Wunder

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d) Fazit: Ankerpunkte des kollektiven Gedächtnisses

Mythische Texte erklären ätiologisch, unter Verweis auf vorgeschichtliches, göttliches Wirken, politische, religiöse und gesellschaftliche Gegebenheiten. Die wissenschaftlich-rationale Weltsicht sieht in Mythen Relikte eines überholten Weltbildes. Doch leben Mythen und mythische Erfahrungen bis heute weiter. Charakteristisch ist dabei der Eindruck sich verdichtender, konzentrierter Wirklichkeit; die Grenzen von Raum und Zeit scheinen durchlässig. Mythische Ereignisse haben eine eigene Qualität: Sie werden als eminent bedeutsam erfahren und werden zu Ankerpunkten des kollektiven Gedächtnisses.1

1.7.6 Rationalismus

Rationalismus (von lat. ratio: Vernunft, Verstand) bezeichnet eine wissenschaftliche Grundhaltung, eine metaphysische Theorie, ein erkenntnistheoretisches Prinzip und eine Epoche der europäischen Aufklärung, welche die ratio des Menschen zum alleinigen Ausgangspunkt philosophischer Welterklärung machte.1 René Descartes (1596–1650) erklärte die Vernunft zur Erkenntnisquelle schlechthin. Dies führte zur Loslösung der Philosophie sowie der Natur- und Humanwissenschaften von Theologie und Kirche mit ihrem bis dato normativen Welterklärungsmodell. – Als wahr gilt rationalistisch nur das, was rationale Logik, naturwissenschaftliches Experiment, empirische Untersuchung oder historische Forschung erklären bzw. beweisen können. Wissenschaftlich nicht erklärbare Phänomene wie die Wunder Jesu unterliegen einer Grundsatzkritik und werden als Relikte einer vorwissenschaftlichen Weltbetrachtung bzw. als unwahr etikettiert. – Der Rationalismus führte auf Seiten aufgeklärter Theologen zum breit angelegten Versuch, biblische Wundertexte rational zu erklären (→ 3.2.2).

1.7.7 Spiritualität

Der lat. Begriff spiritualis (gr. pneumatikós, geistlich) bezeichnet eine persönlich-religiöse, auf Gottesbeziehung und Ethik ausgerichtete Lebenshaltung jenseits des regulierten kirchlichen Lebens bzw. den emotionalen Bereich des Glaubens.1 Der Theologe Hans Urs von Balthasar (1905–1988) definiert Spiritualität als

„praktische und existentielle Grundhaltung eines Menschen, die Folge und Ausdruck seines religiösen – oder allgemeiner: ethisch-engagierten Daseinsverständnisses ist: eine akthafte und zuständliche (habituelle) Durchstimmtheit seines Lebens von seinen objektiven Letzteinsichten und Letztentscheidungen her.“2

Spiritualität enthält einen religionssoziologischen (individuelle Frömmigkeit, überkonfessionelle Gemeinschaftserlebnisse, unkirchliches Interesse an einem göttlichen Mysterium), einen religionspsychologischen (Spiritualität als besondere Form der Wirklichkeitswahrnehmung) und einen religionsgeschichtlichen Aspekt (Gnostizismus, Esoterik). Gemeinsam ist die Abgrenzung von intellektuell-theologischer und dogmatisch-liturgisch festgelegter, religiöser Praxis. Der Begriff Spiritualität bleibt jedoch schillernd; eine übergreifende Definition versucht der Mediziner Arndt Büssing (*1962):

„Mit dem Begriff Spiritualität wird eine nach Sinn und Bedeutung suchende Lebenseinstellung bezeichnet, bei der sich der/die Suchende seines/ihres ‚göttlichen‘ Ursprungs bewusst ist (wobei sowohl ein transzendentes als auch ein immanentes göttliches Sein gemeint sein kann, z.B. Gott, Allah, JHWH, Tao, Brahman, Prajna, All-Eines u.a.) und eine Verbundenheit mit anderen, mit der Natur, mit dem Göttlichen usw. spürt. Aus diesem Bewusstsein heraus bemüht er/sie sich um die konkrete Verwirklichung der Lehren, Erfahrungen oder Einsichten im Sinne einer individuell gelebten Spiritualität, die durchaus auch nicht-konfessionell sein kann. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensführung und die ethischen Vorstellungen.“3

Spiritualität gibt es in jeder Religion. Spirituelle Praktiken sind Meditation, Kontemplation, Askese, mystische Versenkung, Exerzitien, Wallfahrten, Heiligenverehrung, Kirchenmusik und Glaubenskurse. Ein profaner Begriff von Spiritualität hebt dagegen auf allgemeine Sinn- und Wertfragen ab.4

a) Religionssoziologischer Aspekt: Das frühe Christentum kennt eine individuelle Spiritualität. Von der spirituell-mystischen Gottesreich-Vorstellung aus (Lk 17,20f.; EvThom Log 113) entwickelte sie sich in verschiedenen Ausprägungen bis in die Gegenwart. Spiritualität ist tendenziell überkonfessionell. Im Gefolge der Postmoderne hat unkirchliche Spiritualität Hochkonjunktur (Meditation, Mystik, Pilgerfahrten). Das weist auf eine neue Sehnsucht nach religiöser Erfahrung und auf eine sich etablierende religiöse Alternativkultur hin.5 Diese ist von der Grundtendenz her monistisch-synkretistisch ausgerichtet.6

b) Religionspsychologischer Aspekt: Spirituelle Wirklichkeitserfahrung folgt nicht den Regeln wissenschaftlich-rationalen Denkens, sondern einer eigenen Logik. Ähnlich wie bei mythischen Erfahrungen ist die Konzentration bzw. Verdichtung von Wirklichkeit, Macht und Zeit charakteristisch.7

c) Religionsgeschichtlicher Aspekt: Im antiken und modern-esoterischen Gnostizismus zielt Spiritualität auf die innere Harmonie des göttlichen Wesenskerns im Menschen mit der das All durchwaltenden Weltseele sowie auf innere Erleuchtung und erlösendes Wissen (gr. gnósis). Letzteres bezieht Elemente verschiedener Kulte und Religionen mit ein (esoterischer Synkretismus). Typisch ist der Rekurs auf keltische und germanische Kulte, auf Schamanismus und Magie sowie auf fernöstliche Religionen (z.B. Zen, Yoga → 1.7.3f.).

1.7.8 Mystik

Mystik ist ein Begriff mit unklaren Konturen.1 Laut DUDEN ist Mystik eine

„besondere Form der Religiosität, bei der der Mensch durch Hingabe u. Versenkung zu persönlicher Vereinigung mit Gott zu gelangen sucht; vgl. Unio mystica.“2

Mystisch sind Erfahrungen unmittelbarer Gottesbegegnung und klarster Erkenntnis. Mystik ist, so betrachtet, eine intensive Form der Spiritualität. Mystische Erfahrungen sind wie Wunder unverfügbar, nicht reproduzierbar und setzen eine religiös-mystische Optik auf die Wirklichkeit voraus. Auch Wunder haben eine mystische Dimension: das Einswerden zwischen menschlichem Gebet, Glauben und Hoffnung mit der erbarmenden, liebenden Zuwendung des göttlichen Wundertäters. Das Einswerden mit Gott setzt die Aufhebung der Grenze zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt voraus. (Traum-)Vision und Audition, Ekstase, Glossolalie, Prophetie, Inspiration, Gebete und Askese sind Wege dorthin.

Okkulte Kontaktaufnahme mit jenseitigen Mächten wie Engeln, Dämonen oder den Geistern Verstorbener gehört nicht zur Mystik. Der mystische Kontakt beschränkt sich im NT auf Gott oder den erhöhten Christus, der als Einziger autorisierte Auskünfte über Gott machen kann (Joh 1,18).3 – Mystik ist auch eine Facette apokalyptischen Denkens. Entrückungen und Himmelsreisen sorgen für mystische Erfahrungen (Paulus: 2 Kor 12,1–4; Johannes: Apk 4ff.). Entrückt in die göttliche Sphäre, bekommen die Visionäre Einsicht in jenseitige oder zukünftige Vorgänge. Das Gesehene muss zum Teil von Deuteengeln entschlüsselt werden und unterliegt der Geheimhaltung; nur zu bestimmten Zeiten und an ausgewählte Adressaten darf es veröffentlicht werden.

1.7.9 Weiche Fakten

Weiche Fakten sind solche, die sich, wie etwa Wunder, naturwissenschaftlich-empirisch weder erklären noch beweisen lassen. Ihre Wahrheit erschließt sich Wahrnehmungsarten jenseits der nüchtern-analytischen Optik auf die Wirklichkeit.

Beispiele: Wer atl. Weisheit zustimmt, für den sind Sprichwörter wie ‚Lügen haben kurze Beine‘ wahr. Für Esoteriker steht der Einfluss des Mondes auf Alltagsphänomene außer Zweifel. Musikliebhaber sehen in manchen Kompositionen regelrechte Offenbarungen. Kunstbeflissenen Menschen ergeht es mit Exponaten moderner Kunst ähnlich. Begegnungen mit dem Göttlichen sind für religiös-mystisch gestimmte Menschen real erlebbar. Liebende sehen in ihrem Gegenüber einen ganz besonders liebenswerten Menschen. – Nichts von alledem ist beweisbar, steht aber für Menschen mit entsprechendem Sensus außer Frage.

Bestimmte weiche Fakten sind nur für Einzelne wahrnehmbar (Visionen, Träume), andere für Gruppen von Menschen, die dieselbe Wahrnehmung teilen (z.B. Therapien, Speisungen). Voraussetzung ist die Offenheit für die religiös-mystische Dimension der Wirklichkeit und die intensive Beziehung zu einem gleichgestimmten Gegenüber. Wunder sind das Ergebnis eines Einswerdens von Gott und Mensch oder gleichgestimmter Menschen untereinander (→ 3.6.3). Dieses Einswerden führt zu intensiven, mitunter umstürzenden und befreienden Erfahrungen, die für die Betroffenen und Augenzeugen durchaus real sind. Weiche Fakten haben für sie eine Wertigkeit, die harten Fakten vergleichbar ist, selbst wenn sie rational nicht beweisbar sind. Die Wahrheit weicher Fakten ist zum Teil intersubjektiv vermittelbar, ‚objektiv‘ überprüfbar und an ihrer Wirkung erkennbar, aber nicht im Sinne rationaler Kausalität beweisbar.1

1.7.10 Faktualität/Fiktionalität

Diese literaturwissenschaftlichen bzw. erzähltheoretischen Kategorien umschreiben den Wahrheitsanspruch eines Textes.1 Vor dem Hintergrund des wissenschaftlich-rationalen Wahrheitsbegriffs bilden Faktualität und Fiktionalität ein Gegensatzpaar – tertium non datur. Faktual sind demnach Texte, die sich auf ein konkretes historisches Geschehen beziehen. Faktualität ist semantisch, textpragmatisch oder durch Kontextbezug ausweisbar und ist nicht gleichbedeutend mit Faktizität. Faktizität meint die minutiös korrekte Wiedergabe des historischen Ereignisses (Zeitungsmeldung, Nachrichtensendung), Faktualität lediglich den grundsätzlichen Verweis auf eine historische Grundlage. Geschichtsschreibung, Reportagen, Zeugenberichten und Ähnlichem kommt insofern keine Faktizität zu, als sie das real Geschehene subjektiv deuten und darstellen.

 

Fiktional sind dagegen Texte, die sich als Phantasieprodukt zu erkennen geben (Märchen, Gleichnis, Fabel, Mythos, Roman, Lyrik, Traumvision). Fiktionalität ergibt sich aus der Semantik (z.B. die Märchen-Einleitung ‚es war einmal‘, die Überschrift ‚Gleichnis‘ u.ä.) oder aus dem unrealistisch-fiktiven Sujet (Fiktivität: Tiere als Handlungsträger, sprechende Pflanzen, Superhelden u.a.). Die ‚Wahrheit‘ fiktionaler Texte ist jenseits der wörtlichen Sinnebene zu suchen.

Ein fiktionaler Text kann durchaus reale Erzählelemente enthalten, ein faktualer Text kann auch fiktive Erzählzüge tragen. Gleichnisse erzeugen den Eindruck von Pseudo-Realistik; die alltäglich, realistisch anmutende Erzählwelt wird durch extravagante, die Realistik sprengende, Erzählzüge durchbrochen. Solche Extravaganzen fungieren als Hinweis (Transfersignal) auf eine weitere Sinnebene. Da faktuale Erzählungen immer auch fiktive, der subjektiven Deutung geschuldete, Elemente und fiktionale Texte durchaus realistische Züge beinhalten, verlaufen die Grenzen zwischen Faktualität und Fiktionalität fließend. – Aus dem Gesagten ergeben sich vier grundsätzliche Erzählmodi:


Faktuale und fiktionale Erzählungen

Anhand dieser Kategorien wird über das Verhältnis zwischen Erzähltem und Erzählung in Wundertexten nachgedacht. Konzediert wird ihnen ein faktualer Anspruch: Sie weisen auf historisches Geschehen hin (vgl. Mt 11,5; Lk 1,1–4; 4,18–21 u.a.). Dieses Geschehen (Wundertaten Jesu) wird indes kontrovers beurteilt. Seine Faktizität (genau so ist es geschehen!) wird gemeinhin bestritten. Das historische Geschehen sei allenfalls in Grundzügen real (Jesus hat erstaunliche, aber rational erklärbare Dinge getan) und hermeneutisch sei es irrelevant. Damit wird die historische Wunderfrage relativiert. Das führt zu Aussagen wie:

„Unbeschadet möglicher historischer Wurzeln ist der faktuale Anspruch allerdings ein erzählerisches Mittel im Dienst der Aussage über die Person.“2 Oder: „Die Wahrheit solcher Geschichten liegt nicht in historischen Tatsachen vor 2000 Jahren, sie liegt darin, dass, wer sie liest, selber sie wahrmacht in der eigenen Person, durch Taten im eigenen Leben.“3 Oder: „Die Wundergeschichten erzeugen mit ihren faktualen Anteilen ein Porträt des Wundertäters Jesus, das in der damaligen Alltagswelt eine plausible Realität besaß. Alle faktual berichteten Heilungen und Naturwunder waren real möglich, mussten aber nicht auf historisch verifizierenden Fakten beruhen.“4

Kritik: Wundertexte verweisen auf weiche Fakten, das heißt: Der faktuale Anspruch der Wundertexte bezieht sich auf ein historisches Geschehen, das nur subjektiv von einem Menschen (Vision, Traum, Epiphanie) oder intersubjektiv von einer Gruppe von Menschen als reales Geschehen wahrgenommen werden kann (z.B. Therapie, Rettung, Sättigung). Was für diese Menschen Realität ist, ist für andere Menschen phantastische Fiktion. Die Entscheidung über Faktualität und Fiktionalität fällt nicht in der Semantik des Wundertextes, sondern in der Optik auf die Wirklichkeit. Die historische Wunderfrage ist nicht nüchtern-analytisch, sondern religiös-mystisch zu klären und hängt von der Bereitschaft ab, die Phantastik des Erzählten als reale Erfahrung zu verstehen bzw. das ‚Unmögliche‘ des Wunderhaften für real erfahrene und real erfahrbare Wirklichkeit zu halten.


Harte Fakten, weiche Fakten und Fiktion

Die Grafik verdeutlicht den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsarten bzw. Optiken auf die Wirklichkeit (→ 3.6.2d) und der Wahrnehmbarkeit von harten Fakten (HF), weichen Fakten (WF) und Fiktion (Fi). Die Grafik zeigt, dass die kindlich-vorrationale Optik das weiteste und die nüchtern-analytische Optik das engste Wahrheits- bzw. Wahrnehmungsspektrum aufweist. Die religiös-mystische Optik bewegt sich dazwischen und erfasst auch religiöse oder mythische Dimensionen harter Fakten, was der nüchtern-analytischen Optik nicht möglich ist. Was für diese Optik irrational und fiktiv erscheint (WF, Fi), ist aus religiös-mystischer bzw. kindlich-vorrationaler Optik durchaus wahrnehmbar real. Die Entscheidung, was faktual, faktisch und fiktiv ist, wird je nach Wahrnehmungsart unterschiedlich bewertet. Dazu kommt, dass auch die nüchtern-analytische Optik nie frei von Deutung der Wirklichkeit ist. Eine Fiktion ist daher die Rede von Objektivität im Sinne unverfälschter, von subjektiven Einflüssen freier Beschreibung eines Vorgangs.

2 Historische Fragestellungen

Das Kapitel beleuchtet das Welt- und Menschenbild der Wundertexte (2.1), ihr medizin- und religionsgeschichtliches Umfeld (2.2) sowie Jesu historische Außenwahrnehmung (2.3). Überlegungen zur Genese des ntl. Wunderglaubens (2.4) und zur polarisierenden Wirkung der Wunder Jesu (2.5) runden das Kapitel ab.

2.1 Welt- und Menschenbild

Eine Kontrastierung von antik-biblischem und neuzeitlich-modernem Welt- und Menschenbild ist nicht möglich, da beides in sich uneinheitlich ist.

2.1.1 Sichtbare und unsichtbare Wirklichkeit

Das ntl. Weltbild lässt sich modellhaft als Haus mit drei Etagen (Himmel, sichtbare Welt, Unterwelt) beschreiben. Die Grenzen zwischen den Etagen sind durchlässig. Natürliche Kausalitäten können von göttlichen Kräften unterbrochen werden. Spürbare Wirkungen göttlichen Eingreifens sind z.B. Krankheiten, Wunder und Segen. Spirituell-mystische Erfahrungen mit der göttlichen Sphäre durchziehen die Bibel (z.B. Gebete, Epiphanien, Wunder, heilige Orte und Zeiten).1

2.1.2 Monotomisches Menschenbild

Die gr.-hell. Anthropologie ist dichotomisch (Körper/Seele) oder trichotomisch (Körper/Seele/Geist). Der Körper (gr. sóma) ist sterblich, Seele und Geist (gr. psyché bzw. nous) sind unsterblich.1 Laut AT und frühem Judentum ist der Mensch eine monotomische Einheit aus Körper und Seele.2 Körperliche Leiden weisen auf seelische Probleme (Sünde, Schuld) hin. An Leib und Gliedern (gr. méle) als Kontaktorganen zur Wirklichkeit vollzieht sich der kosmische Kampf zwischen Gott und widergöttlichen Mächten. Körperliche Heilung hat eine kosmische Dimension: Sie ordnet das Verhältnis des Menschen zu seiner Außenwelt heilvoll neu.3 Platonisch beeinflusst ist die paulinische Abwertung von vergänglichem Körper und Seele (äußerer Mensch) gegenüber dem unvergänglichen Geist (gr. pneúma, innerer Mensch).4 – Wunderhafte Heilungen wirken umfassend (Mk 2,1–12; Joh 5,14). Jesus ersteht auch körperlich auf (1 Kor 15,12–19).

2.1.3 Wunderglaube und Wunderkritik

Anstelle pauschaler Wundergläubigkeit oder gar Wundersucht herrschte im ntl. Zeitalter eine Mischung aus Wunderglauben und Skepsis.1 Der Glaube an Wundertaten der olympischen Götter ist Gegenstand gr. Mythendichtung.2 Als Mythen haben sie unhistorischen Charakter. Pausanias (Desc Graec 8,8,3) deutet sie symbolisch. – Ein mythisches Seenotrettungswunder dient als Beispiel:

„Damals, als das Meer heranbrauste und sich von allen Seiten auftürmte, und nichts mehr zu sehen war als das drohende Verhängnis, und schon fast der Untergang besiegelt schien: da hast Du Deine Hand dagegen erhoben, hast den verhüllten Himmel aufgehellt und hast uns das Land schauen lassen und Landung ermöglicht, so wider alles Erwarten, daß wir selbst es nicht glauben wollten, als wir auf festen Boden traten.“3

Antike Geschichtsschreiber sehen die Götter am Anfang der Weltordnung und unterscheiden zwischen unmöglichen, zu bezweifelnden Wundertaten (gr. adýnata, Totenerweckungen, Naturwunder) und möglichen, wenn auch überraschenden Wundertaten (gr. parádoxa, Heilungen u.ä.). Dieser Einschätzung folgt der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus: Parádoxa des AT ordnet er göttlicher Vorsehung zu, die Glaubwürdigkeit von adýnata lässt er offen.

Die Philosophie übt am Götter- und Wunderglauben Grundsatzkritik.4 Götter seien weltabgewandte Figuren oder abstrakte Prinzipien. Die Peripatetiker und Plinius der Jüngere (ca. 61–114 n. Chr.) deuten Wunder rational, für Lukrez (ca. 99–55 v. Chr.) und Plutarch (ca. 45–125 n. Chr.) sind sie unglaubwürdige adýnata. Lukian von Samosata (120–vor 180 n. Chr.) deutet Wundertexte allegorisch. Rational-kritisch äußert sich Philostrat (ca. 164–244 n. Chr.): Mythische Wunderberichte seien Ammenmärchen.5 Der Mittelplatoniker Kelsos (2. Jh. n. Chr.) übt massive Polemik gegen biblische Wundertexte.6 Für ihn ist Jesus ein trickreicher Magier und die Christen sind ungebildete Naivlinge.

„Was über Heilungen oder eine Auferstehung aufgeschrieben wurde, oder über wenige Brote, die viele ernährt haben, von denen viele Reste übrig geblieben sind, oder all dies, was die Jünger phantasierend erzählt haben: Wohlan, wir wollen glauben, dass du all dies gewirkt hast. Sie sind aber mit den Werken der Zauberer gleichzusetzen, die noch wunderbarere Dinge versprechen, und mit dem, was die Schüler der Ägypter vollbringen, wenn sie mitten auf den Märkten für wenig Geld ihr ehrwürdiges Wissen abgeben: Sie treiben die Dämonen von den Menschen aus, blasen Krankheiten weg, rufen die Seelen der Heroen auf, zeigen kostbare Mahlzeiten und Tische und Näschereien und Leckerbissen, die es gar nicht gibt; sie setzen Dinge in Bewegung, als wären sie Lebewesen, die aber wirklich keine Lebewesen sind, sondern nur in der Einbildung als solche erscheinen. Da jene Leute solche Dinge tun können, müssen wir sie dann für Söhne Gottes halten? Oder müssen wir sagen, dass dies die Betätigungen von schlechten und von einem bösen Geist besessenen Menschen sind?“7

In der Volksfrömmigkeit bleibt Götter- und Wunderglaube fest verankert; das erklärt die teils massive Polemik gegen Wunder(-glauben). Selbst manche Gebildete glauben an Wunder; darüber macht sich der Satiriker Lukian lustig.8

2.1.4 Nebeneinander von Mythos und ratio

Mythisches Denken gilt heutzutage als überholt und rational denkenden Menschen unzumutbar. Doch, wie antike Texte zeigen, bestanden Mythos und ratio immer schon nebeneinander. Auch sind mythische Erklärungsmuster längst nicht passé. Das provoziert ein Nachdenken über verschiedene Weltsichten (→ 3.6.2d).