Wunder

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2.4.1 Das Charisma des erinnerten Jesus

Der Weg in die Jüngerschaft mit allen sozialen Konsequenzen setzt eine Erfahrung voraus, die so überzeugend, einschneidend und nachhaltig war, dass der neue Glaube selbst mit Jesu Tod nicht abriss, sondern weiterlebte und zu einer Weltreligion wurde. Diese Erfahrung hat mit dem überwältigenden Charisma Jesu zu tun.

a) Überzeugende Erstbegegnungen

Jesus, so die Texte, begeistert viele Menschen mit seiner basileía-Botschaft. Er transportiert eine essenzielle Hoffnung, ist authentisch, deckt seine Botschaft durch seine Persönlichkeit und seinen Lebensstil ab. Mitreißende Überzeugungskraft, überzeugende Vision, persönliche Integrität, wertschätzender, aber auch autoritativer Führungsstil, Konfliktbereitschaft, Durchsetzungskraft und konsequente Parteinahme für die ‚Verlorenen‘ zeichnen sein Charisma aus.

b) Eine faszinierende Vision

Jesu Vision gründet im Glauben an den Gott Israels, der sogar unumstößlich scheinende natürliche, soziale und religiös-moralische Ordnungen auf den Kopf stellen kann (Magnificat, Lk 1,46–55). Er wird in Kürze eine Herrschaft des Friedens und umfassender Gerechtigkeit aufrichten, so die Botschaft. Diese Ansage deckt Jesus durch seinen integren, authentischen Lebensstil und durch wunderhafte Zeichen ab. Jesus, so die Texte, ist absolut unbestechlich. Gesellschaftliches Renommée und politische Macht bedeuten ihm nichts. Stattdessen orientiert er sich konsequent am Ersten Gebot (vgl. Mt 4,1–11parr.: Versuchung Jesu).

c) Konsequente Lebenshingabe

Jesus verzichtet auf äußeren Ruhm und vitale Interessen wie finanzielle Sicherheit, ein Dach über dem Kopf und Partnerschaft. Er stellt sein Leben in den Dienst der Notleidenden und Randständigen, deren Not sein Erbarmen auslöst. Mit seinen Taten setzt Jesus Zeichen der eschatologischen Zuwendung Gottes. Vorbehalte gegenüber Sündern oder Nichtjuden sind ihm fremd, ebenso Berührungsängste gegenüber Kranken und Unreinen. Toragebote deutet er im Sinne des umfassenden Liebesgebots um. Für diese Haltung scheut Jesus keinen Konflikt (Streitgespräche Mk 2f. u.a.). Lediglich zum Krafttanken im Gebet zieht er sich zurück.1 Jesu Lebenshingabe findet ihren konsequenten Abschluss im Kreuzestod. Den Texten zufolge verzichtet er auf äußeren Widerstand, widersteht selbst der letzten Versuchung (Mt 27,39–44parr.) und bleibt bis zuletzt barmherzig und vergebungsbereit (Lk 22,51; 23,34.42f.). Selbst für den röm. Hauptmann unter dem Kreuz wird er dadurch glaubwürdig (Mk 15,39parr.).

d) Faszinierende, befreiende Lehre

Jesus transportiert seine Botschaft ansprechend, begeisternd, überzeugend und provokant. Seine Gleichnisse öffnen Fenster zur heilvoll-befreienden Wirklichkeit Gottes und stellen traditionelle Gottesbilder, Moralvorstellungen, Verhaltensmuster und soziale Zustände auf den Kopf.1 Damit werden Jesu Vision und Gottes befreiende Nähe schlaglichtartig konkret. Dazu passt Jesu Toraauslegung. Deren Fluchtpunkt ist das Wohl des Menschen, nicht die penible Einhaltung einzelner Paragraphen. Jesus agiert in Synagogen und im Tempel. Er zeigt sich im Schlagabtausch mit seinen Gegnern als bibelfester Schriftgelehrter. Die Gegner müssen sich ein ums andere Mal geschlagen geben (vgl. Mk 12,34b).

e) Staunen erregende (Wunder-)Taten

Staunenswerte Wundertaten sind eine weitere, historisch plausible Facette des Charismas Jesu. Die Texte stellen ihn als exklusiven Träger des Leben schaffenden Geistes Gottes (Mk 1,9–11parr.) bzw. als inkarnierten Schöpfungs-Logos Gottes dar (Joh 1,1–18), der Menschen heilt und sogar wiedererweckt, ihnen Überfluss schenkt und Naturmächte überwindet. Man durfte von Jesus Wunder erwarten und konnte sie, in welchem Umfang auch immer, auch real erleben.

2.4.2 Begegnungen mit dem Auferstandenen

Jesu Tod stürzte den Jüngerkreis in eine Krise. Der Kreuzestod passte weder zur messianischen Erwartung noch zur vorösterlichen Glaubensüberzeugung. Die Diskrepanz wurde erst durch den Osterglauben überwunden. Wissenschaftlich-rationale Erklärungen wie Beweis oder Widerlegung des leeren Grabes, Grabraub-Hypothese und projektive Massenhysterie können das Ostergeschehen nicht hinreichend erklären. Dessen Wahrheit liegt auf einer anderen Ebene, ist aber historisch plausibel erklärbar. Die entscheidende Erfahrung der Osterzeugen lautet: ‚Er ist wieder da!‘ Die Emmausgeschichte Lk 24,13–35 gestaltet sie narrativ aus. Die Trauer des Jüngerkreises wandelt sich in Freude: Jesus ist wieder da – mitten in der Trauergemeinschaft! Im Vollzug des Brotbrechens erfahren die Versammelten Jesu österliche Präsenz geradezu körperlich. Sie erkennen: Der Gekreuzigte ist auferstanden und: Der Auferstandene hat eine verwandelte Leiblichkeit, die ihn physikalische Grenzen überschreiten lässt. Für den Jüngerkreis ist Jesus ‚leibhaftig‘ erlebbar und dennoch unverfügbar (Lk 24,30f.; vgl. das noli me tangere von Joh 20,17). Der ungläubige Thomas darf sich von der physischen Identität des Auferstandenen überzeugen. Ein Glaube, der ohne solches Sehen auskommt, gilt als ungleich schwieriger und wird seliggepriesen (Joh 20,24–29).

Diese intensive Ostererfahrung zieht folgerichtig den Glauben an Jesu leibliche Auferstehung nach sich. Jesus ist zurück im Leben; deshalb muss sein Grab leer sein! Diese Argumentation stellt die rationale Beweisführung auf den Kopf: Nicht entscheidet das leere Grab über die Wahrheit des Osterglaubens, sondern umgekehrt begründet die historisch plausible Erfahrung der Osterzeugen den Osterglauben und die Rede vom leeren Grab!

2.4.3 Konsequenzen für den Wunderglauben

Die beschriebenen Begegnungen begründen den nachösterlichen Christus- und Wunderglauben. Dieser besteht im Kern aus folgenden Erkenntnissen:

a) Jesus war der Gottessohn!

Jesus erfüllte durch sein charismatisches Auftreten die messianischen Hoffnungen seiner Zeit, daher musste er der angekündigte davidische Messias sein! Jesus war, so die Erinnerung der Evangelien, Gott nah wie kein anderer, hatte göttliche Vollmacht, verkündigte authentisch den Gott Israels und dessen nahe basileía, brachte umfassende Hoffnung und starb einen für die Menschen heilbringenden Tod. Aus diesem wurde er von Gott erweckt und zu seiner Rechten erhöht.

b) Jesus hatte Schöpfervollmacht!

Als Gottes Sohn hatte Jesus göttliche Schöpfervollmacht. Seine Verkündigung war inspiriert und autorisiert; er war der einzig legitime Exeget Gottes (so Joh 1,18). Seine Toraauslegung und sein Umgang mit Menschen waren autoritativ und richtungsweisend. Die Schöpfervollmacht befähigte Jesus zu machtvollen Wunderzeichen. Sie zeigten punktuell Gottes Willen und Herrschaft, in ihnen manifestierte sich die Vision eines Lebens in Fülle. Die Historizität der Wundertaten kann nicht, muss aber auch nicht bewiesen werden. An ihnen hängt nicht die Glaubwürdigkeit des Ganzen, sondern umgekehrt gilt: Wer die Glaubenserfahrungen der ersten Jüngerinnen und Jünger teilen kann, der hält auch Wunder für möglich!

2.4.4 Fazit: Von Begegnungen zum Glauben

Der plausible historische Haftgrund für den nachösterlichen Christus- und Wunderglauben liegt in Begegnungen und Erfahrungen der Menschen mit dem umfassenden Charisma Jesu und mit seiner selbst nach Ostern noch leibhaftig spürbaren Präsenz.1 Die Erinnerungen der Evangelien vermitteln ein historisch kohärentes und glaubwürdiges Bild, auch wenn manche Details nachösterlicher Stilisierung geschuldet sein mögen.2 Ohne die Begegnungen mit Jesus und seinem Charisma, ohne die Erfahrung der Emmausjünger ist die christliche Glaubensgeschichte nicht schlüssig zu erklären. Ob man das in den Wundertexten Erzählte für historisch möglich hält oder nicht, entscheidet sich einzig und allein daran, ob man sich die Ersterfahrungen der Jüngerinnen und Jünger zueigen macht oder nicht. Welche Wunder historisch sind und welche nicht, ist letztlich unerheblich.

2.5 Zwischen Glauben und Ablehnung

Die Wundertexte verweisen auf ein historisches Geschehen (faktualer Charakter → 1.7.10). Selbst Gegner und Skeptiker Jesu und der Apostel konzedieren das wunderhafte Geschehen. Umstritten ist die Frage der Kraftquelle, der Vollmacht. In ihr sehen die Evangelien den Grund für die Ablehnung und Tötung Jesu.

2.5.1 Die polarisierende Wirkung der Wunder

Die in den Wundertexten geschilderten Reaktionen sind gegensätzlich: Die einen wundern sich, kommen zum Staunen, preisen Gott und folgen Jesus nach1, die anderen sind erschrocken oder entsetzt2, sprechen Jesus die Vollmacht ab und beschließen seinen Tod. Einige Erzählungen enden ohne erkennbare Reaktion.3

Beispiele: Augenzeugen wollen nach dem Speisungswunder Jesus zum König küren (Joh 6,15). Die Sturmstillung löst bei den Jüngern (Gottes-)Furcht aus (Mk 4,35–42parr.). Beim Seewandel halten sie Jesus für ein Gespenst und verstehen nichts (Mk 6,45–52). Aus Furcht vor der Präsenz des Göttlichen bitten die Gerasener Jesus, ihr Land zu verlassen (Mk 5,16f.; vgl. Petrus in Lk 5,8). Bartimäus folgt Jesus nach (Mk 10,46–52). Die Heilung der verdorrten Hand (Mk 3,1–6parr.) führt zum Tötungsbeschluss gegen Jesus.

Mitunter prallen positive und negative Reaktionen auf die Wunder Jesu auch direkt aufeinander. Hier wird die polarisierende Wirkung besonders deutlich.

 

Beispiele: Der geheilte Blindgeborene kommt zum Glauben, die Pharisäer lehnen Jesus ab (Joh 9). Die Erweckung des Lazarus weckt Glauben und provoziert zugleich den Tötungsbeschluss gegen Jesus (Joh 11f.). Ein Exorzismus führt zur Christuserkenntnis und zur Vollmachtsfrage (Mt 12,22–30parr.)

Wunder führen die einen zum Glauben, für andere ist Jesu Vollmacht suspekt (Mt 9,34; Mk 3,22.30); Die Pharisäer unterdrücken offene Bekenntnisse des Volkes.4 Wunder provozieren, sich für oder gegen Jesus zu positionieren. Die Evangelien geben regelmäßig niedrige Beweggründe als Grund der Ablehnung Jesu an.

2.5.2 Vollmachtsfrage und Zeichenforderungen

Paradigmatisch wird die Vollmachtsfrage im Anschluss an den Exorzismus eines Taubstummen gestellt (Mt 12,22–30parr.). Den aufkeimenden Glauben der Augenzeugen torpedieren die Pharisäer mit der Behauptung, Jesus treibe Dämonen „durch Beelzebul, den Obersten der Dämonen“ aus (V. 24). Im anschließenden Streitgespräch widerlegt Jesus die Pharisäer mit einem Weisheitsgleichnis, entlarvt ihren Selbstwiderspruch (V. 25–29) und nennt den Geist Gottes als seine Kraftquelle. Jesu göttliche Vollmacht zeigt sich im Exorzismus und in seiner autoritativen Argumentation. – Die Gegner fordern daraufhin ein legitimierendes Zeichen (gr. semeíon, Mt 12,38), sprich: die sichtbare Legitimierung seiner Vollmacht. Jesus lehnt dies ab.1 Einzig das ‚Zeichen des Jona‘, das heißt seine Auferstehung nach drei Tagen, gesteht er zu (Mt 12,39–41). – Die Perikope unterstreicht: Bei den Wundern Jesu geht es nicht um Beweiskraft, sondern um Glauben.

Schon in der Begegnung mit Satan in der Wüste (Mt 4,1–11parr.) entscheidet sich Jesus gegen Allmachtsdemonstrationen. Damit wird von vornherein deutlich gemacht: Jesus geht den Weg des Machtverzichts; er folgt nicht der Strategie des Bösen, sondern dem Ersten Gebot. Wer ihn von diesem Weg abzubringen versucht wie Petrus, wird als Satan gegeißelt (Mk 8,32f.). Jesus verzichtet, so die Texte, bis zum Schluss auf Machtdemonstrationen (Mk 15,30–32parr.). Das bringt den röm. Soldaten unter dem Kreuz zum Christusbekenntnis (Mk 15,39parr.).

Mit den Zeichenforderungen verarbeiten die Evangelien das Problem der Verwechselbarkeit Jesu und seiner Wundertaten. Ihre Lösung lautet: Wunder sind Provokationen zum Glauben und Wegmarken, an denen sich die Spreu vom Weizen trennt. Die Wunder haben eine eschatologisch-kritische Funktion. Allgemein sichtbar wird ihre Wahrheit erst bei der Parusie Christi, so die Überzeugung.2

2.5.3 Das Problem der Schweigegebote

Die Schweigegebote vornehmlich am Ende mk. Wundertexte1 dienen ebenfalls dem Zweck eschatologischer Scheidung zwischen glaubenden Insidern und nicht-glaubenden Outsidern. Vergleichbar der ‚Parabeltheorie‘ Mk 4,10–13parr., bleibt die Erkenntnis über Jesus und die basileía Gottes so lange wie möglich den Jüngern (vgl. Mk 8,27–30parr.!) und Geheilten vorbehalten.2 Das deutet auf einen esoterischen Grundzug der mk. Christologie hin.3 Auch das erklärt die Ablehnung Jesu und ist zugleich ein Appell an die Leserschaft, sich auf die Seite der Insider zu schlagen, um Zugang zu Gottes Heil zu bekommen (symbuleutische Funktion). Die Gegner Jesu fungieren in den Wundertexten als Negativvorbilder.

Exkurs: Die mk. Schweigegebote werden, davon abweichend, traditionell dem sogenannten Messiasgeheimnis zugeordnet. Diesem Konzept zufolge sollen sie einem Missverständnis der Wundertaten als Beweisen der Messianität Jesu vorbeugen und den Blick auf das Ostergeschehen als Schlüssel zum Wunderverständnis lenken (Mk 9,9). Implizit kritisierten sie einen oberflächlichen Mirakelglauben.4 Die Schweigegebote und deren sporadische Durchbrechung5 erklären auch das Schicksal Jesu bis ans Kreuz, so das Konzept (→ 4.4.1).

Hintergrund der Überlegungen ist eine Zweistufenchristologie: Jesus wirkte auf Erden weithin unerkannt und wird bei seiner Parusie von allen erkannt werden. Das erklärt historisch Jesu Schicksal und passt theologisch zur Beobachtung, dass sein Wirken (wie überhaupt das Wirken Gottes in der Welt) Glauben provozieren sollte. Jesu Unverwechselbarkeit bei der Parusie markiert das Ende der Möglichkeit, sich glaubend oder nicht-glaubend zu positionieren.6

2.5.4 Kult- und sozialkritischer Sprengstoff

Die Heilung nicht kultfähiger, ‚unreiner‘ Menschen, die Zuwendung zu Sündern und Zöllnern und erst recht die Reintegration jener Personen in Kult und Gemeinschaft rührte an die sozialen und religiösen Grundlagen der Zeit und provozierte energischen Widerstand seitens der jüdischen Führungsschicht.1

Beispiele: Dem geheilten Aussätzigen befiehlt Jesus zu schweigen und schickt ihn zu den Priestern, um seine Kultfähigkeit zu zeigen (Mk 1,40–44; vgl. Lk 17,14). Die Durchbrechung des Schweigegebots zwingt Jesus zum Rückzug an einsame Orte (Mk 1,45). – Die Sabbatheilung des Blindgeborenen provoziert eine heftige Debatte, die mit dem Rauswurf des Geheilten aus der Synagoge endet (Joh 9,34; vgl. Mk 3,1–6). – Jesu Zuspruch der Sündenvergebung gilt als gotteslästerliche Kompetenzüberschreitung (Mk 2,5f.).2

Jesus transportiert mit seinem Wirken auch ein provokantes Bild von Gott, der sich den ‚Verlorenen‘ in Israel und Nichtjuden zuwendet. Ansagen Johannes des Täufers und Jesu, wonach am Ende möglicherweise andere in den Genuss der Verheißungen kommen als die angestammten Verheißungsträger, sind ein Affront.3 Auch passt das (un-)politische Verhalten Jesu nicht zur Erwartung eines politischen Messias.4 Die Ablehnung Jesu entzündet sich demnach am Konflikt um politische, religiöse und gesellschaftliche Macht und Deutungshoheit.

2.5.5 Fazit: Eschatologisch-kritische Funktion

Die Evangelien arbeiten die polarisierende Wirkung der Wunder Jesu heraus. Die Wunder an sich stehen demnach außer Frage; Streitpunkt ist die Wundervollmacht. Die Wunder sind, was ihre Wirkursache angeht, uneindeutig und verwechselbar. Wer Jesus Glauben schenkt, sieht in den Wundern Gott am Werk, wer ihn ablehnt, stuft sie als satanisch gewirkte Magie ein. Wunder zielen auf glaubende Zustimmung und auf Lobpreis des Schöpfergottes. Die Geheilten und Augenzeugen, die zum Glauben finden, fungieren in den Wundertexten als Vorbilder.

Die Wunder Jesu befördern den Trennungsprozess zwischen glaubenden Insidern und nicht-glaubenden Outsidern. Schweigegebote sollen diese Trennlinie zementieren. Zeichenforderungen lehnt Jesus ab; das unterstreicht die Funktion der Wunder. Die polarisierende Wirkung erklärt, weshalb Jesus trotz seines göttlichen Charismas abgelehnt und hingerichtet wurde; niedrige Beweggründe wie kultisch-politischer Machterhalt und religiöse Deutungshoheit spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Wundertexte appellieren mit dieser Darstellung an die Leserschaft, zu Insidern zu werden bzw. in die Nachfolge zu treten.

2.6 Ergebnis: Die historische Plausibilität der Wunder Jesu

Jesus von Nazareth war eine schillernde Figur. Seine Außenwahrnehmung oszillierte, er ließ sich nicht eindeutig einer bestimmten Gruppe zuordnen. Einige Wunder hatten magische Züge. Teilweise erinnerte Jesus an atl. und frühjüdische Wunderpropheten, teilweise war er als Halbgott oder menschlicher Wundertäer hell. Couleur wahrzunehmen. Sein Eigenprofil besteht in der Verbindung von Wundertaten und Reich-Gottes-Botschaft. In den Wundertaten wird punktuell und anfanghaft sichtbar und spürbar, was von Gottes Herrschaft zu erwarten ist: das Ende von Unrecht, Ausgrenzung, Krankheit, Leid, existenzieller Not und Tod. Die Wundertaten und -texte machen Gott in seiner Schöpfermacht, aber auch in seiner umfassenden Gerechtigkeit und Güte publik.

Diese Botschaft provoziert und polarisiert. Gesellschaftlich Etablierte in Machtpositionen fühlen sich angegriffen und reagieren mit Widerstand, die Marginalisierten begegnen Jesus mit Hoffnung und Glauben. Mit ihrer polarisierenden Wirkung befördern die Wunder die eschatologische Scheidung (gr. krísis) zwischen Glaubenden und Unglaubenden. Der esoterische Zug im Wirken Jesu (vgl. die mk. Schweigegebote und die ‚Parabeltheorie‘ Mk 4,10–13parr.) unterstreicht das apokalytisch gefärbte Geschichtsbild, in welches das Wirken des erinnerten Jesus eingezeichnet wird. In diesem Rahmen appellieren die Wundertexte an die Leserschaft, Jesu Vollmacht anzuerkennen und zu Insidern zu werden.

Die Historizität der Wunder ist nicht beweisbar. Wunder als Facette des Charismas Jesu gehören jedoch zu den plausiblen Wirkursachen für den sich entwickelnden Christusglauben. Reale Erfahrungen und Begegnungen der Menschen mit dem Charisma Jesu und mit der Präsenz des Auferstandenen erklären, wie sich der Christusglaube trotz des Traumas von Karfreitag fortsetzen und durchsetzen konnte. Nicht verbürgt die historische Wahrheit der Wunder die Glaubwürdigkeit des Evangeliums, sondern umgekehrt verbürgen historisch plausible Begegnungen und Erfahrungen die Wahrheit des Christusglaubens und der Wunder. Nicht verbürgt die historische Wahrheit des leeren Grabes die Glaubwürdigkeit der Auferstehung Jesu, sondern umgekehrt verbürgen historisch plausible Erfahrungen des Jüngerkreises die Wahrheit des Osterglaubens.


Zur Genese des christlichen Wunderglaubens

3 Grundlinien der Wunderforschung

Die Abschnitte 3.1–3.4 skizzieren den Verlauf der Wunderdeutung bzw. -forschung von den Anfängen bis heute. Abschnitt 3.5 bündelt kritisch die Forschungsergebnisse anhand leitender Forschungsalternativen. Weiterführende Überlegungen zur Wundertheorie und -definition (Abschnitt 3.6) schließen das Kapitel ab.

3.1 Wunderdeutung bis zur Neuzeit

Das antike Deutungsspektrum zu Wundern und Wundertexten reicht von naiver Volksfrömmigkeit über rationale, mythische, allegorische Deutung, bis hin zu grundsätzlicher Skepsis, Spott, Unterscheidung zwischen adýnata und parádoxa sowie intellektueller Polemik. Die intellektuelle Wunderkritik spricht gegen die Annahme einer allgemeinen Wundergläubigkeit. Bernd Kollmann resümiert:

„Jenseits gezielter Reflexion über eine bestimmte naturgesetzliche Ordnung und deren Durchbrechung stellt ein Wunder im antiken Denken ein Aufsehen erregendes Geschehen dar, das außerhalb des Gewohnten liegt und Hinweischarakter auf eine höhere Macht hat.“1