Ein Mann der Kunst

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»Und jetzt«, fuhr Michael Neuhuber nach einer kleinen Pause fort, »kann ich Ihnen auch endlich mitteilen, für welchen Künstler wir uns entschieden haben. Das musste lange Zeit geheim bleiben, weil wir im Hintergrund die Vorbereitungen treffen mussten, die so etwas natürlich erfordert. Es handelt sich um KD Pratz.«

Da hellte Frau Höllingers Miene sich schlagartig auf.

»Das ist der mit dem Gewehr, oder?«, sagte Herr Gurdulic. »Der die Drohnen abschießt.«

»Ja«, sagte ich und merkte, dass es das erste Mal war, dass ich überhaupt etwas sagte.

»Ein Museum für einen einzigen, noch lebenden Künstler wäre in dieser Form in Deutschland einmalig!«, sagte Michael. »Das hat nicht einmal Beuys gehabt.«

»Der ist ja auch recht flott gestorben«, meinte Frau Höllinger, woraufhin Herr Gurdulic sagte:

»1986, im Alter von 65 Jahren.«

»Ich weiß aus sicherer Quelle, dass KD Pratz seit Jahren nichts tut als arbeiten, ohne jemandem etwas gezeigt zu haben. Es wäre also Kunst von Weltrang, die gar nicht weit von hier auf seiner Burg im Rheingau entsteht. Weltkunst aus der Region.«

»Handkäs, aber global«, sagte Herr Gurdulic.

»Die Burg muss voll sein von Werken, und nachdem es mir endlich gelungen ist, den Künstler zu erreichen, kann ich Ihnen heute sagen: Er hat Interesse.«

»Ich finde das eine sehr gute Idee. Das gibt Ihnen ein ganz besonderes Profil, ohne das Image des Museums Wendevogel als besonders sorgfältig kuratiertes Museum zu verwässern«, sagte Frau Höllinger, begleitet von hektischem Tastaturklappern ihres protokollführenden Referenten. »Sie sehen, Ihre Arbeit wird in Berlin durchaus wahrgenommen, und zwar sehr wohlwollend, sowohl von mir als auch von der Staatsministerin für Kultur und Medien.«

»Also, das Bundesland Hessen ist mit fünf Millionen dabei«, sagte Herr Gurdulic.

»Das BKM auch.«

»Dann geben wir sieben.«

»Acht«, sagte Dr. Höllinger.

»Acht«, sagte Herr Gurdulic.

Michael Neuhuber war ebenso erfreut wie verwundert. Dass die beiden Hauptfinanzierer sich nach oben überboten, hatte er nicht erwartet. Ich kannte das. Wir hatten bereits einige Projekte für öffentliche Auftraggeber geplant: Wer am Schluss am meisten zahlte, hatte die Projektsteuerung, konnte also alles entscheiden. Und das wollten offenbar sowohl die Leute von der Landesregierung als auch die aus Berlin. Manchmal war mehr einfach mehr.

»Dann zahlt das BKM zehn Millionen. Das tun wir aber nur, wenn Sie mir garantieren, dass das Land Hessen das auch tut«, sagte Frau Höllinger und sah Herrn Gurdulic an.

»Das tun wir nur, wenn Sie mir garantieren, dass aus Ihren Bundesmitteln …«

»Und die Projektsteuerung wollen Sie bestimmt auch«, sagte Frau Höllinger.

»Ebenso wie Sie.«

»Dann müssen wir uns später noch mal kurzschließen.«

»Nein, Sie müssen mir versprechen, dass Sie die Projektsteuerung an uns abgeben«, sagte Herr Gurdulic.

»Da muss ich erst mit der Ministerin sprechen«, sagte Frau Höllinger und fixierte Herrn Gurdulic. Herr Gurdulic starrte zurück und versuchte mit seiner nach hinten gelehnten Körperhaltung lässig zu wirken, wie ein Mann, der bis zu seiner – sicherlich von ihm bereits hinter sich gelassenen – Fünfzig wunderbar damit durchgekommen war, Frauen wie Dr. Höllinger als Zicken und Stress-Elsen darzustellen, die in dem gemütlichen, von Männern wie ihm eiergeschaukelten Betrieb eigentlich nur störten.

»Ja, wir schließen uns kurz«, sagte er. Dann sahen sie sich eine Weile an, und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass die beiden miteinander flirteten. Dass dieses ganze gegenseitige Gefrotzel ein Balzritual war, wie zwischen Paradiesvögeln, nur ohne schöne Federn und tollen Tanz, dafür mit provokantem Verwaltungsbohei.

»Das wäre genau, was wir uns vorstellen«, sagte Michael Neuhuber, der immer noch überrascht wirkte.

»Das ist eine einmalige Chance. Für Ihre Stadt und das ganze Bundesland«, sagte Dr. Höllinger.

»Für Sie in Berlin offenbar auch«, sagte Herr Gurdulic, und Dr. Höllinger verstummte, als fühlte sie sich in ihrem Enthusiasmus ertappt. Ich fragte mich, ob sie auch KD-Pratz-Fan war oder einfach eine Karrierechance witterte, sich auf die Fahnen schreiben wollte, einen solchen Museumsneubau eingefädelt zu haben.

»Wobei«, fügte Frau Höllinger etwas ruhiger hinzu, »das Leuchtturm-Projekt-Programm natürlich eine Form von Förderung ist, die private Spenden matcht. Wir fördern damit ja das zivilgesellschaftliche Engagement.«

»Ja, natürlich, sehr wichtig«, sagte Michael.

»Deswegen wird das nur etwas, wenn die Grundlagenermittlung des Bauvorhabens zusammen mit einem Vorentwurf mit 500.000 Euro aus den Mitteln Ihres Fördervereins vorfinanziert werden.«

»Das ist natürlich auch sehr verständlich. Und sicherlich kein Problem«, sagte er mit einem leichten Zögern, das wahrscheinlich nur mir auffiel, weil ich wusste, dass KD Pratz im Förderverein nicht nur Fans hatte. »Aber für den Fall, also nur für den hypothetischen Fall, dass das nicht sofort in vollem Umfang möglich sein wird, finden wir doch sicherlich einen Plan B.«

»Ohne das Geld des Fördervereins wird das nichts«, sagte Dr. Höllinger.

»Ist so«, sagte Herr Gurdulic.

»Na, ist ja auch egal. Ich bin mir sicher, dass wir den Förderverein überzeugen können«, sagte Neuhuber. »Ich habe nur gefragt, weil es ja immer ein kleines, theoretisches Restrisiko …«

»Was meinen Sie damit?«

»Es gibt in diesem Förderverein durchaus Leute mit eigenen Kopf«, sagte Michael und fügte eilig hinzu, »was ja gut ist.«

Nun sah die ganze Runde mich an. Sie hatten sich an meine Anwesenheit erinnert.

»Also, der Förderverein …«, begann ich, als Michael mich unterbrach:

»Es gibt Teile des Fördervereins, die sind etwas … na ja …

»… high maintenance«, sagte ich.

»Das Frankfurter Bürgertum ist zwar durchaus kunstsinnig«, sagte Michael und sah Herrn Gurdulic kurz an, »will aber von diesem Kunstsinn auch den Nutzen haben, dass es mitreden kann.«

»Das stimmt«, sagte ich.

»Ich weiß, dass es in dem Förderverein einflussreiche Mitglieder gibt, die sich auf jeden Fall KD Pratz wünschen. Aber es gibt wiederum andere, die in dem Erweiterungsbau lieber unsere nicht unbedeutenden Bestände zeigen wollen. Wir haben auch ein Konzept vorliegen für eine geteilte Ausstellung mit Werken von Gudrun Pause und anderen Künstlern. Zum Beispiel hat das Wendevogel-Museum die größte zusammenhängende Sammlung verschimmelter Objekte von Dieter Roth, einige Fotografien von Sebastião Salgado und zwei Rauminstallationen von Yoko Ono. Die mit dem grünen Apfel und die mit dem umgekippten Stuhl. Und dann noch Detonation Deutschland, eine …«

»Nein! Dieses Programm fördert Leuchttürme. Keine Gemischtwarenläden«, rief Dr. Höllinger.

»Und schon gar nicht diese blöde Pause«, sagte Herr Gurdulic.

»Gudrun Pause«, fügte Dr. Höllinger mit noch mehr Verachtung hinzu, als wäre auch das schon wieder ein Wettbewerb zwischen den beiden, »davon halten wir in Berlin nicht so viel.«

»Ich auch nicht«, sagte Michael Neuhuber, »aber der Förderverein ist nun einmal etwas eigen.«

»Mit Pause kann ich Ihnen eine Finanzierung nicht in Aussicht stellen«, sagte Dr. Höllinger.

»Und ich nicht mit Äpfeln von Yoko Ono«, sagte Herr Gurdulic.

»Ich finde das auch keine gute Idee, aber der Förderverein entscheidet unabhängig vom Museum, da sind mir ein Stück weit die Hände gebunden.«

»Dann müssen Sie die halt manipulieren«, sagte Dr. Höllinger. »Sie machen doch diese wunderbaren Kulturreisen, Veneto, Stockholm, diese Bildungsbürgerbespaßung, wie Sie das vorhin in Ihrer Präsentation genannt haben.«

Michael Neuhuber warf mir einen verschämten Blick zu.

»Nehmen Sie doch die dreißig wichtigsten Leute aus Ihrem Förderverein und fahren da hin.«

»Zu KD Pratz?«

»Ist doch nicht weit. Sie machen das schön exklusiv, lernen ihn kennen, es gibt leckeren Wein, dann werden die schon zustimmen. Zur Not schauen Sie sich noch dieses Kloster an, wo Hildegard von Bingen war«, sagte Sibylle Höllinger.

»St. Hildegard. Das ist eine Wallfahrtskirche«, sagte Herr Gurdulic.

»KD Pratz wird uns nicht empfangen. Ich habe ja einige Male kurz mit ihm telefoniert und befürchte seitdem, die ganzen Berichte darüber, was für ein schwieriger Mensch er ist, sind eher noch untertrieben«, sagte Michael.

»Sie werden das schon schaffen. Sie wollen doch Ihren Förderverein überzeugen, und das geht nun einmal am besten im persönlichen Kontakt. Wenn der Förderverein KD Pratz nicht will, gibt es keine Zusage von uns«, sagte Dr. Höllinger. »Fahren Sie auf seine Burg, sehen Sie sich an, wie er arbeitet, dann werden Sie Ihre Millionäre schon dazu bekommen.«

»Aber er lässt seit Jahren niemanden mehr rein.«

»Es hat ihm auch noch nie jemand ein Museum bauen wollen.«

»Ich glaube nicht, dass das so funktioniert«, hörte ich mich plötzlich sagen. »KD Pratz ist nicht käuflich. Er hat sich sein ganzes Leben gegen jede Form des Anbiederns gesperrt. Wer wohnt schon sonst allein auf einer Burg? Wenn jemand nicht käuflich ist, dann er.«

Dr. Höllinger sah mit einem mitleidsvollen Lächeln kurz Michael Neuhuber an, dann länger Herrn Gurdulic, als wollte sie sagen, dass ich noch viel lernen müsste, weil ich daran glaubte, dass zumindest einige Menschen an ihren Idealen festhielten, egal, was kam. Dann wandte sie sich an mich: »Ich arbeite seit Jahren im Kulturbetrieb. Nicht käuflich habe ich noch nie gesehen.«

»KD Pratz ist anders«, sagte ich. Die BKM-Frau zuckte mit den Achseln und seufzte ein Seufzen, das sie plötzlich ganz mädchenhaft wirken ließ. Und fügte hinzu: »Also, Herr Marx, Herr Neuhuber, das ist wirklich ein fantastisches Projekt! Wir haben den Eindruck, dass Sie das Museum und den Förderverein äußerst vorbildlich führen. Wir haben vollstes Vertrauen, dass Ihnen das ganz wunderbar gelingt.«

 

2

NACH DIESER SITZUNG war die Aufregung im Museum Wendevogel erst einmal groß. Der Beirat des Museums und der Vorstand des Fördervereins diskutierten lange über die Vor- und Nachteile, den ganzen Neubau dem Werk von KD Pratz zu widmen, dann einigte man sich tatsächlich auf die von Dr. Höllinger vorgeschlagene Strategie, und zwei Monate später wurde die geplante Fördervereinsreise auf die Burg von KD Pratz Wirklichkeit.

Wir trafen uns auf dem Werkhof des Museums, stiegen in einen Reisebus und fuhren aus Frankfurt raus, dieser eigentlich gar nicht so großen Stadt, die man trotzdem nie richtig hinter sich ließ, egal in welche Richtung man fuhr, irgendwo waren immer Häuser, Verbrauchermärkte, Zersiedlungen. Es war mitten in den Sommerferien, die A3 war für einen Freitagnachmittag erstaunlich leer. Wir fuhren am Stadion vorbei, hatten am Flughafen einen wunderbaren Gotham-City-Moment, als zwei ICEs kurz nacheinander in den Flughafenfernbahnhof einfuhren, darüber ein A380 startete und zwei kleinere Jets im Landeanflug waren, während auf den Überholspuren der vierspurigen Autobahn die SUVs mit zweihundert Stundenkilometern Richtung Köln donnerten.

Zwischen all dem zuckelte unser Förderverein mit gemütlichen neunzig auf der rechten Spur in Richtung Rheingau, der bald auch schon mit seinen sanften Erhebungen in Sicht kam, letzte Ausläufer einer großen Bergwelle, einer Bewegung, die am Ufer des Rheins zum Ende gekommen war.

In den letzten Tagen hatte es im Süden heftige Sommergewitter mit Starkregen gegeben, sodass selbst der Rhein bei aller Erhabenheit etwas Gehetztes bekommen hatte. Eilig kam er von Osten, von Mainz und Wiesbaden, heran. Wir reihten uns in die Schlange der grauen und schwarzen Autos mit Frankfurter, Wiesbadener Kennzeichen ein, die sich in Richtung der ersten Rheingauer Dörfer schoben, in Richtung der neu auf alt gemachten Boutique-Hotels und Restaurants mit handgeschriebenen Speisekarten.

Ich wusste nicht wie, aber Michael Neuhuber hatte es hinbekommen. KD Pratz hatte zugestimmt, unseren Förderverein auf Burg Ernsteck zu empfangen. Es sollte mit einem ungezwungenen Kennenlernen bei einem Glas Wein beginnen, morgen wollten wir uns ein bisschen den Rheingau ansehen, und am Sonntag, als Höhepunkt, würde er uns sein Atelier zeigen! Die Arbeiten der letzten Jahre, die bisher, laut Michael Neuhuber, nicht einmal sein Galerist zu sehen bekommen hatte. Ich konnte es immer noch nicht glauben. Die Aussicht auf ein eigenes Museum, nur für seine Werke, hatte offenbar selbst einen so radikalen Einsiedler wie KD Pratz dazu bewegt, seine Isolation für zwei Tage aufzugeben.

Michael Neuhuber hatte für jeden eine Ausgabe des KD-Pratz-Sonderheftes beschafft, das er im letzten Jahr in der Reihe Visualitäten herausgegeben hatte. Auf dem Titel war eine seiner älteren Arbeiten, aus der politisch-ökologisch motivierten Phase der Achtzigerjahre: graue Menschen, die auf der Autobahn durch ein von saurem Regen zerfressenes Waldgebiet fahren, im Hintergrund rauchende Schornsteine, der Titel: mobil bis in den tod.

Ingeborg hatte die Zeitschrift nach unserer Abfahrt noch einmal durchgeblättert, obwohl sie sie sofort nach Erscheinen gekauft und nicht nur von vorn bis hinten gelesen, sondern großflächig mit Kommentaren und Unterstreichungen versehen hatte. Inzwischen jedoch hatte sie die Zeitschrift auf den Vierertisch gelegt, an dem wir mit Michael Neuhuber saßen und über Gott und die Welt und die Kunst redeten und, mehr als alles andere, über KD Pratz. Sie erzählte noch mal die Geschichte, wie ich als Kind in Der Malerfürst, vom Universum aus betrachtet das Fragezeichen in dem vermeintlichen Punkt entdeckt hatte, Michael Neuhuber amüsierte das sehr.

Es freute mich, dass Ingeborg so guter Laune war. Bei unseren letzten Treffen hatte sie zwar nicht unglücklich gewirkt, aber doch für ihre Verhältnisse erstaunlich gleichgültig gegenüber dem, was in der Welt geschah. Bei anderen Leuten wäre das kein Grund zur Sorge gewesen – bei Ingeborg, die sich sonst immer über alles informierte und es liebte, sich eine Meinung zu bilden, hingegen schon. Es hatte fast so ausgesehen, als würde sie sich parallel zu ihrem langsamen Rückzug aus dem Arbeitsleben auch aus der Welt zurückziehen. Seitdem sich abzeichnete, dass diese Reise zustande kam, war das wie weggeblasen. Nun hatte Ingeborg die Chance, ihrem Lieblingskünstler zu einem eigenen Museum zu verhelfen!

Kein Wunder also, dass Ingeborg nervös war. Den anderen fiel es wahrscheinlich gar nicht auf, sie sprach in der ihr eigenen unaufgeregten, freundlich-zugewandten Art, doch ich sah es an ihrer Kleidung, der übergroßen Bluse aus schwarzem Leinen, der Kette aus großen bunten Holzperlen und der weißen Plisseehose von Issey Miyake – immer wenn sie aufgeregt war, zog sie sich einen Tick zu schick an. Und einen Tick zu jung.

Die vierte Person an unserem Vierertisch war der millionenschwere Herbert von Drübber, den Ingeborg und ich heimlich »das Einstecktuch« nannten, weil er gern teure Sakkos trug, in denen stets ein farblich zum Hemd passendes Einstecktuch steckte, was in einem gewissen Widerspruch zu seinem markigen Auftreten stand. Mit einem Schüttgut-Vertrieb zu Geld gekommen, verfügte er allein über mehr als die Hälfte der Finanzkraft des Fördervereins und erschien mir manchmal wie eine Art Destillat aus allen Angeber- und Prahlhansfiguren der TV-Serien von Helmut Dietl, wobei Herbert von Drübber im Grunde kein unangenehmer Zeitgenosse war. Er war durchaus unterhaltsam, wenn man ihm einfach zuhörte und sich seinen Teil dabei dachte.

Zu seinen Füßen, oder eigentlich eher zu meinen, lag sein derzeit aktueller Bernhardiner, den ich gelegentlich mit meinem Fuß ein bisschen mehr in seine Richtung schob, so gut das bei einem Hund von der Größe eben ging.

Jeder wusste um von Drübbers Bedeutung für das Gelingen dieser Aktion, und er selbst wusste es auch. Er hatte eh nie so getan, als wolle er, trotz seines Geldes, behandelt werden wie alle anderen. Das Einstecktuch wollte hofiert werden, idealerweise von jungen Frauen – und so war es weder Wunder noch Zufall, dass direkt auf der anderen Seite des Ganges Katarzyna Pyszczek saß, Michael Neuhubers persönliche Assistentin, die auf diesen Reisen für alles Organisatorische zuständig war. Katarzyna Pyszczek arbeitete seit mittlerweile zwei Jahren für das Museum Wendevogel und war hauptsächlich für den Förderverein zuständig, auch wenn sie das auf LinkedIn »kuratorische Assistenz« nannte, ein Titel, der ihr von der Qualifikation her auch zustehen würde, hatte sie doch eine Masterarbeit mit Bestnote über die feministische, in den Zwanzigerjahren bekannte, jetzt wiederentdeckte Malerin Lotte Laserstein geschrieben. Eigentlich sollte sie etwas Besseres tun als Reisebusse und Hotelbetten buchen. Und mit Leuten wie dem Einstecktuch reden.

»Ich schreibe gerade ein Exposé für eine Doktorarbeit«, sagte Katarzyna zu ihm. Das sagte sie, seit ich sie kannte.

»Ach, dann sind Sie gar keine Bachelorette, sondern schon Master. Meisterin?« Das Einstecktuch hatte ein erstaunliches Talent dafür, Wörter so zu betonen, einzelne Silben so in die Länge zu ziehen, dass er jedem beliebigen Satz anzügliche Untertöne verleihen konnte, ohne dass ihm jemand etwas unterstellen konnte. Sogar das Wort Ultrakurzwelle hätte er zu einer schlüpfrigen Bemerkung machen können.

»Auf Kuratorinnen-Ebene gibt es ohne Promotion keine Stellen«, sagte Katarzyna Pyszczek. Die Schlüpfrigkeit des Einstecktuchs war nicht mehr so offensichtlich wie früher. Er legte nicht den Arm um sie und antwortete: ›Aber mit Ihrem Aussehen stehen Ihnen doch alle Türen offen.‹ Er legte ihr nicht einmal die Hand auf den Oberschenkel, legte nur manchmal, ganz selten und niemals für lange Zeit, den Zeigefinger auf ihren Unterarm, während er mit ihr sprach, achtete aber darauf, das auch gelegentlich bei allen anderen zu tun, Männern wie Frauen. Er wandte ihr einfach immer ein bisschen mehr Aufmerksamkeit zu, saß öfter neben ihr, war, wie durch Zufall, öfter mit ihr im Gespräch. Ich fragte mich langsam, ob er anti-sexistische Blogs las, um sich zu informieren, womit Leute wie er heute gerade noch durchkamen.

Katarzyna Pyszczek reagierte auf diese Avancen mit dem ihr eigenen Ernst. Sie lächelte nie. Seit ich sie kannte, hatte sie den gleichzeitig femininen, aber doch strengen Style junger Kunsthistorikerinnen immer weiter perfektioniert, trug nur wenig und sehr blasses Make-up, aber dazu einen noch knallroteren Lippenstift als in ihrer ohnehin schon knallroten Anfangszeit am Museum Wendevogel. Sie trug Leggins, schwarze Sockensneaker und darüber dunkle, ungewöhnlich geschnittene Oberteile, die, obwohl sie vollkommen oversized waren, ihren Körper betonten oder zumindest erahnen ließen. Als versuchten sowohl sie als auch das Einstecktuch, zwischen den Korrektheitsansprüchen der Zeit und alten sexuellen Machtdynamiken ihren persönlichen Mittelweg zu finden.

An Katarzyna Pyszczeks Vierertisch saßen auch die Hansens. Martha und Rainer, ein pensioniertes Pastorenehepaar, die sich zeit ihres predigenden Lebens in Wetterau eine volle Stelle geteilt hatten und sich nun eine Ausgabe des KD-Pratz-Sonderheftes teilten, eine reiche ja vollkommen, »das ganze Papier …«.

Die Hansens waren erst vor zwei Jahren in den Förderverein des Museums Wendevogel eingetreten, sofort nach ihrer Pensionierung. Vorher sei zu viel zu tun gewesen, nun könnten sie sich das endlich zeitlich leisten. Anfangs hatten sie kaum Ahnung von Kunst gehabt, schienen aber seitdem jede Erwachsenenbildungsmöglichkeit wahrzunehmen, die es zu dem Thema gab. Jedes Mal, wenn wir uns wiedersahen, hatten die Hansens etwas Neues gelernt, das sie dann auch gern anwendeten, selbst wenn es nicht immer besonders gut passte: »Im Gegensatz zu den Mariendarstellungen der Kiewer Rus erscheint mir diese Bruce-Nauman-Neonröhren-Installation …«

In einem unserer Gespräche hatte ich bereits erfahren, dass sie keine großen Fans von KD Pratz waren. Die Hansens mochten Yoko Ono. KD Pratz war ihnen zu hart, sie vermissten in seinem Werk einen gewissen Humanismus. Yoko Ono hingegen …

Wenn ich die Hansens ansah, stellte ich mir manchmal vor, dass Yoko Ono und John Lennon die Helden ihrer Jugend gewesen waren. Für mich passte das gut, auch wenn Martha Hansen sich bei der Auswahl ihrer Kleidung, ihren naturtrüben Blusen und Hosen, wahrscheinlich eher daran orientierte, ob sie fair gehandelt waren, nicht daran, ob sie in ein Stilkonzept passten. Und auch wenn Rainer Hansen mit seinem halb ergrauten Backenbart eher an die Pastoren aus vergangenen Jahrhunderten erinnerte, wie sie manchmal, sittenstreng dreinblickend, auf Ölgemälden in norddeutschen Kirchen abgebildet waren, obwohl er in seinem Wesen, ganz im Gegensatz zu seinem Äußeren, gar nichts Strenges hatte, sondern eher eine zerstreute Milde ausstrahlte.

Die Hansens waren also intensiv damit beschäftigt, sich vorzubereiten. Sich einzulesen, was eines ihrer Lieblingsworte war, wobei Martha Hansen eine noch größere, protestantischtextbegeisterte Ernsthaftigkeit an den Tag legte als ihr Mann. Das Wichtigste war dabei für Martha Hansen stets: ein kritisches Bewusstsein!

Und Martha Hansens kritisches Bewusstsein vertrug sich eben nicht mit dem kritischen Bewusstsein, das KD Pratz auf seinen Bildern so deutlich zur Schau stellte. Immer wieder, gerade wenn sie nun in dem Heft die älteren Bilder von KD Pratz betrachtete, sagte sie: »Das Bild spricht nicht zu mir.«

Doch ihrer Vorfreude tat das keinen Abbruch. Auch die Hansens liebten diese Reisen. Überhaupt herrschte überall eine gediegen aufgekratzte Vorfreude, wie ich sie von den anderen Reisen kannte, auf die ich Ingeborg begleitet hatte, nach Stockholm, nach Bilbao, ins Veneto und nach Antwerpen-Brügge-Gent. Alle lasen etwas Kluges oder unterhielten sich leise, aßen gesunde Trockenobst-Snacks, klappten Schaubilder aus Kunstreiseführern aus.

Dabei war das nie so sehr die Vorfreude auf ein Erlebnis, eine bestimmte Sehenswürdigkeit. Wir freuten uns vielmehr darauf, ein Wochenende lang in die Welt der Kunst einzutauchen, so wie Michael Neuhuber es uns mit seinen Kontakten ermöglichte. Alle Karten waren immer vorbestellt, wir mussten nie Schlange stehen, bekamen unsere Führungen bei den maßgeblichen Kuratorinnen und aßen danach in Restaurants, die nicht einmal auf TripAdvisor zu finden waren.

 

Nicht weniger freuten wir uns darauf, ein Wochenende unter Gleichgesinnten zu verbringen, diese merkwürdige Art von Freude, die es machte, unter Leuten zu sein, die so ähnlich waren wie man selbst. Selbst ich, der ich zwar meinen Alltag damit verbrachte, zwischen saumseligen Metallbauern und übergriffigen Start-up-Proleten zu vermitteln, aber immerhin an einer Kunsthochschule studiert hatte, genoss es, auf so feinsinnige Art dem Alltag enthoben zu sein. Den Ärzten, Juristinnen und Lehrern, der Zahntechnikerin, der PR-Bürobesitzerin, dem Steuerberater, dem Einstecktuch und den Hansens musste es umso mehr so gehen.

Außerdem war es für mich eine gute Art und Weise, Zeit mit Ingeborg zu verbringen. Wir sahen uns im Alltag nicht oft, ich kannte viele Leute, bei denen das so war – wenn man in derselben Stadt wohnte, sich also jederzeit sehen könnte, tat man es nie. Und wenn man sich sah, nahm man sich nicht so viel Zeit wie für Leute, die von anderen Orten anreisten. Diese Reisen waren unsere quality time. Hier teilte ich mit Ingeborg das, was ihr im Leben am wichtigsten war. Es war eine einzige große Bildungsbürgerbespaßung, da hatte Michael Neuhuber schon recht.

Als wir Oestrich-Winkel passierten, kam das Gespräch für einen Moment zum Erliegen. Alle hatten sich wieder ihren Sonderheften zugewandt, und in der Stille, die sich nun, wenn auch nur für ein paar Minuten, ausbreitete, merkte ich, dass es zumindest bei mir doch nicht dieselbe reine Vorfreude war wie bei den anderen Reisen.

Würde diese Reise wirklich so schön werden wie die anderen? Was, wenn KD Pratz so unausstehlich war, wie alle sagten und schrieben? Ich hatte nichts über ihn gelesen, was ihn als sympathisch darstellte oder gar gesellig. Die Sache mit der abgeknallten Drohne war nur eins. Auch die Tatsache, dass er mit einer Serie von Klagen und – so deutete ein Kommentar des Wiesbadener Kuriers an – geschickten Manipulationen eines kunstsinnigen Landrats das Aufstellen eines Handymasts verhindert hatte, der dazu geführt hätte, dass es auf seiner Burg Handyempfang gegeben hätte, verhieß nichts Gutes.

Alle Interviews, von denen es jedes Jahr ungefähr eins gab, waren ein großes Globalgeschimpfe auf alles: die Menschen, die Technik, die Welt. Ich hoffte, dass er in Wirklichkeit anders war. Oder, vielmehr, wie er in Wirklichkeit war, war mir egal – ich hoffte nur, er möge sich an diesem Wochenende benehmen, damit diese Reise ein Erfolg wurde. Allein schon wegen Ingeborg, die jetzt das Gespräch wieder aufnahm und gegenüber Michael Neuhuber noch einmal betonte, wie sehr sie sich auf die bevorstehende Begegnung mit KD Pratz freute. Da stand Michael auf und ging zu dem Busfahrer. Wenig später hörten wir ein Knacken in der Lautsprecheranlage. Michael Neuhuber stand vorn, das Mikrofon des Reiseleiters in der Hand. Nun sollte unsere Reise offiziell beginnen, wobei Michael sich wie immer bemühte, diesem Anfang etwas Feierliches zu verleihen, als weihte er etwas ein.

»Liebe Freundinnen. Liebe Freunde.

Ich begrüße Sie ganz herzlich zu unserer diesjährigen Fördervereinsreise, die, Sie haben es gemerkt, ein wenig anders aussieht. Wir vom kuratorischen Team«, Michael sprach gern von sich als Mitglied des kuratorischen Teams, obwohl er ganz eindeutig der Chef war, »des Wendevogel-Museums bemühen uns ja immer, für Sie ein ganz besonderes Programm zusammenzustellen, aber ich denke, ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Ein so großer Coup wie in diesem Jahr ist uns noch nie gelungen. Dieser Ausflug ist geradezu ein Meilenstein in der Geschichte des Wendevogel-Museums. Wie Sie ja wissen, planen wir seit geraumer Zeit einen Neubau, und es ist wirklich ein großes Privileg, dass der Ausnahmekünstler KD Pratz uns an diesem Wochenende an seinem Wohn- und Arbeitsort empfängt und uns am Sonntag sogar sein Atelier zeigt!« Michael machte eine Pause und sah in die Runde. Viele nickten.

»Dass wir alles dies hier im Rheingau erleben können, der schon längst ein Ziel für eine unserer Reisen gewesen wäre, ist natürlich besonders passend. Der Rheingau hat in puncto Kunst und Kultur so viel zu bieten. Lassen Sie uns diese Tage im Geiste Goethes verbringen, der auch ein großer Fan dieser Gegend war, genau wie ich es bin.

Zu des Rheins gestreckten Hügeln,

Hochgesegneten Gebreiten,

Auen, die den Fluß bespiegeln,

Weingeschmückten Landesweiten

Möget, mit Gedankenflügeln,

Ihr den treuen Freund begleiten.«

Es war vielleicht nicht Goethes größte lyrische Leistung, aber dafür war es sehr typisch für Michael Neuhuber. Goethe-Zitate durften auf keiner unserer Kulturreisen fehlen. Selbst in Stockholm, wo Goethe nun wirklich nie gewesen war, war ihm das gelungen. Vielleicht hätte er sich nicht gerade den Zeitpunkt auswählen sollen, an dem wir an einer Tankstelle und einer Reihe von ziemlich piefigen Reihenhäusern vorbeifuhren, um von hochgesegneten Gebreiten zu sprechen, aber das fiel außer mir wahrscheinlich niemandem auf.

Hinter Rüdesheim sah ich immer mehr nackten, schroffen Stein. Das Land türmte sich auf. Der Rhein umrundete das Binger Loch, ließ uns rechts, Ingelheim und Bingen links liegen und schien nun sogar noch schneller zu fließen, als wäre er erleichtert, dass er wieder nach Norden durfte, denn dort musste er ja eigentlich hin.

Das Land stieg inzwischen so steil auf, dass es von Mauern, Maschendrahtzäunen und abenteuerlichen Stahlseilkonstruktionen daran gehindert werden musste, in den Fluss zu stürzen. Alles kämpfte gegen die Energie der Lage, wurde festgehalten, festgebunden, festgezurrt. Ich blickte aus dem Fenster zu meiner Linken und sah dem Wettrennen zu, das sich Züge, Binnenschiffe, Radwanderer und Autos flussabwärts lieferten und das letztendlich doch die Gänse zu gewinnen schienen, die im tiefen Flug über das Wasser sausten. Auf dem Campingplatz gegenüber: Deutschlandfahnen, Belgienfahnen und eine Regenbogenfahne. Immerhin.

Dann war wieder alles anders. Das eben noch so absturzgefährdet wirkende Land schien jetzt mit kathedralenhafter Dramatik gen Himmel zu streben, wollte hoch, höher hinaus. Die vorhin noch fast waagerecht stehenden Weinreben erhoben sich weit in den Himmel, ich folgte ihnen mit meinem Blick, und dann sah ich sie zum ersten Mal. Die Burg. Burg Ernsteck, so weit oben, dass sie gar nicht mehr zu dieser Welt zu gehören schien, wie von einem Monopolyspieler hier abgesetzt, der das Spiel nicht ganz begriffen hatte.

Hier bog unser Bus ab und zwängte sich zwischen zwei Häusern hindurch, die so eng beieinanderstanden, dass es fast so schien, als würde er durch sie hindurchfahren. Auf einer leidlich ausgebauten Straße fuhr er in die Berge hinein. Ich verlor die Burg aus dem Blick, hatte sie plötzlich im Rücken, und jedes Mal, wenn sie wiederauftauchte, war sie ein bisschen näher gekommen. So ging es eine Weile, dann bog der Bus auf einen kleinen, nicht asphaltierten Weg ab und kam knirschend auf einem Schotterstück knapp unterhalb der Burg zum Halten.

Wir stiegen aus. Der Weg knisterte vor Hitze. Wir sammelten uns um Michael Neuhuber, der vor einem Schild mit der Aufschrift: Privatgelände. Betreten verboten! stehen geblieben war und ratlos zur Burg hinaufsah, die uns überragte, als wäre sie wirklich noch eine Befestigungsanlage, die Belagerer möglichst erfolgreich einschüchtern sollte.

Links ein Turm, der fast noch seine Originalhöhe hatte, aber in der Länge zur Hälfte weggebrochen war, sodass man durch die leeren halben Fensterlaibungen hindurch den blauen Himmel sah. Eine erstaunlich intakte Burgmauer führte von dort zu einem Wohntrakt, der im Gegensatz zu der Ruine des Wehrturms mit neuen Schieferschindeln gedeckt war, darunter tiefschwarzes Fachwerk, dessen Zwischenräume weiß in der Sonne glänzten, und vor uns war, etwa zwanzig Schritte entfernt, ein Tor mit einer alt aussehenden, sehr massiven Holztür.

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