Wunder

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3.1.1 Biblische und altkirchliche Deutung

Das biblische Wunderzeugnis setzt Gottes Allmacht und die seines Sohnes glaubend voraus; grundsätzliche Wunderkritik findet sich nicht. Die Reaktion der Betroffenen reicht von Erstaunen und Entsetzen bis hin zu ekstatischer Begeisterung und Lobpreis. Selbst Jesu Gegner stellen seine Wunderkraft nicht in Zweifel (Mk 3,22–27; vgl. Apg 4,7); stattdessen fragen sie nach der (göttlichen oder satanischen?) Herkunft seiner Wundervollmacht (Mt 12,22–30parr.).

Biblischer Wunderglaube und antike Wunderkritik hinterlassen ihre Spuren in der christlichen Wunderdeutung bis zur europäischen Aufklärung. Zur Verteidigung der christlichen Wahrheit und der biblischen Wundertexte verweist Justin der Märtyrer (ca. 100–165 n. Chr.) auf religionsgeschichtliche Analogien zwischen den Wundern Jesu und denen des Asklepios (Justin, Apologia I 22):

„Sagen wir endlich, er habe Lahme, Gichtbrüchige und von Geburt an Sieche gesund gemacht und Tote erweckt, so wird das dem gleich gehalten werden können, was von Asklepios erzählt wird.“

Johannes Chrysostomos (ca. 349–407 n. Chr.) äußert sich zu angeblichen Wundern seiner Epoche skeptisch; Wunder seien ausschließlich eine Erscheinung der christlichen Anfangszeit.1 Gregor von Nyssa (ca. 338–nach 394 n. Chr.) ist noch skeptischer: Wunderglaube sei ein Produkt mangelnder Kenntnis der Naturgesetze. Augustin von Hippo (354–430) sieht in den Wundern nicht notwendige Zeichen der Botschaft Gottes.2 Im Mittelalter gelten Wunder weithin als Beweise für Gottes Wirken in der Welt.3 Thomas von Aquin (1225–1275) argumentiert: Da Gott alleinige Wirkursache der Naturgesetze sei, könne er allein auch Wunder tun.4 Diese dienten der Bekräftigung der Wahrheit der Botschaft Christi; Gott als Wirkursache habe die Wunder an der Naturordnung vorbei gewirkt.5

Im Hochmittelalter lösen zahllose Wunderberichte im Kontext von Heiligen- und Reliquienverehrung Massenhysterien aus, die sich zu Wallfahrten verstetigen.6 Angesichts dieses Wildwuchses verstärkt sich die Wunderkritik. Johannes Gerson (1363–1429) plädiert für ein spirituelles Wunderverständnis; die biblischen Wunder seien in den kirchlichen Sakramenten bleibend aufgehoben. Gegenwärtigen Wunderphänomenen sei prinzipiell zu misstrauen; sie könnten auch satanischer Herkunft sein.7

Die rationale Wunderskepsis schlägt sich unterdessen in allegorischer Auslegung nieder. So steht etwa der blinde Bartimäus (Mk 10,46–52) sinnbildlich für das mit Blindheit geschlagene, unerlöste, heidnische Menschengeschlecht, das von Jesus zur Erkenntnis geführt wird (vgl. Mt 20,29–34).8 Grundlage allegorischer Deutung ist das metaphorische Verständnis von ‚Blindheit‘ im Sinne innerer Blindheit bzw. des Unglaubens. Die Blindenheilung steht für die Erleuchtung, die zum ‚Sehen‘, das heißt zum Glauben, führt.9

3.1.2 Wunder in der Reformationszeit

Martin Luther (1483–1546) wertet die Wunder als Wirkursache des Glaubens ab.1 Das größte Wunder sei Jesu rettendes Wort (WA 14,312). Wunder seien, in Weiterführung von Johannes Chrysostomos, ein frühchristliches Phänomen. Wunderhafte Heiligenlegenden stellt Luther nicht in Abrede, macht ihre Relevanz jedoch davon abhängig, ob sie den rechtfertigenden Glauben fördern oder nicht (WA 10/3,81; 14,379). Wunder, die gute Werke provozieren wollen, lehnt Luther als Blendwerke des Antichristen ab (WA 34/2,441; 45,262). – In nachreformatorischer Zeit ist die Wunderfrage ein kontroverstheologisches Thema.2

3.1.3 Fazit: Allegorisch-spirituelle Deutung

1600 Jahre Wunderauslegung zeigen ein ambivalentes Bild: Eine teils ausufernde Wunderfrömmigkeit steht einer großen Skepsis führender Theologen, was die historische Wahrheit der Wundertexte anbelangt, gegenüber. Die Skepsis zeigt sich an der allegorischen und spirituellen Auslegungstendenz1; die supranaturale Wunderdeutung erfuhr demnach reichlich skeptisch-rationalen Widerspruch.

3.2 Wunderdeutung in der Neuzeit

Die im 17. Jahrhundert aufkommende, europäische Aufklärung erhebt den naturwissenschaftlich-rationalen Wahrheitsbegriff zur erkenntnistheoretischen Norm und stellt den (Wunder-)glauben grundsätzlich infrage.

3.2.1 Ausgangspunkt/Grundlagen

Mit der menschlichen ratio als Messlatte dessen, was wahr sein kann, wird die Kongruenz mit den deterministisch gedachten Naturgesetzen das entscheidende Beurteilungskriterium auch für biblische Wundertexte. An diesem Kriterium müssen sie scheitern; Wunder gelten fortan als Märchen oder Mythen bzw. als Ereignisse, die mangels Kenntnis der Naturgesetze lediglich für Wunder gehalten wurden. Mit der Wunderfrage steht die Wahrheit der Bibel und des Glaubens insgesamt auf dem Prüfstand. Baruch de Spinoza (1632–1677) argumentiert,

„daß alle wirklichen Geschehnisse, von denen die Schrift berichtet, sich wie überhaupt alles notwendig nach den Naturgesetzen zugetragen“1 haben müssten.

Da Gott nicht die von ihm selbst geschaffenen Naturgesetze habe durchbrechen können (Selbstwiderspruch Gottes!), seien Wundertexte bildhaft-metaphorisch, als wissentliche Irreführung oder als Berichte über rational erklärbare Vorgänge zu interpretieren.2 In der Folge wird Wunderglaube als ungebildeter Aberglaube oder als Phantasieprodukt zur Stillung menschlicher Sehnsüchte angesehen.

Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) sieht in der Inszenierung von Wundern eine vorsätzliche Irreführung leichtgläubiger, wundersüchtiger und unwissender Menschen durch Jesus und die Apostel.3 Die Grabraubthese (die Jünger hätten Jesu Leichnam entwendet, um seine Auferstehung behaupten zu können) wird zum Ausgangspunkt der weiteren Wunderdiskussion. – Auch David Hume (1711–1776) äußert sich wunderkritisch: Dem subjektiven Zeugnis angeblicher Augenzeugen sei weniger zu trauen als der Evidenz einer vernunftgemäßen Erklärung des Geschehens.4 Wunder gehörten zum Aberglauben von Ungebildeten:

„Ein Wunder ist eine Verletzung der Naturgesetze, und da eine feststehende und unveränderliche Erfahrung diese Gesetze gegeben hat, so ist der Beweis gegen ein Wunder aus der Natur der Sache selbst so vollgültig, wie sich eine Begründung durch Erfahrung nur irgend denken läßt.“5

Für Ludwig Feuerbach (1804–1872) sind Wundertexte Projektionen kindlich-menschlicher Sehnsüchte. Der rational denkende Erwachsene sei auf solche Projektionen nicht mehr angewiesen.

Das rationalistische Weltverständnis orientiert sich an den Naturwissenschaften: Die Welt ist aus sich selbst, nicht aus Gott heraus zu begreifen. Was noch rätselhaft ist, wird peu à peu wissenschaftlich erklärt werden.6 Wahr ist nur das, was rational erklärbar ist oder der Vernunft zumindest nicht widerspricht; hierin spiegelt sich der rationalistische Universalismus der Moderne.7 Die Auskunft von Hans Weder (*1946) bestätigt und bekräftigt das:

„Vor dem zunehmenden Hang, die naturwissenschaftliche Verfaßtheit unseres Denkens bezweifeln zu wollen, kann nicht genug gewarnt werden.“8

Im Gefolge gerät die Theologie in die Defensive und sieht ihre Aufgabe oftmals nur noch in der Deutung noch bestehender Welträtsel. Das moderne wird mit dem ntl. Weltbild kontrastiert.9 Leitend sei hier die Einteilung der (scheibenartig vorgestellten) Welt in drei Stockwerke (Himmel, sichtbare Welt, Unterwelt) und der Beeinflussung der sichtbaren Welt durch die anderen Sphären; der Mensch sei Ort des kosmischen Kampfes zwischen Gott und Dämonen. Dementsprechend werde das biblische Heilsgeschehen in mythischer Sprache verkündigt.10 Dieses Weltbild sei modernen, rational denkenden Menschen nicht mehr zumutbar; wer es dennoch tut, begehe ein sacrificium intellectus.11 Von hier aus ergibt sich die Vermittlung beider Weltbilder als hermeneutische Kernaufgabe der Theologie.

3.2.2 Rationalistische Wunderdeutung

Die folgenden Ausführungen gründen auf Albert Schweitzers kritischer Bilanz über zwei Jahrhunderte rationalistischer Leben-Jesu-Forschung (1906).

Die Reaktion von Theologie und Kirche auf den Rationalismus ist unterschiedlich. Johann Salomo Semler (1725–1791) vertritt die Akkomodationstheorie, wonach Jesus und die Evangelisten sich an die primitive Wahrnehmungsweise der Menschen anpassten, um ihre Botschaft zu vermitteln; der Täuschungsvorwurf von Reimarus wird damit zurückgewiesen.1 – Viele Bibelausleger des 18. und 19. Jahrhunderts wie Carl Friedrich Bahrdt (1741–1792), Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851), Carl Heinrich Venturini (1768–1849) und Karl August von Hase (1800–1890) arrangieren sich mit dem Rationalismus und versuchen, in Abgrenzung von supranaturalistischer Wunderdeutung2 die Wahrheit der Wundertexte (und damit der Bibel überhaupt) durch rationale Erklärung zu retten.3 Wunder werden als naturwissenschaftlich erklärbare, ‚vernünftige‘ Naturphänomene und damit als historische Fakten dargestellt.

Die aus heutiger Sicht naiven Deutungen verweisen auf damals unerklärliche Praktiken Jesu (Jesus als wandernder Heilpraktiker und Homöopath, der den Placebo-Effekt ausnutzte), die Scheintodhypothese (Tote waren nicht wirklich tot), besondere Ortskenntnis (Vorratshöhlen in der Wüste, Mk 6,30–44), bekannte Naturphänomene (plötzlich abbrechende Fallwinde am See Genezareth, Mk 4,35–41) oder auf Halluzinationen der Jünger (Seewandel, Mk 6,45–52). In alledem sei Jesus mit seinen naturwissenschaftlichen Kenntnissen seinen Zeitgenossen voraus gewesen, woraus sich die Wahrnehmung von ‚Wundern‘ ergab. Offen bleibt das Urteil darüber, ob Jesus vorsätzliche Täuschung betrieb oder lediglich seine Botschaft im Rahmen des damaligen Weltverständnisses zu etablieren versuchte.

 

Der Charme rationalistischer Wunderdeutung liegt in ihrer Kongruenz zu naturwissenschaftlichen Prämissen. Die Wunder können auf historische Begebenheiten zurückgeführt werden, ihr Wahrheitsgehalt scheint gerettet. Das Problem ist, dass rational erklärte Wunder keine Wunder mehr sind. Das nüchterne Fazit der rationalistischen Wunderexegese lautet: Jesus hat zwar Menschen geheilt und vielleicht auch andere wunderhafte Dinge getan, aber eben keine Wunder!

3.2.3 Mythische Wunderdeutung

Mitte des 19. Jahrhunderts eröffnet die Wiederentdeckung des Mythos eine neue Möglichkeit der Wunderdeutung, ohne die ratio zu verleugnen. Der bekannteste Vertreter dieser Richtung ist David Friedrich Strauß (1808–1874). Sein Buch Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835/1836) erklärt die biblischen Berichte als Mythen, die nicht den Anspruch von Faktizität erheben, sondern die Welt religiös-mythisch erklären und ihre Ordnung göttlich legitimieren wollen. Das Motiv, Wundertaten Jesu zu erzählen, sieht Strauß im Wunsch, Jesus von atl. Wundertätern abzuheben. Von der zeitbedingten, mythischen Form des Wunders sei die dahinterstehende, zeitlose messianische Idee zu unterscheiden, die es beizubehalten gelte.1 – Die mythische Betrachtungsweise nimmt die Wundertexte aus der Schusslinie rationalen Denkens, gibt aber den historischen Wahrheitsanspruch der Texte preis. Der Deutungsansatz wird im 20. Jahrhundert von Rudolf Bultmann aufgegriffen und weitergeführt (→ 1.7.5; 3.3.2).

3.2.4 Albert Schweitzers Fazit

Die rationalistische Wunderforschung wird von Albert Schweitzer in der epochalen Monographie Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (1. Auflage 1906) dargestellt und kritisch bewertet. Schweitzer konstatiert:

„Diejenigen, welche gern von negativer Theologie reden, haben es im Hinblick auf den Ertrag der Leben-Jesu-Forschung nicht schwer. Er ist negativ.“1

Sämtliche Jesusbilder, welche die Theologie bis dato entworfen hat, seien mangels historischen Faktenwissens obsolet; Jesus Christus bleibe fremd und rätselhaft, trotz aller Versuche, ihn zu erklären und in die Gegenwart zu holen. Letztlich, so Schweitzer, sind alle Jesusbilder Projektionen moderner Vorstellungen und Wünsche. Entscheidend sei aber nicht das historische Wissen um Jesus, sondern dessen zeitloser Wille und seine Wirkungsgeschichte, „eine gewaltige geistige Strömung von ihm […, die] auch unsere Zeit durchflutet.“2 Insbesondere kritisiert Schweitzer den Versuch, zwischen vergänglichen Vorstellungen und bleibenden Ideen Jesu zu unterscheiden, und fordert stattdessen, den ‚Urgedanken‘ der antiken Weltanschauung (den ethisch-eschatologischen Willen Jesu) in moderne Begriffe zu übertragen und dadurch wirkkräftig zu machen, anstatt ihn ständig mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild auszugleichen und dadurch zu verwässern.3

Auf die Wunderfrage bezogen heißt das: Jesu Wundertaten können historisch nicht erfasst werden, ihre Fremdheit und ihre Rätselhaftigkeit sind zu akzeptieren. Die Wunder sind in den Kontext der ethisch-eschatologischen basileía-Botschaft Jesu einzuzeichnen. Die Unterscheidung zwischen einer mythischen, zeitbedingten Form und einer Kernbotschaft, so ist zu folgern, ist nicht möglich und führt in die Irre. Die Wirkkraft Jesu und seiner Botschaft ist ohne ihren weltanschaulichen, jüdisch-eschatologischen Kontext nicht zu verstehen. Mit dieser Einschätzung war Albert Schweitzer seiner Zeit weit voraus (→ 3.5.5).

3.3 Wunderforschung im 20. Jahrhundert

Das rationalistische Denken bestimmt auch die Wunderforschung des 20. Jahrhunderts. Wundertexte werden als Mythen mit bleibendem Wahrheitskern gedeutet, ihre Historizität wird nach rationalen Kriterien beurteilt oder ihre Wahrheit wird jenseits der wörtlich Sinnebene gesucht. Supranaturale Deutungsmuster finden sich nur außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses.1

Als Beispiel für die fortwährende Diskussion sei ein Wortwechsel des Wissenschaftspublizisten Martin Urban mit dem ehemaligen Präses der Rheinischen Landeskirche, Nikolaus Schneider, zitiert.2 Urban fordert die Kirche auf, auf die Verkündigung nicht erklärbarer Phänomene zu verzichten. Selbst wenn Jesus Wunder als Verkündigungsmittel benötigt haben mag, sei das aufgeklärten Menschen von heute nicht mehr zumutbar. Kirchliche Verkündigung müsse sich im Rahmen von Vernunft und Naturwissenschaft bewegen; die Rede von göttlichen Offenbarungen sei eine neurologische Fiktion.3

3.3.1 Religions- und formgeschichtliche Deutung

Die ‚Religionsgeschichtliche Schule‘ (ca. 1890–1918) fördert viele Analogien aus dem gr.-hell. und röm. Bereich zu den ntl. Wundertexten zutage. Diese erscheinen nun als Teil eines breiten Traditionsstroms. Das bestätigt die Annahme eines weit verbreiteten, mythischen Weltbilds und weckt den Verdacht, die ntl. Erzählungen seien Adaptionen paganer Wundertexte, erdichtet zum Zweck, Jesus interkulturell anschlussfähig zu machen.1 – Nach dem Ersten Weltkrieg lenkt die ältere ‚Formgeschichtliche Schule‘ den Fokus auf die literarische Form der Wundertexte und auf ihren Sitz im Leben in den frühchristlichen Gemeinden. Martin Dibelius (1883–1947) sieht diesen in der Verkündigung, Rudolf Bultmann (1884–1976) in der kerygmatischen Rede Jesu. Für Dibelius sind die Wundertexte bzw. einzelne volkstümliche Motive darin Adaptionen hell. Texte.2 Bultmann deutet sie als

„zeitbedingte, aus dem mythischen Weltbild der Antike erwachsene Entfaltungen der Christusbotschaft, die im Horizont neuzeitlich-aufgeklärten Denkens kein Glaubensgegenstand sein könnten.“3

Bultmann zeigt, dass die ntl. Wundertexte einem antiken Gattungsmuster entsprechen, was ihre historische Glaubwürdigkeit zusätzlich schmälere. Er resümiert:

„Die ‚Wunder Jesu‘, sofern sie Ereignisse der Vergangenheit sind, [sind] restlos der Kritik preiszugeben, und es ist mit aller Schärfe zu betonen, daß schlechterdings kein Interesse für den christlichen Glauben besteht, die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Wunder Jesu als Ereignisse der Vergangenheit nachzuweisen, daß im Gegenteil dies nur eine Verirrung wäre.“4

Dieses Verdikt bringt die historische Wunderfrage für lange Zeit zum Verstummen. Der dem Verdikt zugrunde liegende Schluss von formkritischen Analogien auf die Ungeschichtlichkeit der Wunder Jesu ist jedoch nicht zwingend.5

3.3.2 Existenziale Wunderdeutung

Mit der mythischen Wunderdeutung stellt sich die Wahrheitsfrage neu: Welchen Wahrheitskern transportieren die biblischen Wundertexte? Bultmann konstatiert die grundsätzliche Unvereinbarkeit von mythischem und modernem Weltbild:

„Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muss sich klar machen, dass er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“1

Bultmann unterscheidet zwischen mythisch-zeitbedingter Form und zeitlos-existenzialem Inhalt (gr. kérygma), der allein theologisch relevant sei. Das Kerygma Jesu bestehe in einem bestimmten, mythisch vermittelten Existenzverständnis auf Grundlage der am Kreuz Christi geoffenbarten Liebe Gottes. Das Angebot einer neuen Existenzmöglichkeit stelle den Menschen vor die Wahl, sein bisheriges Selbstverständnis beizubehalten oder die von Gott geschenkte, von Liebe getragene Existenzmöglichkeit zu ergreifen.2 Entmythologisierung und existenziale Interpretation sind demnach zwei Seiten einer Medaille.3

Im Gefolge dieses Deutungsansatzes verschiebt sich die Fragerichtung: Anstelle der historischen Wunderfrage tritt die Frage nach der Funktion der Wundertexte in ihrem literarischen und historischen Kontext in den Vordergrund.4

3.3.3 Tiefenpsychologische Deutung

Eine andere Möglichkeit, den Wahrheitskern der Wundertexte zu formulieren, bietet die psychologische bzw. tiefenpsychologische Deutung. Sie entdeckt zwischen den Textzeilen viele Hinweise auf eine (tiefen-)psychologische Sinnebene (→ 4.1.3). Der Ansatz liest die Wundertexte als Zeugnisse für eine ganzheitliche Religiosität, die Wege aus Angst und innerer Zerrissenheit aufzeigt.1 Für Eugen Drewermann (*1940) ist Jesus ein Schamane, der die Disharmonie zwischen Körper und Unterbewusstsein bzw. den Mächten der jenseitigen Welt erkennt und heilt.2 Anstatt mit schamanischen Riten heile Jesus mit der Macht des Vertrauens. Drewermann kritisiert mit seinem Ansatz die Ausblendung der Körperlichkeit und die Selbstentfremdung des Menschen in der Bultmann’schen Wunderhermeneutik.3

Biblische Wundertexte werden als Reflexe von Verdrängungsprozessen und ihrer psychotherapeutischen bzw. psychosomatischen Heilung gelesen. ‚Wunder‘, so Drewermann, setzen auf der Ebene des Unbewussten, der Gefühle und Affekte rational unerklärliche, physische Prozesse in Gang und bewirken eine Harmonie des Menschen mit sich selbst und der natürlichen Ordnung. Die Tiefendimension der Wundertexte stoße Selbsterfahrung, Identitätsfindung und Krisenbewältigung in der vertrauensvollen Begegnung mit Jesus an.4 Damit gewönnen die Wundertexte ihre somatische bzw. psychosomatische Dimension zurück und seien nicht länger Gegenstand einer rein intellektuellen Betrachtung.5 Die tiefenpsychologische bzw. psychosomatische Erklärbarkeit spricht nach Drewermann für die Historizität des Erzählten; ‚Wunder‘ seien sie dann aber nicht mehr zu nennen, da eine göttliche Wirkursache ausgeschlossen wird. Drewermann beantwortet die historische Wunderfrage in neo-rationalistischer Manier:

„Ein Gott, der Wunder wirken kann und dies vor 2000 Jahren zur Beglaubigung des von ihm gesandten Messias auch getan hat, sich dann aber hinter die Wolken zurückzieht und die Menschen jammern und leiden läßt, ist nicht mehr glaubhaft.“6 Und: „Manche ‚Wundererzählungen‘ […] erscheinen überhaupt nur einer verdinglichenden Betrachtungsweise als ‚Wunder‘, während sie in Wirklichkeit eine symbolische Beschreibung seelischer Erfahrungen, Wandlungen und Veränderungen darbieten.“7

Kritik: Problematisch sind die pauschale Deutung des wunderhaften Geschehens als eines psychotherapeutischen Vorgangs, die Annahme zeitübergreifender anthropologischer Kategorien sowie die individualisierende Auslegungstendenz, die das Spektrum möglicher Sinnebenen reduziert.8

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