Wunder

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1.5 Was sind eigentlich Wunder?

Der Abschnitt liefert eine erste Annäherung an den Wunderbegriff. Die Wunderdefinition dieses Buches wird unter → 3.6.6 vorgestellt.

Wunder erregen Staunen, denn sie zeigen, was alles möglich ist, und sie wirken heilvoll. Wunder sind wissenschaftlich-rational nicht beweisbare, unverfügbare weiche Fakten. Die Feststellung von Wundern ist Sache subjektiver Deutung. Zu unterscheiden sind ein profan-ästhetischer, ein kontingent-liberativer und ein biblisch-konfessorischer Wunderbegriff. Die semantisch orientierte Definition des Religionswissenschaftlers Ulrich Nanko fängt die Bandbreite des Begriffs ein:

„Das dt. Wort ‚Wunder‘ bezeichnet allgemein ein Ereignis, das aus dem Bereich des Gewohnten herausfällt; das semantische Feld reicht von einem ‚Unerwarteten‘ bis zu der ‚Norm-Überschreitung‘. Die Reaktion auf dieses Ereignis kann einerseits zu Staunen und Bewunderung, andererseits zu Schrecken, Furcht und Angst führen.“1

1.5.1 Biblische Wunderterminologie

Die gr. Sprache kennt unterschiedliche Termini für wunderhafte Vorgänge:

a) Thauma: Der Terminus bezeichnet eine staunenswerte Sehenswürdigkeit oder eine spektakuläre Wundertat. Der Begriff findet im NT keine Verwendung.

b) Areté meint ursprünglich Tugend, kann aber auch besondere Tüchtigkeit oder eine Heldentat umschreiben. Auch dieser Begriff fehlt im NT.

c) Thaumásion beschreibt etwas Staunenswertes oder Wunderbares. Der Terminus ist ein ntl. Hapaxlegomenon (Mt 21,15).

d) Parádoxon: Etymologisch zielt der Begriff auf etwas, das gegen die Erfahrung steht, und benennt ein unerwartetes, unglaublich scheinendes Ereignis. Auch dieses Nomen ist ein ntl. Hapaxlegomenon (Lk 5,26).

e) Dýnamis: Das Nomen dýnamis bezeichnet eine besondere Kraft- oder Machttat, genauer die göttliche Kraft, die ein Wunder bewirkt (vgl. Mk 6,2; Mt 11,20f.).

f) Semeíon: Der Terminus kennzeichnet vorzugsweise im JohEv Wundertaten als Zeichen, die auf Gottes Handeln hinweisen (vgl. Mk 8,12; Joh 2,11; 20,30).

g) Téras: Das Nomen umschreibt eine außergewöhnliche Erscheinung bzw. ein göttliches (Vor-)Zeichen. Es umschreibt besonders in der Apg in Kombination mit semeíon die Vielfalt wunderhafter Taten und Ereignisse.1

h) Érgon: Das Nomen gehört mit téras und semeíon zu den ntl. Hauptbegriffen der Wundertaten und deutet diese als göttliche Werke (vgl. Mt 11,2; Joh 9,3).

Fazit: Es gibt keine einheitliche ntl. Wunderterminologie; Wunder sind nicht Gegenstand eines theoretischen Diskurses, sondern von Erzählungen.2 Eine Durchbrechung von Naturgesetzen ist mit keinem Begriff impliziert. Das Wort adýnaton ist kein ntl. Wunderterminus; für Gott gibt es aus biblischer Sicht nichts Unmögliches.3

1.5.2 ‚Weiche Fakten‘

Die rationalistische Wunderdeutung deutete im 18. und 19. Jh. die Wunder Jesu als erklärbare harte Fakten und nahm ihnen damit das Wunderhafte; der wissenschaftlich-rationale Wahrheitsbegriff wird ihnen jedoch nicht gerecht. Als weiche Fakten folgen die Wunder einer eigenen, rational beschreibbaren Logik. Sie erschließen sich am ehesten einer religiös-mystischen Weltsicht (→ 1.7.9; 3.2.2; 3.6.2f.).

a) Wissenschaftlich unerklärbare Vorgänge

Für die wissenschaftliche Vernunft sind Wunder eine unmögliche Möglichkeit und daher als Falschbehauptung, Märchen, Mythos, Sinnestäuschung oder Unwahrheit zu werten. Die rationale Erklärung macht die Wundertexte zwar glaubwürdig, nimmt ihnen aber das Wunderhafte bzw. führt zu ihrer Ent-Wunderung.

Beispiele: Die unerklärliche Gesundung von eigentlich unheilbarer Krankheit gilt als ‚Spontanheilung‘.1 Die Etikettierung macht deutlich, dass der Vorgang medizinisch nicht erklärbar ist. – Krankheitsbilder, für die es (bislang noch) keine erklärbare Ursache gibt, gelten als ‚idiopathisch‘ (wörtlich: ohne erkennbare Ursache, selbstständig), was ebenfalls Rätselhaftigkeit andeutet.

b) Ereignisse mit eigener Kausalität

Wunder sprengen mit ihrer unverfügbaren Kontingenz die Logik naturwissenschaftlich-rationaler Kausalität. Die religiös-mystische Logik und Kausalität der Wunder besagt, dass nachhaltiger Glaube, intensives Gebet und konzentrierte Hoffnung im Zusammenspiel mit göttlicher, liebend-barmherziger Zuwendung Wunder bewirken können. Mystisch daran ist, dass menschliche Verfasstheit und Gestimmtheit mit göttlicher Verfasstheit und Gestimmtheit eins werden.

Beispiele: Blutflüssige Frau (Mk 5,25–34parr.), blinder Bartimäus (Mk 10,46–52parr.) und Lazarus (Joh 11) sind Beispiele für die beschriebene Wunderlogik. Laut Mk 2,5; 5,34; 10,52 u.a. ist der Glaube die wunderwirkende Kraft. – Mt 17,20 spricht selbst unscheinbarem Glauben Wunderkraft zu. – Ein modernes Beispiel ist das ‚Wunder von Lengede‘ 1963: Die Rettung von elf Kumpels aus einem überfluteten Stollen lässt sich als Zusammenwirken intensiver Gebete, nachhaltiger Rettungsbemühungen und einem göttlichen Wunder werten.

Wunder können aber auch spontan geschehen. Voraussetzung für die Wahrnehmung von Wundern ist die Offenheit für eine religiös-mystische Weltsicht; dem nüchtern-analytischen Blick bleiben Wunder verborgen (→ 3.6.2d).

c) Wunder oder doch eher Zufall?

„Wenn alle Lose einer Lotterie verkauft sind, wird ein Hauptgewinner dabei sein. Für denjenigen, den es trifft, wird es ein Leben lang ein Wunder bleiben […]. Aber die Tatsache, dass es einen Gewinner gibt, ist bei einer fairen Lotterie kein Wunder.“1

Die Feststellung eines Wunders hängt von der persönlichen Wahrnehmung ab. Was in nüchtern-analytischer Optik eine Verkettung glücklicher Umstände, ein Zufall, ist, ist in religiös-mystischer Optik eine heilvolle, wunderhafte Fügung.

Beispiel: Das zitierte ‚Wunder von Lengede‘ ist als Wunder und als glücklicher Zufall zugleich bewertbar. Ob man ein göttliches, rettendes Eingreifen annimmt oder einen Riesenzufall: In beiden Fällen kommt die Unverfügbarkeit des Geschehens zum Ausdruck. Wie es letztlich zu deuten ist, ist objektiv nicht zu entscheiden; für die Betroffenen ist es jedoch ein Fakt – so oder so.

1.5.3 Profan-ästhetischer Wunderbegriff

Dieser weite Wunderbegriff bezieht sich auf staunenswerte Phänomene im nicht-religiösen, allgemein kulturellen Kontext. Ungewöhnlich beeindruckende Naturphänomene, Kunstwerke und technische Errungenschaften, aber auch ‚Wunderkinder‘, die ‚sieben Weltwunder‘ oder die Mondlandung erregen Staunen. Auch rational erklärbare, wiederkehrende Ereignisse, wie z.B. die Geburt eines Kindes, die ‚große Liebe‘, das neu aufblühende Leben im Frühjahr oder eine reiche Ernte, lassen sich als ‚Wunder‘ deuten. Der gr. Terminus thaumásion (Staunenswertes) trifft diesen Wunderbegriff. Die Wirkung profan-ästhetischer Wunder besteht in Staunen, Verwunderung und in der Bereicherung des Weltbildes. Eine religiöse Deutung kann, muss aber nicht erfolgen.1

1.5.4 Kontingent-liberativer Wunderbegriff

Dieser Wunderbegriff betrifft einmalige, überraschende, unverfügbare Ereignisse, die das Leben heilvoll und nachhaltig verändern (Befreiung, Erlösung, lat. liberatio). Wunder im kontingent-liberativen Sinne sind nicht gegen Naturgesetze gerichtet, sondern sprengen den Rahmen des Normalen, Gewöhnlichen, allgemeiner Lebenserfahrung oder statistischer Wahrscheinlichkeit.1 Auf sie passt der gr. Terminus parádoxon. Solche Ereignisse lassen sich als göttliche Fügung oder als Zufall deuten, das heißt, sie sind kontingent.2 Typische Reaktionen sind Staunen, Verwunderung, Dankbarkeit, Freude, Erleichterung und Hoffnung.

Beispiele: Wer aus schwerer Krankheit glücklich heraus und wieder ins Leben findet, kann das als Wunder ansehen. Wer unbeschadet an einem Verkehrsunfall vorbeikommt, vielleicht wegen einer ungewollten Verzögerung bei der Abfahrt, kann das Geschehen ebenfalls als glückliche Fügung deuten. Dass ein verloren geglaubter Sohn nach Jahren wieder auftaucht und Kontakt sucht, ist für jemanden, der nicht mehr damit gerechnet hat, erstaunlich und erfreulich zugleich; die glücklichen Eltern deuten es möglicherweise als Wunder.

Kontingent-liberative Wunder sind unverfügbare Heilsereignisse.3 Sie sind weder planbar noch machbar. Sie haben Geschenkcharakter, sind in der Regel einmalig und lassen sich nicht im Reagenzglas reproduzieren. Damit sind sie im wissenschaftlich-technischen Sinne nicht beweisbar.

1.5.5 Biblisch-konfessorischer Wunderbegriff

Der biblisch-konfessorische Wunderbegriff setzt eine religiös-mystische Weltwahrnehmung voraus. Sie erkennt in allem, was geschieht, einen höheren Sinn, ein Ziel und eine glückliche, gottgewirkte Fügung. Wer so denkt, glaubt nicht an Zufälle und hat prinzipiell Hoffnung, dass selbst aussichtslose Situationen eine wunderbare Wendung zum Guten nehmen könnten. Selbst Naturgesetze erscheinen überwindbar. – Der biblisch-konfessorische Wunderbegriff hat fünf Merkmale: Erstens, er weist auf ein göttliches Eingreifen ins Weltgeschehen hin; zweitens, er impliziert die Durchbrechung vielfältiger Ordnungen; drittens, er führt zu religiös-mystischer Erkenntnis; viertens, er setzt nachhaltige Hoffnung frei; fünftens, er kollidiert mit dem naturwissenschaftlich-rationalen Weltbild.

 

ad 1) Hinweis auf ein göttliches Eingreifen: Biblische Wunder sind Zeichen der heilvollen Zuwendung des Schöpfergottes zur Welt. Als solche sind sie gleichsam die Spitze des biblischen Gottesglaubens und damit theologisch unverzichtbar.

Beispiel: Das JohEv nennt die Wunder Jesu wiederholt Zeichen (gr. semeía). Was Jesus tut, hat Hinweischarakter. Seine Wundertaten offenbaren die ‚Werke Gottes‘ und seine Schöpfermacht. Für den glaubenden Menschen gibt es allenfalls einen graduellen Unterschied zwischen subtilen Fügungen und spektakulären Wundern. Entscheidend ist, dass überhaupt mit göttlichen, wunderhaften Wendungen zum Guten gerechnet werden kann.

ad 2) Durchbrechung vielfältiger Ordnungen: Der biblische Wunderbegriff impliziert die Sprengung festgefügter Grenzen.1 Die Durchbrechung von Naturgesetzen ist dabei nur ein Aspekt; gleichgewichtig ist die Durchbrechung sozialer und religiös-moralischer Regeln. In deren heilvoller Durchbrechung zeigen sich Gottes Schöpferkraft und seine kompromisslose, liebende Zuwendung zum Menschen. In ihrer Gesamtheit weisen die Regelverstöße auf einen ganzheitlichen, den Menschen in all seinen Bezügen einbeziehenden, Wundervorgang hin.

Beispiele: ‚Normenwunder‘ durchbrechen soziale Regeln und religiös-moralische Werthaltungen. Naturwunder, Geschenkwunder und Totenerweckungen sprengen Naturgesetze: Ein Sturm lässt sich nicht durch Bedrohung stillen, fünftausend Menschen werden nicht von fünf Broten und zwei Fischen satt, ein Toter kommt nicht zurück ins Leben. An solchen Wundertexten macht sich die wissenschaftliche Grundsatzkritik am biblischen Weltbild fest (→ 3.2.1).

ad 3) Provokation religiös-mystischer Erkenntnis: Biblisch-konfessorische Wunder provozieren eine göttliche Erkenntnis bzw. ein Bekenntnis (lat. confessio). Typische Reaktionen sind, neben Staunen und Verwunderung, Bewunderung, Dank und Bekenntnis oder Furcht und Entsetzen angesichts der beklemmenden Präsenz Gottes. Darüber hinaus provozieren diese Wunder oftmals eine Kontroverse über die Vollmacht des Wundertäters (eschatologisch-kritische Funktion → 3.6.5g).

ad 4) Wirkung nachhaltiger Hoffnung: Die heilvolle, wunderbare Durchbrechung des ‚Normalen‘ führt zu einer nachhaltig veränderten Weltsicht: Der Blick weitet sich; was zuvor unmöglich schien, scheint auf einmal möglich. Wunder begründen die Hoffnung auf Erlösung von Leid, Vergänglichkeit und Tod. Wunder „sind der letzte Ankerpunkt der Hoffnung da, wo es, nüchtern-rational betrachtet, nichts mehr zu hoffen gibt“2 (‚da hilft nur noch ein Wunder!‘).

Wer an Wunder glaubt, für den gibt es keine Grenzen des Möglichen. Gottes Fürsorglichkeit, die sich oft in subtiler Führung im Alltag zeigt (kontingent-liberativer Wunderbegriff), und Gottes Schöpferkraft, die in biblischen Erzählungen aufscheint, sind nicht voneinander zu trennen. Derselbe Gott, der mich durch den Alltag führt, kann mich auch in aussichtslosen Situationen bewahren und zu neuem Leben führen – selbst dann, wenn andere mich auf Grundlage empirischer Statistik oder Lebenserfahrung schon aufgegeben haben.

ad 5) Konflikt mit dem naturwissenschaftlich-rationalen Weltbild: Die biblischen Wunder durchkreuzen die Lebenserfahrung und sprengen festgefügte Grenzen. Während soziale und religiös-moralische Grenzüberschreitungen rational ‚unverdächtig‘ sind, stellt die Durchbrechung natürlicher Ordnungen, wissenschaftlich-rational betrachtet, eine unmögliche Möglichkeit (gr. adýnaton) dar. Doch die Wundertexte lassen keinen Zweifel daran, dass auch Naturgesetze durchbrochen werden; sie konfrontieren die menschliche ratio mit der Wirklichkeit des naturhaft Unmöglichen, mit der Befreiung aus festgefügten sozialen Strukturen und mit der Durchbrechung religiös-moralischer Werthaltungen.3

1.5.6 Fazit: Provokation der menschlichen ratio

Biblisch-konfessorische Wunder provozieren Staunen, Entsetzen, Lobpreis und göttliche Erkenntnis, denn sie überschreiten die Grenzen des mit menschlicher ratio Erwartbaren und Erklärbaren. Sie legen gleichsam den Finger in die Wunde eines sich selbst absolut setzenden, naturwissenschaftlich-rationalen Wahrheitsbegriffs. Der Wunderglaube impliziert eine unsichtbare Wirklichkeit jenseits empirisch beschreibbarer, naturwissenschaftlich erforschbarer und mathematisch berechenbarer Wirklichkeit. Wunder verweisen auf Geschehnisse zwischen Himmel und Erde, die mit nüchtern-analytischem Blick nicht zu erfassen sind.

„Die neutestamentlichen Wundergeschichten sind nicht irrational, paranormal oder schamanisch, sondern friktional zu verstehen. Sie sind Ausdruck einer alternativen Wirklichkeitserschließung, die sich ihren Blick nicht durch die Sachzwänge von Normierungen und Normalisierungen verstellen lässt.“1

Es ist eine Aufgabe dieses Buches, die Wundertaten und Wundertexte von der Messlatte aufgeklärter Vernunft zu befreien und ihnen den Stellenwert in Wirklichkeit und Theologie zurückzugeben, der ihnen angemessen ist.

Wunderbegriffe


profan-ästhet. Wunderbegriff kontingent-liberativer W.-begriff bibl.-konfessorischer W.-Begriff
gr. Terminus thaumásion parádoxon adýnaton
Messlatte das Gewöhnliche das Wahrscheinliche das Mögliche/feste Ordnungen
Gegenstand ästhetische Objekte (Natur, Kultur, Technik) heilvolle, kontingente Ereignisse heilvolles, Normen sprengendes Eingreifen Gottes
Ursache/Wertung rational erklärbar; ‚kein Wunder‘ göttliche Fügung oder Zufall? göttliche Wundertäter, rational nicht erklärbar
Reaktionen Staunen, Verwunderung, Erweiterung des Weltbildes Dankbarkeit, Glück, Freude, Erleichterung, Hoffnung Furcht, Entsetzen, Lobpreis, Bekenntnis, Glaube, Nachfolge, Hoffnung, Widerstand

Differenzierung der Wunderbegriffe


Abstufungen des Begriffs ‚Wunder‘

1.5.7 Exkurs: Naturgesetze und Quantenphysik

Die bahnbrechenden Entdeckungen Albert Einsteins (1900), Max Plancks (1905), Werner Heisenbergs (1925/27) und anderer Quantenphysiker waren eine grundsätzliche Anfrage an das bis dato herrschende Verständnis der Naturgesetze als unveränderliche Elemente eines deterministischen Weltbildes.1 Die veränderte Einschätzung erweckt den Eindruck, als seien naturwissenschaftliche ratio und Wunderglaube doch vereinbar.2 Wunderhermeneutisch ändern die Erkenntnisse allerdings nichts, da die Texte den unmöglichen Charakter des wunderhaften Geschehens ausdrücklich betonen und die ratio gezielt provozieren. Eine wissenschaftlich-rationale Wunderdeutung wird auch unter verändertem Vorzeichen dem Wahrheitsanspruch der Texte nicht gerecht (→ 3.4.4; 3.5.7).

1.6 Antike Wundergattungen

Auf Grundlage der von Gerd Theißen formkritisch entwickelten Wundertypen zeigt der Abschnitt das Spektrum antiker und biblischer Wundertexte auf.1 Eine Einteilung in textpragmatisch begründete Textgruppen erfolgt unter → 3.6.5.

1.6.1 Heilungswunder/Therapien

Die verbreitetste Form antiker und biblischer Wunderberichte sind Heilungswunder (Therapien). Sie beschreiben die Heilung eines physischen Gebrechens, einer Behinderung oder psychogenen Störung. Regelmäßige Bestandteile solcher Wundertexte sind die Beschreibung der Not (ohne medizinische Präzisierung), die Begegnung des Kranken mit dem Wundertäter, der Wundervollzug und Reaktionen darauf. Die Krankheitsursache spielt nur eine marginale Rolle. – Der Babylonische Talmud bietet als Beispiel für eine Therapie ein Wunder Chanina ben Dosas:

„Einst erkrankte der Sohn Rabbi Gamaliels, und er sandte zwei Schriftgelehrte zu Rabbi Hanina ben Dosa, daß er für ihn um Erbarmen flehe. Als dieser sie sah, stieg er auf den Söller und flehte für ihn um Erbarmen. Beim Herabsteigen sprach er zu ihnen: Geht, das Fieber hat ihn verlassen. Da sprachen sie zu ihm: Bist du denn ein Prophet? Er erwiderte: weder bin ich ein Prophet noch der Sohn eines Propheten; allein so ist es mir überliefert: ist mir das Gebet im Munde geläufig, so weiß ich, daß es angenommen, wenn nicht, so weiß ich, daß es gewirrt wurde. Hierauf ließen sie sich nieder und schrieben die Stunde genau auf, und als sie zu Rabbi Gamaliel kamen, sprach er zu ihnen: Beim Kult, weder habt ihr vermindert noch vermehrt; genau dann geschah es, in jener Stunde verließ ihn das Fieber, und er bat uns um Wasser zum Trinken.“1

Das Krankheitsspektrum reicht von Lähmungen (Mk 2,1–12 u.a.) über Leiden der Sinnesorgane (Blindheit, Taubheit, Taubstummheit) bis hin zu psychogenen Erkrankungen wie Blutfluss und Besessenheit. Die Wunderinitiative geht meistens vom Patienten aus (anders Joh 5,1–9; 9,1–7). Die einzelnen Erzählteile können unterschiedlich lang und pluriform ausfallen. Manche Heilungen dienen als Anlass für einen Normenkonflikt (z.B. Sabbatheilungen; ‚Normenwunder‘), bei Fernheilungen kommt es zu einer kontaktlosen Heilung über Distanz.

1.6.2 Exorzismen

Dämonenaustreibungen gelten in den Evangelien und im religionsgeschichtlichen Umfeld als eigenständige Wunderform.1 Das gr. Wort exhorkízein bezeichnet den Vorgang der Beschwörung.2 Magische Papyri bieten Exorzismus-Formulare (2.–6. Jh. n. Chr.), was die Nähe zwischen Exorzismus und Magie belegt.3 Ntl. Exorzismen sind Teil eines kosmischen Kampfes gegen satanische Mächte und der Etablierung der basileía Gottes auf Erden (expressis verbis in Mt 12,28). Typisch sind die dramatische Schilderung der Not und der eigentlichen Austreibung. Heftige Dialoge zwischen Dämon(en) und Wundertäter unterstreichen den kosmischen Charakter: Die Dämonen wehren sich, schreien Jesu Identität heraus, weisen auf den unpassenden Zeitpunkt hin. Jesus spricht eine Bannformel (Mk 1,25; 9,25 u.a.) und vertreibt den Dämon, der ein neues Zuhause sucht (Mt 12,43–45; Mk 5,1–20). Auch die Sturmstillung (Mk 4,35–41parr.) trägt exorzistische Züge. – Ein Beispiel exorzistischer Technik eines hell. Magiers bietet PGM IV,1239ff.:

„‚Ich beschwöre dich, Dämon, wer du auch immer seist, bei diesem Gott (Zauberworte): komm heraus, Dämon, wer du auch immer seist, und verlasse den N.N. jetzt, jetzt, sofort, sofort. Komm heraus, Dämon, da ich dich fessele mit stählernen, unlöslichen Fesseln und dich ausliefere in das schwarze Chaos der Hölle.‘ Handlung: Nimm 7 Ölzweige und binde 6 an Ende und Spitze [des Besessenen], jeden für sich, mit dem einen übrigen aber schlage unter Beschwörung. Halt es geheim; es ist schon erprobt. Nach dem Austreiben hänge dem N.N. als Amulett, das der Leidende also nach dem Austreiben des Dämons umzieht, auf einem Zinnblättchen mit folgenden Worten um: ‚(Zauberworte), schütze den N.N.‘“4