Gleichnisse

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c) Gnome, Sentenz, Sprichwort

Die drei Begriffe bezeichnen kurze, allgemeiner Weisheit entstammende Lebensregeln. In kurzer, prägnanter und autoritativ erscheinender Formulierung bringen sie Lebensweisheit auf den Punkt. Eine Gnome muss, anders als Sentenz und Sprichwort, kein vollständiger Satz sein. Die Übergänge zwischen den Formen sind freilich fließend; eine eine exakte Abgrenzung der Begriffe ist nicht möglich.

Beispiele für Gnome: ‚Der Starke ist am mächtigsten allein‘ (aus Schillers Wilhem Tell); ‚alles in Maßen‘ bzw. ‚von nichts zu viel‘ (gr. mēdén ágan, Solon von Athen). – Beispiele für Sentenzen: ‚Die Ersten werden die Letzten und die Letzten die Ersten sein‘ (Mt 19,30; 20,16 u. a.); ‚viele sind berufen, wenige aber auserwählt‘ (Mt 22,14); ‚wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden‘ (Lk 14,11). – Beispiele für Sprichwörter: ‚Lügen haben kurze Beine‘; ‚pünktlich wie ein Maurer‘; ‚Hochmut kommt vor dem Fall‘ (Prov 16,18).

Definition: Gnome, Sentenz und Sprichwort bieten Lebensweisheit in prägnanter, konzentrierter Form und bringen so komplexe Zusammenhänge auf den Punkt.

d) Exemplum und exemplarische Mahnung

Etymologisch bedeutet exemplum etwas, das aus einer Menge herausgegriffen ist, ein ‚Muster‘ (von lat. eximere). Dieses Muster steht exemplarisch für ein bestimmtes Genus.1 Das Exemplum ist ein kurzer Text, der ein treffendes Beispiel aus Natur oder Geschichte für das, was gemeint ist, bietet.2 Die dahinter stehende story wird nur angedeutet. Der römische Rhetoriker Quintilian definiert das Exemplum als die „Erwähnung eines zur Überzeugung von dem, worauf es dir ankommt, nützlichen, wirklichen oder angeblich wirklichen Vorgangs“.3 Der im Exemplum geschilderte Vorgang, das beschriebene Verhalten seiner Akteure, ist im positiven oder negativen Sinne vorbildlich, an ihm sollen die Rezipienten lernen.

Beispiele: Davids Zugriff auf die heiligen Schaubrote in Mk 2,25f.; das Exemplum legitimiert das Ährenraufen am Sabbat. – Hebr 11 bietet eine ganze Reihe an Exempla für den geforderten Glauben. Deutlich wird in beiden Fällen die argumentative Funktion der Textform.

Semantisch gemeinsam ist den Exempla, dass sie weder szenische Gliederung noch erzählerische Geschlossenheit aufweisen. Manche Exempla sind imperativisch formuliert und heißen dann exemplarische Mahnrede.4 Worin das Vorbildliche oder Abschreckende im Exemplum besteht, wird ausdrücklich genannt.

Beispiele für exemplarische Mahnrede: Mt 5,39f. (Wange und Meile), Mk 9,41 (Becher Wasser), Lk 12,58f. (Versöhnungsbereitschaft).

Definition: Das Exemplum bietet einen Präzedenzfall aus Natur oder Geschichte, der eine Argumentation beispielhaft, kurz und anschaulich unterstützt.

e) Metonymie

Bei der Metonymie (lat. denominatio) wird ein Ausdruck durch einen anderen ersetzt. Die analogische Verbindung zwischen den Begriffen ist qualitativer Art.1 Das entspricht der etymologischen Wortbedeutung: Der gr. Begriff metonomázein bedeutet umbenennen, einen Namen vertauschen.2 Beide Begriffe gehören – im Unterschied zu Vergleich und Metapher – zum gleichen Wirklichkeitsbereich.3

Beispiele: Ein ‚Waterloo‘ steht nicht nur für die napoleonische, sondern für jegliche vernichtende Niederlage. – ‚Der Gang nach Canossa‘ steht nicht nur für den Bußgang Kaiser Heinrichs IV. im 11. Jahrhundert nach Rom, sondern für jeglichen Bußgang. – Ein ‚Hoover‘ steht im Englischen für jeden Typ Staubsauger.

In der Metonymie wird der ursprüngliche Kontext des Begriffs (Waterloo, Canossa, Hoover) verlassen und auf einen anderen Kontext übertragen.4 Zum Verständnis der Metonymie ist die Kenntnis des ursprünglichen Kontexts hilfreich, aber nicht in jedem Falle zwingend notwendig. Begriffe wie Waterloo und Canossa sind lexikalisiert, ihre Bedeutung ist Teil des allgemeinen Wortschatzes.

Definition: Eine Metonymie ersetzt ein Abstraktum durch ein typisches, anschauliches Beispiel aus demselben Bereich, das sprichwörtlich für das Gemeinte steht.

f) Synekdoche

Etymologisch geht es bei der synekdochḗ (gr.) um ein Mitverstehen: Ich höre einen Begriff und assoziiere das Ganze.1 Die Synekdoche funktioniert nach dem Prinzip pars pro toto (ein Teil steht für das Ganze). Das Ganze wird aus dem Teil erkannt, das Besondere aus dem Allgemeinen.2 Wie bei anderen vergleichenden Tropen wird der fragliche Begriff nicht wörtlich, sondern übertragen verwendet.

Beispiele: Der Ausdruck ‚ein kluger Kopf‘ verweist auf den ganzen, klugen Menschen, ‚vier Pfoten‘ auf Katze oder Hund, ‚die eigenen vier Wände‘ bzw. ‚das Dach über dem Kopf‘ auf das ganze Haus.

Im Unterschied zu Vergleich und Metapher gehören beide Begriffe nach dem relationalen Verhältnis von Teil und Ganzem dem gleichen Wirklichkeitsbereich an; das verbindet die Synekdoche mit der Metonymie.3

Definition: In der Synekdoche repräsentiert ein Einzelteil das gemeinte Ganze.

g) Chiffre

Das Wort Chiffre leitet sich vom arabischen Begriff sifr (leer; Zahlzeichen ohne absoluten Wert‘) ab.1 In der Lyrik ist die Chiffre ein „demonstrativ rätselhafte[s] Sprach- und Stilmittel eines weitgehend esoterischen, meist lyrischen Code-Gebrauchs“.2 Durch Verdichtung und Verkürzung „mit Hilfe mehrdeutiger, unvollständiger so­wie unzusammenhängend erscheinender Worte und Sätze“3 erscheint die Chiffre rätselhaft. Ohne Deutungsschlüssel bleibt die Chiffre unverständlich. Vergleichend ist die Chiffre, weil sie auf „ungegenständliche, sprachlich nicht faßbare Sujets, auf komplexe Sprach- und Lebenserfahrungen“ verweist.4 Im Gegensatz zur Metapher verschweigt die Chiffre den Bildempfänger.

Biblische Chiffren finden sich in apokalyptischen Texten. In ihnen werden bekannte historische Größen (Personen, Institutionen, Entwicklungen) codiert gedeutet. Wer der Bildempfänger ist, weiß lediglich der eingeweihte Adressatenkreis. Semantisch können Chiffren aus lexikalisierten Metaphern hervorgehen. Andere Chiffren sind metaphorisch nicht vorgeprägt. Sie resultieren aus gematrischen Zahlenspielen oder aus apokalyptischen Periodisierungsschemata.

Gleichnisse arbeiten aufgrund ihrer missionarischen Grundtendenz nicht mit Chiffren. Außersprachliche Chiffren heißen Symbole (s.u.).

Beispiele: Lexikalisiert: ‚Das Tier‘ als Chiffre für Satan, Apk 13 u. a.; ‚das Lamm‘ als christologische Chiffre, Apk 5,12; 19,9 u. a. – Nicht vorgeprägt: ‚Hure Babylon‘ als Chiffre für Rom, Apk 14,8; 17,5. – Zahlenspiele: ‚666‘ als Chriffre für Kaiser Nero, Apk 13,18. – Periodisisierung: ‚3½ Zeiten‘ als Chiffre für die letzte satanische Bedrängnisperiode, Dan 7,15; Apk 11 u. a.

Definition: Die Chiffre ist eine abgekürzte Metapher, die ihren Bildempfänger verschweigt und dadurch einen subversiv-hermetischen Charakter erhält. Nur Kenner des Codes (Eingeweihte, Insider) können das Gemeinte dechiffrieren.

h) Symbol

Nach der Definition von Gerhard Sellin ist das Symbol

ein einzelnes Subjekt, das auch nichtsprachlicher Art sein kann (ein Gegenstand, eine Geste oder ein Name), das neben seiner Materialität bzw. seiner wörtlichen Bedeutung eine weitere (höhere bzw. tiefere) Bedeutung transportiert. Das symbolische Subjekt hat also einen Mehrwert an Bedeutung.1

Etymologisch (gr. sýmbolon, lat. symbolum) bedeutet Symbol Merkmal, Kennzeichen bzw. Wahrzeichen.2 Ein Symbol repräsentiert und bündelt durch ein konkretes Ele­ment oder Zeichen einen allgemeinen Sachverhalt bzw. einen abs­trakten Bedeutungs- oder Problemzusammenhang.3 Zwischen dem

besonderen Sachverhalt […] und dessen allgemeinen Sinn [besteht] ein unmittelbar einleuchtendes, ontologisch begründetes Verhältnis parti­eller Identität.4

Das Symbol bündelt einen Mythos; nur wer diesen kennt, versteht die Bedeutung des Symbols.5 Der Bereich des Religiösen lebt von Symbolen. Symbole können polyvalent sein und bedürfen daher der Deutung.6

Beispiele: Das Kreuz repräsentiert den christlichen Glauben, der Halbmond den Islam, die Taufe die Bekehrung, der Dreizack den Meeresgott Poseidon, die Nationalhymne den Staat, die Taube das Ende der Sintflut oder die Taufe Jesu.

Definition: Ein Symbol ist ein meist außersprachliches Zeichen, das einen komplexen, abstrakten Bedeutungszusammenhang repräsentiert und bündelt.

i) Fazit und tabellarische Übersicht

Die Bandbreite bildhafter, narrativ nicht ausgestalteter Sprachformen ist groß. Den Tropen ist die semantische Spannung zwischen fraglichem Begriff und Kontext, anders gesagt: die übertragene Verwendung eines Begriffs und der Verweischarakter auf eine andere Bedeutungsebene, gemeinsam. Tropen verdeutlichen den kontextuellen Zusammenhang und führen die Analogie zwischen zwei Wirklichkeitsbereichen vor Augen (Vergleich, Metapher). Die intendierte Wirkung besteht darin, vergleichsweise unanschauliche, abstrakte bzw. transzendente Themen und Vorgänge anschaulich werden zu lassen und darüber hinaus die Wirklichkeit neu zu deuten. Tabellarisch gestalten sich die Merkmale folgendermaßen:1


Form Kontextbezug Semantik Funktion
Vergleich Analogie; Prädikation Nennung des tertium. - 1., 2., 3. Person möglich Intensivierung des Gesagten; pragmatische und affektive Ausrichtung; Überzeugung
Metapher Analogie; Spannung zwischen zwei Elementen/Prädikationen Unterdrückung des tertium. – 1., 2., 3. Person möglich Intensivierung des Gesagten; pragmatische und affektive Ausrichtung; Überzeugung
Metaphorische Mahnrede Analogie; Spannung zwischen zwei Elementen/Prädikation Unterdrückung des tertium. – Imperativ. – 2. oder 3. Person möglich Stimulierung der Emotionalität; symbuleutische Ausrichtung
Metaphorische Personalprädikation Analogie; Spannung zwischen zwei Elementen/Prädikation Unterdrückung des tertium. – 1. oder 2. Person möglich Hervorhebung der einzigartigen Bedeutung des Subjekts
Gnome, Sentenz, Sprichwort Exemplifizierung eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs, eines geforderten Tuns, einer Lebensweisheit kurz, prägnant, autoritativ. – Gnome auch als unvollständiger Satz; sehr einprägsame Formulierungen Verallgemeinerung von Lebensweisheit; Handlungsorientierung
Exemplum Analogie zum geforderten/begründeten Verhalten verbal-/handlungsorientiert. z.T. Hyperbolik positives/negatives Vorbild (symbuleutisch); Apologetik (dikanisch)
Metonymie Mythos und Alltagserfahrung (Mythisierung) (Repräsentanz?) Nominal- oder Verbalverbindung; Einzelbegriff oder Satzganzes Assoziation historischer oder mythischer Zusammenhänge
Synekdoche Pars pro toto; Spannung zwischen zwei Elementen/Analogie Metapher. – 1., 2., oder 3. Person möglich. – Nominalstil Hervorhebung eines bestimmten Wesensmerkmals
Chiffre Analogie, Prädikation Metapher o.ä. ohne Nennung des Bildempfängers (verkürzte M.) Codierung von Texten im Sinne einer exklusiven Sondersprache
Symbol Repräsentation des Subjekts/Teil-Ganzes Sprachlich oder nicht-sprachlich Vergegenwärtigung eines Mythos

1.5 Gleichnisspezifische Termini

Der Abschnitt klärt zentrale Fachtermini wie Ausgangs-, Erzähl- und Deutungsebene, Bildspender und -empfänger, Vergleichspunkt, Pointe, Fiktionalität, Appellstruktur, Konterdetermination, Extravaganz, Transfersignal, theologischer Bezugsrahmen, Sprachereignis sowie ‚eigentliche‘ vs. ‚uneigentliche‘ Rede.

 

1.5.1 Ausgangs-, Übergangs- und Erzählebene

Gleichnisse heben sich aus dem Kontext durch einen Wechsel der Semantik heraus. Der Kotext ist sachgemäß Ausgangsebene (auch: Basisebene) zu nennen. In den Evangelien entwickelt sich auf ihr der Plot der Jesuserzählung, der durch das Gleichnis unterbrochen wird. Die Ausgangsebene wechselt zu einer Bild- besser: Erzählebene mit eigener (bildhafter) Semantik bzw. mit eigenem metaphorischen Bildfeld (Vater – zwei Söhne; Sämann – Acker; Hausherr – Bedienstete etc.). Zwischen den Ebenen vermittelt häufig eine Übergangsebene, die auf die Erzählebene hin- und zur Ausgangsebene zurückführt. Sie kann am Anfang des Textes aus dem Hinweis bestehen, dass nun ein Gleichnis folgt, oder aus einer Frage der Art: „Womit sollen wir das Himmelreich vergleichen?“ Am Ende des Textes steht zuweilen eine Anwendung (‚gehe hin und tue desgleichen!‘ o.ä.), ein Weckruf (‚wer Ohren hat zu hören, der höre!‘) oder eine Schluss-Sentenz (‚viele sind berufen, wenige aber auserwählt‘ o.ä.). Der Übergangsebene kommt eine wichtige Funktion im Hinblick auf das Verständnis des Gleichnisses zu. Sie liefert entweder den Verständniscode oder lenkt die Auslegung in eine vom Autor intendierte Richtung.

Definition: Ausgangsebene bezeichnet den literarischen Kotext eines vergleichenden Textes. Bild- bzw. Erzählebene meint die semantisch abgehobene Ebene der Metapher / des Gleichnisses. Die Übergangsebene vermittelt zwischen beiden.

1.5.2 Bild- bzw. Erzählebene und Deutungsebene

Vergleichende Texte beinhalten neben dem wörtlichen Sinn einen dahinter liegenden, tieferen, theologischen Sinn. Was eigentlich gemeint ist, wird durch eine fiktionale Erzählung, eine Metapher oder eine allegorische Rätselrede ausgesagt. Die vordergründige Erzählebene mit ihrer bildhaft-metaphorischen Semantik verweist auf die hier so genannte Deutungsebene. Diese gilt es im Verlauf der Auslegung zu bestimmen.1 – Bei Gleichnissen, die zu einer dynamischen Erzählung ausgestaltet sind, ist der Begriff Erzählebene adäquat. Der Ausdruck Bildebene bleibt narrativ nicht ausgestalteten Texten vorbehalten.

Definition: Die Bild- bzw. Erzählebene enthält die Metapher bzw. das Gleichnis. Die Deutungsebene ist die zu bestimmende, dahinter liegende Sinnebene.

1.5.3 Bildspender und Bildempfänger

Vergleichende Texte verbinden ursprünglich unabhängige Wirklichkeitsbereiche miteinander. Hinter vergleichender Redeweise steht die Entdeckung einer oder mehrerer Analogien zwischen den Bereichen. Vergleichende Texte machen einen fremden, unanschaulichen Wirklichkeitsbereich (z. B. ‚Reich Gottes‘) in seinen Eigenheiten und Wirkweisen anschaulich und plausibel. Hierfür greifen sie auf einen bekannten, anschaulichen, in seinen Eigenheiten und Wirkweisen unstrittigen Wirklichkeitsbereich (z. B. den bäuerlich geprägten Alltag) als Bildspender zurück, um ihn auf die Deutungsebene als Bildempfänger zu übertragen.

Beispiel: In der Metapher ‚Achill ist ein Löwe‘ ist die Tierwelt der Bildspender und der mythische Held der Bildempfänger.

Durch diesen Prozess werden die beiden Wirklichkeitsbereiche füreinander transparent; die Wahrnehmung beider Bereiche ändert bzw. erweitert sich (→ 1.4.4b).

Definition: Der Bildspender spendet das Anschauungsmaterial, anhand dessen das, was zu vergleichen ist (der Bildempfänger), anschaulich gemacht wird.

1.5.4 Tertium bzw. tertia comparationis

Der Vergleichspunkt zwischen Bildspender und Bildempfänger heißt lat. tertium comparationis (wörtlich: das Dritte des Vergleichs). Es steht als drittes, verbindendes Element, als Analogon, zwischen den beiden Ebenen.

Beispiel: Beim Vergleich ‚seid klug wie die Schlangen‘ (Mt 10,16) ist die Tierwelt der Bildspender, die Jünger sind die Bildempfänger und ‚klug‘ ist das tertium zwischen beiden.

Jülicher postulierte für Gleichnistexte lediglich einen einzigen Vergleichspunkt; die neuere Gleichnisforschung rechnet grundsätzlich mit mehreren Vergleichspunkten, was dem Sinnüberschuss metaphorischer Sprache entspricht.

Definition: Der Vergleichspunkt, lat. tertium comparationis, ist der Aspekt, der zwei unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche vergleichbar erscheinen lässt.

1.5.5 Pointe

Der Zielgedanke, auf den die vergleichende Erzählung hinausläuft, heißt in der Gleichnistheorie Pointe. War ihre Ermittlung in Jülichers Methodik gleichbedeutend mit der Ermittlung des Vergleichspunkts zwischen Bild und ‚Sache‘, unterscheidet man heute zwischen beiden Vorgängen. Der Ermittlung der Pointe kommt in der Exegese eine überragende Bedeutung zu, da sie die Kerngedanken bündelt und die Gefahr von Allegorese (→ 2.2.5b), die sich gerne an Nebenzügen der Erzählung orientiert, eindämmt. Die Pointe bringt den Kern- bzw. Zielgedanken des Gleichnisses in einem einzigen Satz auf den Punkt. Dieser Satz ist ein neuer, nicht-vergleichender Text, der das Gleichnis nicht ersetzen kann, da er die Dynamik und den Sinnüberschuss der narratio nicht einfängt.1

Zu unterscheiden ist, entsprechend der Unterscheidung zwischen Erzähl- und Deutungsebene, zwischen der erzählintern und der textübergreifend, theologisch formulierten Pointe. Bei der Auslegung ist die Pointe zunächst erzählintern und erst nach der Klärung der Metaphorik theologisch zu formulieren (→ 3.1; 3.3).

Definition: Die Pointe ist der Kern- bzw. Zielgedanke eines vergleichenden Textes, der im Zuge der Deutung zu formulieren ist – entweder in der Semantik der Erzählebene (erzählintern) oder der Deutungsebene (theologisch). Die Pointe ist ein nicht-vergleichender Text, der das Gleichnis bündelt, es aber nicht ersetzt.

1.5.6 Fiktionalität und Appellstruktur

Gleichnisse sind fiktionale Kurzerzählungen, das heißt erfundene Kurzgeschichten, die das, worum es geht, plausibel machen sollen. Der Weg über die Fiktionalität erleichtert es, sich als Hörer auf die Argumentation des Textes einzulassen.

Rezipienten lassen sich zugleich ‚nur‘ spielerisch und ‚in gewisser Weise‘ ernsthaft auf fiktionale Texte ein.1

Frank Zipfel beschreibt fiktionales Erzählen als kulturell institutionalisierte Praxis, über deren Regeln es zwischen Autor und Adressaten Einvernehmen gibt:

Der Autor produziert einen Erzähltext mit nicht-wirklicher Geschichte, die von einem Erzähler dargestellt wird, und der Autor tut dies mit der Intention, dass der Rezipient diesen Text mit der Haltung des make-believe aufnimmt bzw. in der Haltung des fiktiven Adressaten, und der Rezipient erkennt diese Absicht des Autors und lässt sich aus diesem Grunde darauf ein, den Erzähl-Text unter den Bedingungen eines make-believe-Spiels zu lesen.2

Fiktionalität ist demnach kein Täuschungsversuch, sondern eine konsensuelle Form des Erzählens. Ihr Sinn und Zweck besteht darin, ein bestimmtes Argument gleichsam spielerisch zu plausibilisieren. Der damit verknüpfte ‚metaphorische Prozess‘ verläuft spielerisch, da die Fiktionalität den Rezipienten einen pragmatischen Freiraum lässt.3 Konstitutiv ist der Bezug auf bestimmte Aspekte der Wirklichkeit (eine philosophische, moralische oder politische Position), die durch die Erzählung neu gesehen werden sollen.4 Realistik, selbst wenn sie sich als Pseudo-Realistik entpuppt, ist für das Gelingen der fiktionalen narratio entscheidend.5 Gleichnisse sind ein prominentes Beispiel für diese rhetorische Strategie.

 

Die Fiktionalität der gleichnishaften narratio zielt über die Information auf Gefühle und praktisches Handeln. Gleichnisse sind appellativ auf aktives Hören und Handeln angelegt (Mk 4,3.9: ‚Wer Ohren hat zu hören, der höre!‘; Lk 10,37: ‚Geh hin und tu desgleichen!‘).6 Gleichnisse (auch Metaphern) fordern zu einer fälligen Entscheidung oder zu einer Kurskorrektur auf. Motivierend wirken die Ansage der Zuwendung Gottes und seiner Herrschaft sowie die Entlarvung der Alltagswirklichkeit mit ihren Wertmaßstäben als zu überwindendes Provisorium.

Definition: Fiktionalität ist das rhetorische Mittel einer erfundenen, in sich schlüssigen narratio, mit deren Hilfe ein bestimmtes Argumentationsziel, etwa die Plausibilisierung einer neuen Wirklichkeitssicht, spielerisch erreicht werden soll.