sie um etwas bittet, das ihnen gehört, sagen sie niemals nein. Ganz im Gegenteil, sie sind bereit, mit allen zu teilen.“38 Doch diese Freundlichkeit der indigenen Bevölkerung wurde von den europäischen Eroberern mit Geringschätzung und Verachtung beantwortet, mit Völkermord, nicht mit Völkerverständigung. Die amerikanischen Indianer wurden gefangen genommen, gequält, versklavt und niedergemetzelt.

Im Jahre 1776 verabschiedete der Zweite Kontinentalkongress der dreizehn britischen Kolonien in Nordamerika die Unabhängigkeitserklärung und proklamierte damit die Loslösung des neugegründeten Staatenbundes von Großbritannien. In der Unabhängigkeitserklärung wird festgehalten, dass alle Menschen gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit angeborenen, unveräußerlichen Rechten auf Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück ausgestattet seien.39

Im selben Jahr, in dem die Unabhängigkeitserklärung verabschiedet wurde, veröffentlichte Dr. Humphry Primatt, ein anglikanischer Geistlicher im Ruhestand, eine Abhandlung mit dem Titel Die Pflicht der Barmherzigkeit und die Sünde der Grausamkeit gegenüber Tieren40. Primatt tritt darin zunächst für die Gleichheit von Menschen verschiedener Hautfarbe ein und stellt fest: „Es hat Gott, dem Vater aller Menschen, gefallen, manche Menschen in weiße Haut einzuhüllen und andere in schwarze Haut. Auch wenn unmenschliche Traditionen und Vorurteile anderes vermuten lassen, so hat ein Mensch mit weißer Hautfarbe aufgrund dieser Hautfarbe trotzdem nicht das Recht, einen Menschen mit schwarzer Hautfarbe zu unterdrücken oder zu versklaven, denn die Hautfarbe ist weder ein Verdienst noch ein Mangel. Ein hellhäutiger Mensch hat auch kein Recht, einen dunkelhäutigen Menschen zu verachten, zu missbrauchen und zu beleidigen. Ich glaube auch nicht, dass ein großgewachsener Mensch aufgrund seiner Gestalt ein gesetzliches Recht hat, auf einem kleinwüchsigen Menschen herum zu trampeln.“41

Primatt geht noch einen Schritt weiter, wendet die Argumente für Gleichheit und Gerechtigkeit unter Menschen auch auf die Beziehung der Menschen zu den Tieren an und weitet damit den Kreis der Lebewesen, denen ein moralischer Status zuerkannt wird, noch einmal aus.42 Er schreibt: „Wenn also menschliche Unterschiede in Intelligenz, Hautfarbe, Gestalt und Schicksal keinem Menschen das Recht geben, einen anderen Menschen aufgrund dieser Unterschiede zu missbrauchen oder zu beleidigen, hat auch kein Mensch ein naturgegebenes Recht, ein Tier zu missbrauchen oder zu quälen, nur weil es weniger intelligent ist als ein Mensch.“43

Einer der Hauptgründe, warum Menschen Tiere respektvoll zu behandeln haben, liegt für Reverend Primatt in ihrer Empfindungsfähigkeit. Der anglikanische Geistliche stellt fest: „Ein Tier ist nicht weniger schmerzempfindlich als ein Mensch. Es hat ähnliche Nerven und Sinnesorgane. Auch wenn es sich nicht verbal oder in einer Menschenstimme beschweren kann, so zeigen uns die Schreie und das Stöhnen, die es von sich gibt, wenn ihm körperliche Gewalt angetan wird, dennoch ganz klar, dass es schmerzempfindlich ist, ähnlich wie es die Schreie und das Stöhnen eines Menschen tun, dessen Sprache wir nicht verstehen.“44

Kurze Zeit später, im Jahre 1789, hat der englische Philosoph Jeremy Bentham in einer Fußnote seiner Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung fast das Gleiche gesagt: Nach Bentham lautet nämlich die entscheidende Frage, die das menschliche Verhalten gegenüber Tieren bestimmen soll, weder „Können sie [die Tiere] logisch denken?“ noch „Können sie sprechen?“, sondern einzig und allein „Können sie leiden?“45

Benthams Diktum hat den Status eines klassischen tierethischen Argumentes erlangt. Der Schweizer Philosoph und Tierethiker Jean-Claude Wolf bezeichnet Bentham sogar als einen der „philosophischen Hausgötter des modernen Tierschutzes“46. Der anglikanische Geistliche Humphry Primatt dagegen, der schon dreizehn Jahre vor Bentham klar darauf hingewiesen hatte, dass es ein Unrecht ist, Tiere zu quälen und zu missbrauchen, ist zumindest im deutschen Sprachraum weitgehend unbekannt geblieben.

Zeitgenössische tierethische Ansätze

Die 1776 verabschiedete Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika proklamierte die angeborene Gleichheit aller Menschen und ihre angeborenen, unveräußerlichen Rechten auf Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück. In der Realität standen diese Rechte lange Zeit nur weißen männlichen Grundbesitzern zu. Die rechtliche Gleichheit zwischen Mann und Frau, weißen und schwarzen sowie armen und reichen Amerikanern wurde erst durch einen blutigen Bürgerkrieg, den Kampf der Suffragetten um ein allgemeines Frauenwahlrecht, die direkten Aktionen der Bürgerrechtsbewegung und durch eine unter Präsident Lyndon B. Johnson in den Jahren 1964 und 1965 durchgesetzte umfangreiche Sozialgesetzgebung erreicht. Und nach wie vor gibt es in den USA beträchtliche faktische Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, Arm und Reich, Afroamerikanern und Weißen.

Die ebenfalls 1776 veröffentlichte Abhandlung Humphry Primatts über die Pflicht der Barmherzigkeit gegenüber Tieren weitete den Kreis der moralischen Objekte über Menschen jedweder Hautfarbe, jedweden Geschlechts und jedweden Einkommens hinaus auf empfindungsfähige Tiere aus. Weil viele Tiere ebenso wie Menschen Schmerzen empfinden können, ist es nach Primatt eine Pflicht, sich ihnen gegenüber barmherzig zu verhalten und eine Sünde, sie grausam zu behandeln. Primatts Werk war noch wesentlich länger kein sichtbarer Erfolg beschieden als der Unabhängigkeitserklärung. Auch wenn nach Primatt (und Bentham) immer wieder einzelne tierethisch orientierte Ethiken auftauchten, so etwa Arthur Schopenhauers Mitleidsethik47 und Henry S. Salts Abhandlungen über Tierrechte und Vegetarismus48, so hat es doch zwei Jahrhunderte gedauert, bis die Argumente von Primatt (und Bentham) in der philosophischen und theologischen Ethik auf breiterer Basis zur Kenntnis und nach und nach auch ernst genommen wurden.

Tierethik ist jener Bereich der Angewandten Ethik, in dem vernünftig begründete normative Aussagen darüber gemacht werden, wie wir Menschen uns gegenüber Tieren verhalten sollen. Eine zeitgemäße tierethische Perspektive bedingt, dass man sich von einer rein anthropozentrischen, also ausschließlich auf den Menschen und seine Bedürfnisse ausgerichteten Ethik verabschiedet. Man wendet sich einem Ethikkonzept zu, das auch die nichtmenschliche Natur berücksichtigt, und zwar die nichtmenschliche Natur im Allgemeinen, Tiere als (in vielen Fällen zweifellos) empfindungsfähige, Lust und Schmerz, Freude und Leid verspürende Wesen im Besonderen.

Als Pioniere der in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstandenen neueren akademischen Tierethik sind vor allem die Philosophen Peter Singer, Tom Regan, Stephen R. L. Clark, der Philosoph und Psychologe Richard D. Ryder und der anglikanische Theologe und Geistliche Andrew Linzey zu nennen. Sie alle gehörten zur so genannten Oxford Group, einer Gruppe von Wissenschaftlern und anderen Intellektuellen, die Anfang der 1970er Jahre in der berühmten englischen Universitätsstadt forschten und lehrten und „die die Initialzündung für das moderne Interesse am moralischen Status der Tiere darstellten.“49 Richard Ryder weist jedoch darauf hin, dass die Schriftstellerin Brigid Brophy die erste war, die mit ihrem Beitrag The Rights of Animals in der Sunday Times vom 10. Oktober 1965 das lange Schweigen über dieses Thema in der britischen Öffentlichkeit brach.

Im Folgenden werden die wichtigsten post-anthropozentrischen Ethiken, ihre Grundgedanken, ihre Übereinstimmungen und Unterschiede kurz dargestellt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sowohl den strengen traditionellen als auch den revidierten gemäßigten Anthropozentrismus zurückweisen, auch wenn sie mit bestimmten Ausprägungen des letzteren manche Anliegen teilen, z. B. die Abschaffung der industriellen Massen- und Intensivtierhaltung.

In der zeitgenössischen Tierethik gibt es unterschiedliche Ansätze oder Positionen. Alle sind darum bemüht, Tiere als empfindungsfähige Lebewesen ethisch aufzuwerten, unterschiedlich sind die dafür verwendeten philosophischen Argumente oder Begründungsstrategien. Als grundlegende tierethische Theorien50 sind zu nennen: der utilitaristische Ansatz, die Theorie der Tierrechte, die feministisch inspirierte Care-Ethik (englisch ethics of care) und die Theorie der Großzügigkeit (englisch generosity theory).

Der utilitaristische Ansatz der Tierethik geht zurück auf den bereits erwähnten Philosophen Jeremy Bentham. Seine utilitaristische Ethik verlangt von den Menschen, so zu handeln, dass sie Glück und Nutzen, Lust und Freude vermehren, Unglück und Schaden, Unlust und Schmerz verringern, und zwar sowohl für Menschen als auch für Tiere. Die Tierethik von Peter Singer51, dessen Eltern Wiener Juden waren, die in der Zeit des Nationalsozialismus nach Australien emigrierten und der seit 1999 an der US-amerikanischen Princeton University lehrt, ist maßgeblich von Bentham beeinflusst. Allerdings stehen in Singers Präferenzutilitarismus nicht Lust und Unlust im Vordergrund, sondern die Interessen von Menschen und Tieren. Dabei geht es ihm nicht einfach um die größte Gesamtsumme befriedigter Interessen, sondern auch um deren Gewichtung: Das Interesse eines Menschen, aus geschmacklichen Gründen lieber ein Tier zu essen als Hülsenfrüchte, steht nach Singer hinter dem Interesse des Tieres zurück, nicht gequält und getötet zu werden.52

 

Menschliche Interessen von vornherein über tierische zu stellen, ist nach Singer „speziesistisch“. Mit dem Begriff des „Speziesismus“, der auf den britischen Philosophen und Psychologen Richard Ryder53 zurückgeht, wird eine ethische Auffassung bezeichnet, die die Interessen der Mitglieder der eigenen Spezies generell höher bewertet als die Interessen der Mitglieder einer anderen Spezies. Das ist bei der traditionellen Überordnung der Menschen über die nichtmenschlichen Tiere der Fall. Nach Ryder und Singer besteht eine große Ähnlichkeit zwischen Rassismus, der bestimmte Menschen wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert, Sexismus, der bestimmte Menschen wegen ihrer Geschlechtszugehörigkeit benachteiligt, und Speziesismus, der bestimmte Lebewesen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer nichtmenschlichen Spezies zurücksetzt. In einem Interview stellte Peter Singer fest: „Wir sind … immer noch so blind – wie es die Rassisten gewesen sind – gegenüber Milliarden anderen empfindungsfähigen Wesen, die leiden können und die ein Bewusstsein haben.“54 Es gebe eine Parallele zwischen der Art und Weise, wie wir Tiere behandeln und wie Rassisten Menschen behandeln, die der ,falschen‘ Rasse angehören. Singer zufolge sollten wir den Kreis derjenigen, die ethisch zählen, über die Menschen hinaus ausweiten. Nach Singer haben alle empfindungsfähigen Wesen, egal ob Mensch oder Tier, einen grundsätzlich gleichen Anspruch, die Berücksichtigung ihrer Interessen einzufordern. Als Utilitarist geht es Singer um die Abwägung konkurrierender Interessen, nicht um moralische und legale Rechte.

Im Gegensatz dazu betrachtet die tierrechtliche Position (Tom Regan55, Gary Francione56) bestimmte Tiere – nach Regan geht es dabei um geistig normal entwickelte Säugetiere, die ein Jahr oder älter sind – als empfindende „Subjekte-eines-Lebens“ („subjects-of-a-life“) und moralische Objekte („moral patients“), die Berücksichtigung verdienen und mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Dem tierrechtlichen Ansatz zufolge haben diese Tiere einen Rechtsanspruch darauf, mit Rücksicht behandelt und nicht getötet zu werden. Das kanadische Forscherehepaar Sue Donaldson und Will Kymlicka57 fordert sogar, Kumpantiere (Haustiere) und andere domestizierte Tiere als volle Mitglieder unserer Gesellschaft anzusehen und ihnen Bürgerrechte zu gewähren.

Bei der feministischen Care-Ethik und der Ethik der Großzügigkeit stehen nicht Theorien der Güterabwägung und Rechtsnormen im Vordergrund, sondern die persönliche Beziehung zu jedem einzelnen Tier und seinem Schicksal. Wesentlich für die Care-Ethik sind Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Fürsorge. Einige Vertreterinnen der tierethischen Care-Ethik, z. B. Carol Adams58 und Marti Kheel59, stellen eine Verbindung her zwischen der Unterdrückung von Frauen und der Unterdrückung von Tieren durch das Patriarchat.

Die Ethik der Großzügigkeit geht von einer großen Ähnlichkeit zwischen dem Status der Tiere und dem Status der Kinder aus. Beide, Kinder und Tiere, seien nicht oder nur begrenzt zustimmungs- und ablehnungsfähig, beide könnten ihre Interessen nicht verbal formulieren, beide seien schuldunfähig, verwundbar und weitgehend wehr- und machtlos. Deshalb sollten sie nicht bloß den gleichen Anspruch auf die Hilfe Erwachsener haben wie andere Gruppen, sondern einen größeren und besonderen. Hauptvertreter ist der anglikanische Priester und Theologe Andrew Linzey60, der auch das Oxford Centre for Animal Ethics leitet. Linzeys Tierethik, die die Gemeinsamkeiten von Tieren und Kindern betont, stellt in diesem Punkt eine bewusste Gegenposition zum tierethischen Ansatz von Peter Singer dar, dessen Aufwertung von Tieren mit Ich-Bewusstsein mit einer Abwertung von menschlichen Babys ohne Ich-Bewusstsein einhergeht.61 Großzügigkeit hat in Linzeys Verständnis zudem nichts mit Gönnerhaftigkeit oder Paternalismus zu tun, sondern ist als solidarische Haltung zu verstehen, die Gerechtigkeit, Menschenpflichten und Tierrechte mit einschließt und das Töten von Tieren nur in wenigen Ausnahmefällen für ethisch vertretbar hält: „Zu töten ohne dass strenge Bedingungen dafür vorliegen, bedeutet, ein Leben mit mangelnder Großzügigkeit zu leben.“62

Aus jüngerer Zeit sind z. B. noch die Übernahme tierethischer Perspektiven in die Tugendethik durch die neuseeländische Ethikerin Rosalind Hursthouse63 zu erwähnen sowie die Ausweitung von John Rawls Vertragstheorie der Gerechtigkeit durch Martha Nussbaum64 und Mark Rowlands65. Den beiden letztgenannten geht es darum, auch nichtmenschliche Spezies in die bisher auf Menschen beschränkte Gerechtigkeitskonzeption des Harvard-Philosophen John Rawls einzubeziehen.

Primaten, Krabben, Insekten

Was der Theologe Primatt und der Philosoph Bentham vor über 200 Jahren über Tiere festgestellt haben, wird durch die heutige kognitive Ethologie (Verhaltensbiologie) und die Neurowissenschaft empirisch bestätigt. Eine große Anzahl von Tieren ist empfindungsfähig (englisch: sentient), kann (körperlichen) Schmerz empfinden, einige davon auch (emotionales, seelisches) Leid66, und natürlich auch deren Gegenteil, nämlich Lust und Freude67: Das gilt für Wirbeltiere wie Säugetiere, Vögel, Amphibien, Reptilien, Fische, aber sogar für einige Wirbellose, Kraken und Tintenfische zum Beispiel und – wie die Forschungsarbeiten des Belfaster Zoologen Bob Elwood68 nahelegen – auch für Krebse und Krabben. Unklar ist, ob zum Beispiel Insekten69 Schmerzen fühlen können. Das Fehlen eines sogenannten nozizeptiven Systems, das auf gewebeschädigende Reize reagiert, spricht nach Meinung mancher Forscher eher dagegen. Andere Wissenschaftler meinen jedoch, Insekten könnten zumindest über einige nozizeptiven Nervenfasern verfügen, die Schmerzempfindungen weiterleiten. Es spricht aus ethischer Sicht einiges dafür, in einem Zweifelsfall wie diesem die vorsichtigere Wahl zu treffen – die moraltheologische Tradition bezeichnet dies als Tutiorismus – und deshalb zu Gunsten der Insekten zu entscheiden.

Zahlreiche Tiere haben Bewusstsein, einige (Primaten, Elefanten, Delfine, Schweine, Elstern) nachgewiesenermaßen (Spiegeltest) sogar Ich-Bewusstsein. Einige von ihnen sind fähig, moralische Regeln zu befolgen („wilde Gerechtigkeit“70). Die Frage, ob und in welchem Sinn Tiere moralisch handeln können, wird gegenwärtig kontrovers diskutiert, wobei mir hier die „mittlere“ Position des Philosophen Mark Rowlands am angemessensten erscheint: Rowlands nimmt an, dass verschieden Tiere zumindest manchmal moralische Motive hätten, um etwas zu tun, was aber nicht heiße, dass sie für ihr Tun moralisch verantwortlich sind. Rowlands spricht in diesem Zusammenhang von „moral subjecthood“71 im Unterschied zu „moral agency“.

Wie aber halten es die Tiere mit der Religion? Der Katechismus der Katholischen Kirche72 erklärt, dass Tiere allein schon durch ihr Dasein Gott preisen und verherrlichen. Aber es gibt offenbar noch explizitere Formen der Religionsausübung bei manchen Tieren. Die renommierte Primatologin Jane Goodall hat nämlich entdeckt, dass Schimpansen Werkzeuge benutzen und Werkzeuge herstellen, dass sie nicht nur brutal Krieg gegeneinander führen, sondern auch altruistisch füreinander sorgen. Sie beobachtete bei Schimpansen, die sich bei einem gigantischen Wasserfall aufhielten, zudem (proto-)religiöse Verhaltensweisen: eine große Ergriffenheit und eine tiefe Ehrfurcht vor dem Naturphänomen des herabstürzenden Wassers, die sich in rhythmischen Tänzen, aber auch in einem achtsamen Staunen manifestierten.73

Wie Charles Darwin ist Goodall davon überzeugt, dass die Unterschiede zwischen Menschen und Tieren keine grundsätzlichen seien, sondern graduelle.74 Aus ihrer umfangreichen Forschungstätigkeit zieht Goodall folgendes Resümee: „Wenn ich auf diese fünfzig Jahre zurückblicke, wird sehr klar, dass wir Menschen nicht die einzigen Lebewesen mit Persönlichkeit, Verstand und Gefühlen sind und dass es keine scharfe Trennungslinie zwischen uns und dem restlichen Tierreich gibt.“75 Im Rahmen des Great Ape Project fordert Jane Goodall deshalb auch, bestimmte Grundrechte für Primaten als höchstentwickelten Tieren staatlicherseits anzuerkennen. Geschehe dies, wäre es gesetzlich verboten, Schimpansen und Bonobos, Gorillas und Orang-Utans zu töten, einzusperren oder für wissenschaftliche und medizinische Versuche zu verwenden. Eine zeitgemäße philosophische, aber auch eine zeitgemäße theologische Tierethik haben diese Tatsachen über die erstaunlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten von Tieren und über die vielen Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier zur Kenntnis zu nehmen und in ihren ethischen Werturteilen zu beachten.

Es gibt offenbar bei Tieren und Menschen eine, wie Martin Balluch das nennt, „Kontinuität von Bewusstsein“76. Das bedeutet allerdings nicht, dass es keine Unterschiede zwischen Menschen und Tieren, Menschen und Menschenaffen gebe: Goodall verweist nämlich auf die geistigen Anlagen und die intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten des Menschen, die selbst bei einem durchschnittlich intelligenten Menschen wesentlich höher seien als selbst beim klügsten Schimpansen. Theologisch wird häufig die dem Menschen von Gott gegebene Seele als Merkmal genannt, die den Menschen vom Tier unterscheide. Die komplexe Frage nach einer Seele bei Mensch und Tier wird im Kapitel 3 ausführlicher behandelt werden. Hier sei nur erwähnt, dass es irreführend und problematisch ist, wenn man versucht, die menschliche Seele dafür zu verwenden, die natürlichen Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier übernatürlich zunichte zu machen und erneut einen tiefen theologischen Graben zwischen Mensch und Tier auszuheben. Ein Beispiel dafür ist der Salzburger Weihbischof und katholische Moraltheologe Andreas Laun, der behauptet: „Keine Gemeinsamkeit und keine Ähnlichkeit im Bereich des Leibes können diesen ,Graben‘ zwischen Mensch und Tier sozusagen zuschütten. Der Menschen ähnlichste Menschenaffe ist, genau genommen, ähnlicher der Kaulquappe oder einer Amöbe als dem Menschen – trotz allen Respekts, den wir besonders den höheren Tieren schulden.“77