Die Würde des Tieres ist unantastbar

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1. Auslöschung. Über das Ende des Dodo und anderer Tierarten
„Dead as a Dodo“

Dodos, auch Dronten genannt, waren truthahngroße, bis zu zwanzig Kilogramm schwere Vögel, die zur Familie der Tauben gehörten. Sie waren höchstwahrscheinlich auf Mauritius im Indischen Ozean endemisch, das heißt sie kamen nirgendwo sonst vor als dort. Der flugunfähige Dodo wurde innerhalb von acht bis neun Jahrzehnten von niederländischen Seeleuten, die Ende des 16. Jahrhundert auf der Insel landeten, ausgerottet. Dead as a Dodo ist eine englische Redewendung, für die wir im Deutschen die Übersetzung mausetot verwenden, was ziemlich inadäquat ist, weil Mäuse ja gar nicht mausetot sind. Im Gegensatz zum Dodo, der ausgerottet wurde, sind die meisten Mäusearten weit verbreitet und nicht gefährdet. Was viele nicht wissen: Die „Maus“15 in der Wortzusammensetzung „mausetot“ kommt vom niederdeutschen Wort „mūs“, was „ganz“ bedeutet. „Mūsdōd“ heißt demnach einfach „ganz tot“.

Auf der Website des zur berühmten englischen Universität gehörenden Naturgeschichtemuseum in Oxford (Oxford University Museum of Natural History) wird der Dodo als „Symbol der Ausrottung und des unwiederbringlich Verlorenen“16 bezeichnet. Vor knapp zwei Jahrzehnten hat der „Dodo von Oxford“ mein Interesse für diese ausgestorbene Vogelart und die mit ihrem Schicksal verbundenen Fragen geweckt. Das Museum bewahrt nämlich zwei der bedeutendsten Relikte des verschwundenen Dodo-Vogels auf: einen mumifizierten Kopf, der als einziger Dodo-Überrest noch Weichteilgewebe vorzuweisen hat, und ein Bein. Das Naturhistorische Museum in Wien17 besitzt sowohl ein vollständiges Dodoskelett, das vermutlich aus den Resten mehrerer Vögel zusammengesetzt wurde, als auch seit 2011 die modernste Rekonstruktion dieses ausgerotteten Vogels. Nach dem Schweizer Zoologen Vincent Ziswiler18 besitzen heute sieben Museen mehr oder weniger komplette Skelettrekonstruktionen des Dodo und 13 weitere vereinzeltes Knochenmaterial.

Dodos waren in der Regel nicht so fett und plump wie sie auf älteren Gemälden dargestellt werden. Diese Bilder zeigen nämlich nicht freilebende Dodos, sondern haben gefangene, kranke, in engen Käfigen eingepferchte Exemplare als Vorlage, die die niederländischen Seeleute auf ihren Schiffen nach Europa mitnahmen. Zweifellos aber waren Dodos flugunfähig und freundlich, zwei Eigenschaften, die ihnen nicht gerade nützlich waren, als im Jahre 1598 niederländische Seefahrer als erste menschliche Wesen auf Mauritius landeten. Die Vögel waren auf die Seeleute und auf die Ratten, Hunde und Schweine, die mit ihnen auf die Insel gelangten, nicht vorbereitet. In einem zeitgenössischen Bericht ist zu lesen: „Da die Insel nicht von Menschen bewohnt war, fürchteten sich die Vögel nicht vor uns und saßen still, sodass wir sie ohne Mühe totschlagen konnten.“19 Das taten die Menschen ohne zu zögern und mit großer Intensität. Reiner Spaß und bloßes Vergnügen, die leutseligen Tiere umzubringen, spielten dabei zweifellos eine Rolle, der Nahrungsaspekt, vor allem der Verzehr von Fleisch, nach dem die Matrosen nach der wochenlangen Seefahrt ein starkes Verlangen hatten, stand aber wohl im Vordergrund.

Nach dem US-amerikanischen Wildbiologen und Naturschutzexperten Stanley Temple von der University of Madison-Wisconsin spielten die Dodos im Ökosystem von Mauritius eine wichtige Rolle.20 Das Faktum, dass die Zahl der tropischen Calvaria- oder Tambalacoque-Bäume auf Mauritius im Laufe der Zeit drastisch zurückgegangen ist sowie seine profunde Kenntnis der Anatomie des Dodo bewogen Temple im Jahre 1977 zur Formulierung der Hypothese, dass zwischen der geringer werdenden Zahl der Bäume und dem Aussterben des Dodo ein Kausalzusammenhang bestehe. Zwischen Calvariabäumen und Dodos existierte nach Temple eine symbiotische Beziehung, die wie folgt ausgesehen hat: Dodos fraßen die Früchte des Baumes und damit auch deren Samen. Die von einer dicken harten Schale umgebenen Samen wurden im Verdauungstrakt der Dodos abgeschliffen oder sogar partiell aufgesprengt und damit auf die Keimung vorbereitet. Nach dem Ausscheiden war es für den Keimling nicht schwierig, die Schale zu durchstoßen. Zur Untermauerung seiner These fütterte Temple einigen Truthühnern Calvaria-Samen. Die ausgeschiedenen Kerne begannen tatsächlich zu keimen, nach Stanley Temple das erste Mal seit etwa dreihundert Jahren.

Vielleicht schon 1681 oder 1683, mit ziemlicher Sicherheit aber 1693 war der Dodo ausgestorben, für immer mausetot, „as dead as a dodo“. Der Mensch rottete in weniger als hundert Jahren ein zutiefst friedfertiges Lebewesen aus, das ihm nie den geringsten Schaden zugefügt hatte und das keinen anderen Anspruch an den Menschen stellte, als in Ruhe gelassen zu werden.

Der Dodo und sein Schicksal wurden zum Sinnbild für den rücksichtslosen Umgang des Menschen mit der Natur und für die sinn- und achtlose, mutwillige und rasante Auslöschung zahlreicher Tierarten. Zu den bekanntesten Artenverlusten allein in den letzten 350 Jahren gehören neben dem Dodo noch die Stellersche Seekuh, die im Jahre 1768, nur 27 Jahre nach ihrer Entdeckung auf den Kommandeurinseln im Fernen Osten Russlands ausgerottet wurde, und der Beutelwolf oder Tasmanische Tiger, dessen letztes Exemplar 1936 in einem Zoo nahe Hobart, der Hauptstadt der australischen Insel Tasmanien, starb. Des Weiteren zu nennen sind Säugetiere wie etwa der Falklandwolf (Falklandfuchs, 1876 ausgestorben) und das dem Zebra ähnliche Quagga (1883), Vögel wie Riesenalk (1844), Koafink (1896) und der Karolinasittich (Carolina-Papagei, 1918) und Reptilien wie der Rodrigues-Riesengecko (1842) und der Kawekaweau-Gecko (1870).21

Das sechste Artensterben

In der Geschichte der Erde gab es bisher fünf große Massensterben, die auf geologische Veränderungen und Naturkatastrophen zurückgingen.22 Bis zu 90 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten starben im Zuge dieser Ereignisse aus. Im Unterschied dazu ist das gegenwärtige sechste Massensterben, das seit dem 17. Jahrhundert im Gange ist, durch menschliches Handeln verursacht und geht weit über natürliche Aussterberaten hinaus: ein Verlust an Biodiversität durch Überfischung der Meere, gnadenloses Abschlachten von Landtieren, Umweltverschmutzung und anthropogenem (vom Menschen verursachten) Klimawandel. Menschen jagen unzählige Tiere und ganze Tierarten zu Tode, sie zerstören riesige (tierische) Lebensräume (Tropen- und Auwälder, Moore und Wiesen), schlachten gefährdete Tierarten aus finanzieller Gier ab oder aus Lust an kulinarischen Spezialitäten („Bushmeat“) und fragwürdigen medizinischen Traditionen (das Horn des Rhinozeros gilt als Heil- und Potenzmittel), beuten die Meere aus, vergiften Nahrungsmittel und betreiben eine Form von industrieller Viehzucht, die den Tieren eine artgerechtes Leben verwehrt, wertvolle Ressourcen verschwendet und den Klimawandel vorantreibt.

Wir wissen nicht genau, wie viele Tier- und Pflanzenarten es auf der Erde gibt. Wir können auch nicht präzise sagen, wie viele davon in jedem Jahr von dieser Erde verschwinden. Die meisten Experten sind der Ansicht, dass zwischen 0,01 und 0,1 Prozent aller Arten im Jahr ausstirbt. Je nachdem, wie hoch man die Zahl der Arten ansetzt, sterben demnach jedes Jahr zwischen 200 und 10.000 Tier- und Pflanzenarten aus. Auch wenn die Bandbreite der Schätzungen groß ist, machen diese deutlich, dass selbst bei der allerniedrigsten Annahme an mindestens jedem zweiten Tag eine Tier- oder Pflanzenart ausstirbt. Hier ein Beispiel jüngeren Datums zur Illustration: Im November 2015 ist im Zoo von San Diego ein Nördliches Breitmaulnashorn, das 41-jährige Weibchen Nola, gestorben.23 Jetzt leben nur noch drei Exemplare dieser Nashorn-Unterart in einem Reservat in Kenia, zwei Nashornkühe und ein Nashornbulle. Aufgrund ihres Alters und wegen Schwierigkeiten bei der Reproduktion ist eine Vermehrung auf natürlichem Wege sehr unwahrscheinlich.

Heutzutage ist Mauritius übrigens nach China der größte Exporteur von Affen, vor allem Langschwanzmakaken.24 In Versuchslabors in den USA und Europa, vor allem in Frankreich, Großbritannien und Deutschland, werden diese für invasive, das heißt mit dem Eindringen von medizinischen Geräten oder Apparaturen in den Körper des Tieres verbundene Tierversuche verwendet. Bei Giftigkeitsprüfungen von Substanzen werden zum Beispiel Chemikalien mit einem Schlauch in den Magen der Affen gepumpt. Für Hirnexperimente werden Elektroden über ein Bohrloch im Schädel in die Affengehirne eingeführt. Durch Flüssigkeitsentzug gefügig gemacht, müssen die Tiere mit angeschraubtem Kopf jeden Tag stundenlang Aufgaben an einem Bildschirm erfüllen. Anfang 2015 war das Max-Planck-Institut in Tübingen in die Schlagzeilen geraten, nachdem Undercover-Fotos aus einem Labor blutverschmierte Tiere mit Implantaten im Kopf zeigten.25

2. Ausschluss. Über den traditionellen moralischen Status der Tiere
Fragen der Tierethik

Blicken wir zunächst noch einmal auf den Dodo und auf das, was der Mensch ihm angetan hat. Die meisten heute lebenden Menschen sind zumindest intuitiv davon überzeugt, dass die Abschlachtung und Ausrottung dieses Vogels ein massives moralisches Übel darstellt. Für manche würde es zynisch klingen, wenn jemand die Frage stellte, warum dies eigentlich so sei. Ethisches Nachdenken jedoch bedingt, einer solchen Frage nicht auszuweichen. Darüber zu reflektieren, worin denn im Fall der Ausrottung des Dodo das konkrete moralische Unrecht besteht, kann die scheinbar selbstverständlichen Grundlagen und stillschweigend vorausgesetzten Annahmen aufdecken, die hinter tierethischen Überzeugungen stecken. Traditionell war die Tötung eines Tieres ausschließlich dann verboten, wenn es sich dabei um das Eigentum eines anderen handelte. Wer ein Tier, das einem Mitmenschen gehörte, mutwillig verletzte oder tötete, beging ein Eigentumsdelikt. Diese Begründung zählt beim Dodo nicht: Als die niederländischen Seeleute auf Mauritius landeten, gehörten die Dodos niemandem. Warum also sollte es dann ethisch falsch gewesen sein, sie zu töten? Auch diverse andere Fragen stellen sich: Beginnen die ethischen Probleme erst dann, wenn man erkannt hat, dass eine bestimmte Tierart komplett ausgerottet wurde? Oder vorzugsweise knapp davor, damit man noch etwas gegen das Aussterben tun kann? Bedarf nicht schon die Tötung jedes einzelnen Tieres einer hinreichenden Begründung, unabhängig davon, ob die Art, der es angehört, eines Tages ausstirbt oder nicht? Macht es einen Unterschied, ob ein Matrose einen Dodo aus Vergnügen und Übermut oder aus Ernährungszwecken tötet? Wäre die Tötung eines Dodo ethisch anders zu bewerten, wenn für die Matrosen die Möglichkeit bestanden hätte, sich auf Mauritius ohne das Essen von Tieren, also vegetarisch oder vegan, gut und gesund zu ernähren? Besteht diese Möglichkeit heute nicht für sehr viele Menschen, zumindest in den meisten wohlhabenden Ländern dieser Erde? Was folgt ethisch daraus?

 

Man könnte auch die Frage stellen, ob die Ausrottung der Dodos vor allem deshalb schlimm war, weil sie – zumindest nach Meinung einiger Forscher – das Ökosystem der Insel aus dem Gleichgewicht brachte, zur drastischen Reduzierung der Calvaria- oder Tambalacoque-Bäume führte und damit auch den Menschen, die zu diesem Zeitpunkt schon auf Mauritius lebten, Schaden zufügte. Wäre die Ausrottung der Dodos weniger bedenklich gewesen, würde der behauptete Zusammenhang zwischen totem Vogel und totem Baum gar nicht existieren, das heißt wenn für andere Lebewesen keine negativen Folgen eingetreten wären?

Tierethik zu betreiben beinhaltet, sich diesen und anderen Fragen zu stellen. An dieser Stelle können solche Fragen jedoch nur erwähnt werden, um die ethische Neugier zu wecken und zu ermutigen, sich eigene Gedanken zu machen. Ethisch verantwortliche und einsehbare Antworten werden sich nach und nach im Laufe der Lektüre dieses Buches erschließen. Das sind jedenfalls die Absicht dieses Buches und die Hoffnung, mit der es geschrieben wurde.

Vernünftige Philosophen, unvernünftige Tiere

Die Ausrottung des Dodo geschah aus menschlicher Unwissenheit und Fahrlässigkeit. Sie stellt aber auch eine Folge der bis in die Gegenwart verbreiteten Auffassung dar, der Mensch als Vernunftwesen sei die Krone der Schöpfung und alle Tiere stünden unter seiner Herrschaft.26 Der griechische Philosoph Aristoteles27 (384 – 322 v. Chr.) war davon überzeugt, dass die Pflanzen um der Tiere willen geschaffen wurden und die Tiere um der Menschen willen; die zahmen Tiere für die Arbeit und die menschliche Ernährung, die wilden Tiere zum größten Teil ebenso für die Ernährung oder auch für andere Dinge, die uns nützen, wie z. B. Kleidung. Aristoteles lehrte übrigens auch, dass Männer den Frauen übergeordnet seien, und manche Menschen aufgrund ihrer Körperkraft die Bestimmung hätten, Knechte oder Sklaven zu sein.

Aristoteles’ Auffassung über das Verhältnis von Menschen und Tieren wurde von den großen christlichen Theologen weitertradiert und durch die Berufung auf die Bibel abgesichert, allen voran von Thomas von Aquin (1225 – 1274), dem Doctor angelicus, dem engelgleichen Lehrer, wie einer seiner Ehrentitel lautete. Zwischen Doktor Thomas und dem lieben Vieh bestand ein weiter Graben, denn nach Thomas von Aquin ist nur der Mensch als göttliches Ebenbild geschaffen und mit Verstand ausgestattet worden. Die vernunftlosen Tiere dagegen würden ausschließlich zum Wohle des Menschen existieren und seien zum Gebrauch durch ihn bestimmt. Der Mensch habe zwar das Eigentumsrecht an Tieren zu respektieren, an sich allerdings bestünden keine Verpflichtungen eines Menschen gegenüber Tieren, sondern das umfassende Recht, sie zu töten und nach Belieben zu verwenden: „Aus der Göttlichen Vorsehung nämlich werden sie [die Tiere] durch die natürliche Ordnung zum Gebrauch des Menschen geordnet, weswegen der Mensch sie ohne Unrecht gebraucht, sei es, indem er sie tötet, sei es auf irgendeine andere Weise.“28

Die sich im 17. Jahrhundert anbahnende Aufklärung brachte keinen tierethischen Fortschritt, ganz im Gegenteil. Der einflussreiche französische Philosoph René Descartes29 (1596 – 1650) beschrieb die Tiere als Maschinen oder Automaten ohne Gefühle des Schmerzes und Wohlbefindens, als Geschöpfe ohne Vernunft und ohne Seele. Descartes und seine Anhänger hatten von Anfang an keine Probleme, brutale Tierversuche zu rechtfertigen. „Wissenschaftlich interessierte Cartesianer konnten … lebende Hunde an Bretter nageln, aufschneiden und davon überzeugt sein, dass sie ihnen keine Schmerzen zufügen und dass die Laute, die die Objekte ihrer Forschung von sich gaben, nichts anderes wären als das Quietschen einer Maschine. (Manchmal wäre es allerdings von Vorteil gewesen, die Stimmbänder der Hunde zu durchschneiden, um das lästige Winseln nicht mehr zu hören.)“30 Immanuel Kant31 (1724 – 1804), der große Aufklärungsphilosoph des 18. Jahrhunderts, sprach Tieren ebenfalls keinen Eigenwert und keine Würde zu. Wie für Thomas von Aquin war auch für Kant Tierquälerei ethisch nur deshalb problematisch, weil sich aus der Grausamkeit gegenüber Tieren eine allgemeine Neigung zur Grausamkeit entwickeln könnte, die auch vor Mitmenschen nicht haltmacht.

3. Ausweitung. Über die Würde der Tiere und andere ethische Begriffe
Angemessene Begrifflichkeit

In Jonathan Safran Foers Buch Tiere essen ist folgender Bericht eines Arbeiters in einem amerikanischen Schlachthof abgedruckt:

„Im Tötungsbereich, wo immer viel Blut fließt, macht einen der Blutgeruch ganz aggressiv. Wirklich. Du kriegst die Einstellung, dass wenn ein Schwein nach dir tritt, du es ihm heimzahlst. Eigentlich tötest du es ja schon, aber das reicht noch nicht. Es muss leiden. … Du gehst hart ran, setzt ihm zu, schlägst ihm die Luftröhre kaputt, lässt es in seinem eigenen Blut ertrinken. Spaltest ihm die Nase. Da rennt also ein lebendes Schwein durch die Wanne. Es guckt zu mir hoch, und wenn ich gerade den Job als Stecher habe, dann nehme ich das Messer und – krrrk – schneide ihm ein Auge raus, während es einfach dahockt. Und dann schreit das Schwein wie am Spieß. Einmal habe ich mein Messer genommen – es ist ziemlich scharf – und einem Schwein ein Stück von der Nase abgeschnitten, als wär’s eine Scheibe Mortadella. … Dann … nehme ich eine Handvoll Salz und reibe es ihm in die Nase. Da ist das Schwein richtig ausgeflippt. … Ich war nicht der Einzige, der solche Sachen gemacht hat. Ein Schlachter, mit dem ich zusammenarbeite, treibt die Schweine manchmal noch lebend in das Brühbad.“32

Mein hier vorliegendes Buch handelt von der kontrafaktisch unantastbaren Würde der Tiere. Faktisch ist sie, wie dieser Bericht drastisch zeigt, antastbar und verletzlich. Die beschriebene Schlachthofszene legitimiert und provoziert den Gebrauch des Begriffes der Tierwürde in einem expressiven Sinn und wegen seiner appellativen Wirkung. Es mag aus ethischer, juristischer und rechtsphilosophischer Sicht Vorbehalte gegen diesen Begriff geben – ähnlich wie es Vorbehalte gegen den Begriff der Menschenwürde gibt – und selbstverständlich kann man ihm Vagheit und Allgemeinheit vorwerfen. Seine fehlende Konkretheit oder „Dünnheit“33, um die Diktion des US-amerikanischen Moralphilosophen Michael Walzer aufzugreifen, ist jedoch nicht primär Schwäche, sondern Stärke: Nahezu jeder, der diesen Begriff hört, wird etwas wahrnehmen, was er wiedererkennt. Wer über Tierwürde und deren Verletzung spricht, evoziert Bilder von Schlachthöfen und Tierfabriken, Tiertransporten und Gänsestopfleber, abgehackten Haifischflossen und in den Müll geworfenen Hundewelpen. Der Begriff der Tierwürde wird also in diesem Buch nicht philosophisch-ethisch analysiert und reflektiert, sondern als Ausdruck eines intensiven Protestes gegen all diese und andere Grausamkeiten verstanden sowie als Appell an christliche Gemeinschaften und alle Menschen guten Willens, etwas Konkretes dagegen zu tun. Was genau getan werden sollte, wird sich im Laufe dieses Buches erschließen.

Nach post-anthropozentrischen Ethiken steht fest: Wer einzelne Tiere quält oder willkürlich tötet, wer Tierarten ausrottet und den tropischen Regenwald großflächig abholzt, handelt ethisch falsch. Richtig oder falsch zu handeln ist – in der ethischen Fachsprache ausgedrückt – nicht dasselbe wie gut oder schlecht / böse zu handeln. Während es bei den Begriffen sittlich richtig und falsch um die unter Menschen intersubjektiv auszuweisenden und argumentativ darzulegenden Gründe für die Qualität einer ethischen Handlung geht, beziehen sich die Begriffe sittlich gut und schlecht / böse auf die einem Menschen innerliche Disposition und Motivation.34 An einem Beispiel erklärt: Man kann eine ausgeprägte Liebe zu Hunden und die besten Absichten haben, Hunden Freude zu bereiten, aus veterinärmedizinischen Gründen ist es dennoch nicht ratsam, die Tiere dadurch erfreuen zu wollen, indem man sie mit Schlagsahne oder Schokolade füttert. Wer immer solches tut, handelt ethisch zwar gut (Motivation), aber dennoch im Sinne des umfassenden Wohls der Tiere nicht richtig bzw. ausgesprochen falsch. Wer dagegen aus Abneigung gegenüber Hunden Giftköder auslegt, handelt sowohl ethisch schlecht oder böse (Motivation) als auch ethisch falsch (objektive Schädigung der Hunde). Motivation und Sachgerechtigkeit zu unterscheiden ist analytisch hilfreich, darf aber nicht dazu führen, beide strikt zu trennen. Denn an sich ist beides notwendig: eine auf Mitgefühl aufbauende gute Motivation und eine auf Sach- und Fachkenntnis gestützte ethische Entscheidungskompetenz.

Es legt sich nahe, an dieser Stelle noch zwei weitere begriffliche Klarstellungen vorzunehmen. Die erste weist auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Begriffen Moral und Ethik hin: Vor allem in der Alltagssprache werden diese Begriffe weitgehend synonym verwendet. Dagegen ist nichts einzuwenden. In der akademischen Ethik bezieht sich der Begriff Moral allerdings im Allgemeinen auf die in einer Gesellschaft vorherrschenden Moralvorstellungen und sittlichen Regeln, der Begriff Ethik dagegen auf die theoretisch-wissenschaftliche Reflexion über eben diese Moralvorstellungen und Regeln, „mit der Absicht, diese Ansichten auf die eine oder andere Art zu verbessern, weiter zu entwickeln oder zu präzisieren“35. Eine dritte begriffliche Klarstellung bezieht sich auf die Sprache, mit denen wir die Tiere und ihre Welt benennen. Das Anliegen von Tierethik und Ökolinguistik36, in der Rede über Tiere keine Wörter und Begriffe zu verwenden, die diese abwerten oder die die menschliche Grausamkeit gegenüber Tieren euphemistisch verschleiern, wird in diesem Buch voll unterstützt. Die durchaus zu respektierende Empfehlung von Tierrechtlern, nicht von Menschen und Tieren, sondern stattdessen von menschlichen Tieren und nichtmenschlichen Tieren zu sprechen, wird hier allerdings bis auf wenige Ausnahmen nicht übernommen. Für viele Leserinnen und Leser ist diese Sprachregelung sowohl ungewöhnlich als auch ungewohnt und wirkt eher verstörend als zum Denken anregend. Zudem wird durch den Begriff nichtmenschliche Tiere trotz der Intention, die evolutionäre Kontinuität allen Lebens dadurch sprachlich sichtbar zu machen, das Faktum nicht aus der Welt geschafft, dass es sich beim Begriff der Tiere um eine undifferenzierte Sprachregelung handelt, „die die Wirklichkeit dessen, war sie vorgibt zu beschreiben, verdeckt, nämlich ein breites Spektrum von höchst unterschiedlichen Wesen von erstaunlicher Vielfalt und Komplexität.“37 Anders gesagt: Menschen und Schimpansen sind sich in vieler Hinsicht ähnlicher als Schimpansen und Seegrasquallen, dennoch werden beide, Menschenaffen und Quallen, mit dem einheitlichen und undifferenzierten Begriff Tier bezeichnet.