Das war ich nicht

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Ich ging abermals zum Briefkasten, die Fahne war unten, aber ich sah trotzdem hinein und überlegte, was Arthur und die anderen wohl denken würden, wenn sie das hier sehen könnten: die Straße, von der ich nicht wusste, wohin sie führte, jenseits der Straße den alten Deich, diesseits mein Haus, das in den Vierzigerjahren errichtete Nebengebäude eines alten Bauernhofs, der dann abgebrannt war. Den Briefkasten, die Tür, das Schlafzimmerfenster und das Gitter an der Hauswand, das der Vorbesitzer angebracht hatte, damit Efeu daran emporwachsen möge, wahrscheinlich in der Hoffnung, das Erscheinungsbild des Hauses von verwahrlost in Richtung verwunschen zu wandeln.



Ich ging um das Haus herum, an dem ungehackten Holz vorbei und dem Reisebus mit der Aufschrift

modern reisen … bus reisen

, den der Vorbesitzer für Gäste hatte ausbauen wollen, ihn aber letztendlich nur mit fast leeren Farbeimern, leeren Blumentöpfen, Dämmpapperesten und Dachziegeln vollgerümpelt hatte.



Vielleicht sollten meine Freunde das erst sehen, nachdem ich mich hier an alles gewöhnt hatte, nachdem ich mich eingerichtet und mit der Übersetzung von Henry LaMarcks neuem Roman angefangen hatte. Arthur. Gösta und Regine, Sabine und Lars. Aber dann würden sie überrascht feststellen, dass ausgerechnet ich ihren Traum wahr gemacht hatte, den Traum vom Wohnen auf dem Land, hinterm Deich. Der Deich lag zwar aufgrund von Landgewinnungsmaßnahmen seit Jahrhunderten nicht mehr am Meer, die Küste war zwei Kilometer weit weg, hinter einem richtigen Deich, aber trotzdem: Es war gut, dass ich hier war. Schön war es auch. Irgendwie.







 Henry





Ich sollte mich wirklich schämen. Schämen solltest du dich, Henry LaMarck! Auf jeder anderen Party wäre es im Rahmen des gesellschaftlich Akzeptierten gewesen, sich sang- und klanglos davonzustehlen, doch auf der Party zu meinem eigenen sechzigsten Geburtstag war es das sicher nicht.



Meine Verlegerin Gracy Welsh hatte mich zu

Parker Publishing

 gebeten, angeblich um mir die Umschlagentwürfe für die Taschenbuchausgabe meines letzten Romans,

Windeseile

, zu zeigen. Als ich jedoch das Großraumbüro im 24. Stock betrat, standen plötzlich jede Menge Leute um mich herum und riefen: »Überraschung!« Viele hatten sich mit Hütchen dekoriert, mit ganz ironisch hässlichen Hütchen natürlich, da ich bei

Parker Publishing

 für meinen Humor bekannt war. Humor – Schmumor, ich war sechzig geworden, was war daran witzig?



Als sich der Überraschungslärm nicht legen wollte, schnippte Gracy mit dem Zeigefinger an ihren mit Sekt gefüllten Plastikbecher, begrüßte und beglückwünschte mich und sagte dann das, von dem sie dachte, das ich es ohnehin längst wusste:



»Henrys Geburtstag wäre ja an sich schon eine tolle Sache, aber das ist erst der Anfang: Henry ist nämlich mit

Windeseile

 einer der Finalisten um den diesjährigen Pulitzerpreis. Ist das nicht fantastisch?«



Alle schienen zu jubeln, das sah ich ihren Gesichtern an, denn ich hörte nichts, und spürte auch nichts, außer diesem Herzrasen, das mich seit einiger Zeit immer wieder befiel und in meinem ganzen Körper wiederzuhallen schien, aufdringlich und schnell. Oh Gott. Ich war für den Pulitzerpreis nominiert, den ich vor etlichen Jahren schon einmal für meinen Roman

Unterm Ahorn

bekommen hatte. Damals war das eine echte Auszeichnung gewesen, doch jetzt schoss mir nur ein Gedanke durch den Kopf: Sie wollen dir schnell noch mal den Pulitzerpreis geben, bevor sie dich aufs literarische Abstellgleis schieben. Ein zweiter Pulitzerpreis, das war, als bekäme ich den Ehrenoscar für mein Lebenswerk. Danach konnte man nur noch eine künstlerisch relevante Sache tun: sterben.



Ich schüttelte Hände und hangelte mich von einer Umarmung in die nächste wie ein ertrinkender Orang-Utan. Viele sagten, sie freuten sich auf mein neues Buch, meinen Roman über die Terroranschläge des 11. September. So hatte ich es nämlich angekündigt oder besser, so war es mir rausgerutscht, als ich vor ungefähr einem Jahr anlässlich des Erscheinens von

Windeseile

 bei Stephen Fry in der BBC zu Gast gewesen war, zusammen mit Elton John, der fast so witzig und geistreich reden konnte wie Stephen Fry selbst, was dazu geführt hatte, dass ich mich immer kleiner und langweiliger fühlte. Dann hatte ich es irgendwann gesagt: » Roman. 11. September.« Ich fand das witzig in dem Moment, und Elton John beeindrucken wollte ich auch, sodass ich sogar noch einen draufsetzte und behauptete, es sei ein groß angelegtes Projekt, an dem ich praktisch seit dem 12. September 2001 heimlich arbeiten würde. Nun hatte ich den Salat, alle erwarteten keinen Roman von mir, sondern einen Jahrhundertroman. Geschrieben hatte ich seitdem keine Zeile, doch

Parker Publishing

 hatte bereits ein Marketingkonzept und eine Absatzprognose, in der das Wort »Million« vorkam.



Meine Verlegerin Gracy Welsh schien extra für diese Überraschungsparty zum Friseur gegangen zu sein – ihre blonden Haare, die wie immer die Form eines einbetonierten Baisers hatten, wirkten heute besonders unverwüstlich. Ich stellte mir vor, wie sie in ihrem schwarzen Mercedes-Cabriolet den Lake Shore Drive entlangbrauste und kein einziges Haar auch nur ins Zittern kam.



Sie trug ein schlichtes rotes Kleid, vor dessen Hintergrund ihre Comme-des-GarÁons-Handtasche mit nicht weniger als acht Tragriemen besonders hervorstach. Sie würde mich fragen, wann das Manuskript käme. Alle anderen würden sich zurückhalten, schließlich war es normal, dass ich meine Manuskripte erst in letzter Minute in praktisch druckreifem Zustand abgab. Doch Gracy sah ich an, dass sie wissen wollte, was los war. Sie wartete nur auf den richtigen Moment, um mich zu fragen.



Wäre ich bloß nicht hergekommen, ich Hirsch! Doch dann hätte sie erst recht geahnt, dass es ein Problem gab.



»Geburtstag haben und einen zweiten Pulitzerpreis bekommen, da weiß man ja gar nicht, was schöner ist«, sagte einer der Ironische-Hütchen-Träger. Alle erwarteten eine humorvolle Antwort von mir, doch mir fiel nichts Besseres ein als:



»Ich habe nichts gegen einen Alterspreis.«



»Aber Mr. LaMarck, Sie sind doch noch nicht

alt

«, sagte da eine Frau.



»Ich habe ihr gesagt, sie soll das sagen«, sagte der Hütchenträger und lachte laut, schien dann jedoch etwas unsicher zu werden, weil ich nicht einmal lächelte, und fügte hinzu. »Wie sechzig sehen Sie wirklich nicht aus.«



So war es, alle schätzten alle jünger als sie waren, dachte ich und sagte zu ihm, der höchstens vierzig sein konnte:



»Sie auch nicht.«



Nun lachten alle. Da bemerkte ich, dass Gracy auf mich zukam. Quer durch den Raum, Schreibtische und Gäste umschiffend, direkt auf mich zu. Das war’s. Aber sie blieb stehen, öffnete ihre Comme-des-GarÁons-Handtasche, nahm ein sehr flaches Handy heraus und sah erst auf die Anzeige, bevor sie den Anruf annahm. War es Hugh Hansen, der Verlagsleiter, der sie fragte, ob sie schon mit mir gesprochen hatte. Ich sah den Hütchenträger an und sagte: »Ich muss mal für kleine Pulitzerpreisträger.«



Wieder Gelächter. Ich verschwand in Richtung Toilette, machte aber vor dem Aufzug halt und drückte auf den Pfeil, der nach unten zeigte.



Nach wenigen Sekunden kam ein Fahrstuhl, ich betrat ihn und konnte nicht anders, als mein Spiegelbild in der Rückwand der Kabine zu betrachten. Der Mantel mit dem grauen Pelzkragen, der senfgelbe Helmut-Lang-Anzug, die grauen Ledermokassins, die sorgfältig durcheinandergebrachten schwarzen Haare: Hier stand ein berühmter Mann, der nicht alt sein wollte. Oder ein alter Mann, der nicht mehr berühmt sein wollte?





Eine knappe Stunde später stand ich in der Bar des

Estana Hotel & Spa

 und hoffte, dass hier niemand nach mir suchen würde. Zwei japanische Geschäftsleute saßen an einem der Tische, über einen Laptop und eine Schale mit Wasabinüsschen gebeugt. Von denen ging keine Gefahr aus. Ansonsten waren keine Gäste hier, nur der Barmann machte mir Sorgen. Ich spürte, dass er mich beobachtete, obwohl er sich alle Mühe gab, mich das nicht spüren zu lassen. Ich sah ihm an, dass er schon lange in einem Luxushotel arbeitete und die Art von persönlichkeitsspaltender Schulung durchlaufen hatte, in der ihm zwei widersprüchliche Dinge antrainiert worden waren: Diskretion und Aufmerksamkeit. Er hatte gelernt, so zu tun, als höre er nicht, was die Menschen an seiner Bar miteinander sprachen, und war doch zur Stelle, wenn jemand den Satz »Ich glaub, ich trink noch was« fallen ließ. Er gab vor, mit der Reinigung der Kaffeemaschine beschäftigt zu sein, und doch war ich mir sicher, dass er sich fragte, was der elegant gekleidete Herr dort hinten machte. Dieser elegant gekleidete Herr, ich, schlurfte in Ledermokassins über einen Veloursteppich quer durch den Raum, schlurfte vom Eingang bis zur Bar, dann wieder zum Eingang und wieder zur Bar zurück, ohne die Füße auch nur ein Mal anzuheben.



Ich hielt meine Kreditkarte in der Hand, meine blöde Platinkarte und drückte die Finger auf den Magnetstreifen. Dann stellte ich mich an die Bar und legte die Hand mit der Kreditkarte auf den Tresen. Der Schlag der elektrischen Entladung ließ meinen Körper zusammenzucken. Ich gab ein klitzekleines Stöhnen von mir.



»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«, fragte der Barkeeper, doch ich schüttelte nur den Kopf und verließ die Bar.



In einem meiner Romane gab es so eine Szene. Die Kreditkarte eines korrupten Staatsanwalts wird dadurch unbrauchbar, dass der Schlag, den er nach dem Beschreiten eines Veloursteppichs bekommt, seinen Magnetstreifen entlädt. Ich hatte das einfach so geschrieben, ohne es ausprobiert zu haben. Gütiger Gott, es musste einfach funktioniert haben – Kreditkartenlesegeräte funkten dauernd irgendwelche Daten an ihre Zentrale; wer Kreditkarten benutzte, konnte gefunden werden. Doch ich würde mich nicht finden lassen. Auf dem Weg vom Verlag hierher war ich bei der Bank gewesen und hatte 10.000 Dollar abgehoben.

 



Ich durchquerte die Hotelhalle in Richtung Rezeption. Auf dem Tresen stand eine Obstschale, in der nur grüne Äpfel lagen, was zum minimalistischen Einrichtungskonzept passte, dem Sichtbeton, den Holzpaneelen, den eckigen Vasen mit blattlosen Stöckern und dem anderen Zen-Schrott, der in der Hotelhalle herumstand.



»Willkommen im

Estana Hotel & Spa

, was kann ich für Sie tun?«



»Ein Zimmer, bitte.«



»Haben Sie reserviert?«



»Haben Sie eine Suite?«



»Wir haben noch eine Juniorsuite. Für wie viele Nächte?«



»Zwei, nein, acht.«



»Da wäre unsere aktuelle Rate 590 Dollar pro Nacht, plus 45 für das Frühstück.« Ich nickte. »Tragen Sie bitte Ihren Namen hier ein. Und dann bräuchte ich noch Ihre …«



»… Kreditkarte, ja natürlich«, sagte ich und schnippte sie beiläufig auf den Tresen. Der Rezeptionist hatte ein sehr schönes Gesicht, war wahrscheinlich halb Chinese, halb Europäer, eine Mischung, die ich schon immer charmant gefunden hatte. Ich sah ihn gerade lang genug an, um mich der Richtigkeit meines Geschmacksurteils zu vergewissern, und sah dann wieder auf das Anmeldeformular. Während er die Kreditkarte durch das Lesegerät schob, trug ich mich ein und machte mich bei dem Geburtsdatum um elf Jahre jünger.



»Haben Sie eine andere Kreditkarte?«



»Leider nicht. Ich muss sie zerkratzt haben, immer dieser blöde Sand in der Brieftasche«, sagte ich und ärgerte mich über diese sowohl unnötige als auch unbeholfene Erklärung.



»Ich würde im Voraus zahlen. Bar«, sagte ich, woraufhin die Unsicherheit, die für einen Moment im Lächeln des Rezeptionisten aufgetaucht war, wieder verschwand.



»Soll Ihnen jemand mit dem Gepäck helfen, Mr. Santos?«



Graham Santos. Unter diesem Namen hatte ich mich angemeldet. Dass auf meiner Kreditkarte ein anderer Name stand, hatte er entweder nicht mitbekommen oder er ignorierte es ebenso diskret, wie der Barkeeper mich ignoriert hatte.



»Danke. Geben Sie mir einfach eine Zahnbürste.«





Nachdem ich die Suite betreten und das

Bitte-nicht-stören

- Schild hinausgehängt hatte, ging es mir besser. Aus dem Fenster des Wohnzimmers sah ich den See, auf den sich der Abend gelegt hatte, die Luft so dunstig und schwer, dass ich kaum glauben konnte, man könne sie atmen. Auch die beiden Türme der Marina City konnte ich sehen. Im höheren lag meine Wohnung, doch dort würden sie mich finden. Der Verlag würde nach meinem neuen Roman fragen. Journalisten würden fragen, wie es für mich sei, zum zweiten Mal für den Pulitzerpreis nominiert zu sein, wie es für mich sei, sechzig Jahre alt zu sein –

alt

 zu sein. Bei CNN stand ich auf der Liste der Prominenten, für die es einen vorproduzierten Nachruf gab. Wenn ich jetzt noch einmal den Pulitzerpreis bekäme, rückte ich bestimmt in die Liste der Prominenten auf, bei deren Tod das Programm unterbrochen wurde. Die

breaking-news

-Liste. So berühmt war ich geworden.



Ich ließ mich auf das Bett meiner Juniorsuite fallen, und das Herzrasen ließ endlich nach.







 Jasper





Einmal pro Woche schickte die Personalabteilung eine Mail mit den neuen Mitarbeitern rum: Fotos, Mailadresse, Ausbildung, Funktion und Durchwahl. Hieß sie willkommen, ich glaube sogar, herzlich. Wenn jemand nicht mehr da war, erfuhr ich das erst, wenn ich eine Durchwahl wählte und jemand anders am Apparat war.



In wenigen Tagen würde wahrscheinlich auch an meiner Durchwahl jemand anders sitzen. Doch wenigstens musste ich mir nicht die Demütigung geben, ahnungslos da aufzutauchen und gefeuert zu werden. Ich war gewarnt. Es gab schlimmere Arten, von seiner Kündigung zu erfahren: Ich hatte mal von einem Kollegen gehört, der am Wochenende von seinem BlackBerry eine Mail von seiner privaten an seine Arbeitsadresse schickte und von einer automatischen Rückantwort mitgeteilt bekam, dass er nicht mehr für Rutherford & Gold arbeitete.



Zugegeben, so was war selten. Vielleicht sogar ein Gerücht. Aber auch der Normalfall war schlimm genug. Zum Beispiel bei meinem ehemaligen Chef aus dem Back-Office. Er wurde versetzt zu Fusionen und Übernahmen, es sah aus wie eine Beförderung, aber sicher war er sich nicht. Dafür, dass hier alles angeblich so rational war, gab es erstaunlich viel, wo man im Kaffeesatz lesen musste wie eine Wahrsagerin. Als ich einige Tage später mit meinem Ex-Chef im Fahrstuhl stand, sah er so schlecht aus, dass ich mich kaum traute, Hallo zu sagen. Schließlich erfuhr ich, was passiert war: Er hatte sein neues Büro vermessen, und es war zwei Quadratfuß kleiner als sein altes. Das waren ungefähr drei Seiten Papier. Und doch konnte er sich nicht damit abfinden, wurde schließlich sogar um 6:30 bei dem Versuch erwischt, sein altes Büro noch einmal nachzumessen. Einige Wochen später wurde er krank. Nie mehr gesehen. Obwohl sein neues Büro viel heller und zwei Etagen höher war, konnte ihm niemand den Glauben nehmen, degradiert worden zu sein.



Nun stand ich mitten am Vormittag im

Caribou Café

, wo ich mir sonst nur mittags schnell ein Sandwich und einen Kaffee Americano holte. Setzte mich zum ersten Mal an einen Tisch. Merkwürdig, dass es hier überhaupt Tische und Stühle gab, wo alle so in Eile waren. Sie fragten einen nicht mal, ob man den Kaffee hier trinken wollte. Ich glaube, die hatten nichts anderes als Einwegbecher zum Mitnehmen. Nach dem ersten Schluck spürte ich ein Stechen in meinem Magen, doch ich gab nicht auf, nahm einen zweiten und, ehe mein Magen darauf reagieren konnte, einen dritten. Das würde ich nun wohl den ganzen Tag tun müssen. Kaffee trinken. Heute und an den vielen folgenden arbeitslosen Tagen auch.



Auf der anderen Seite: Die schickten mich doch nicht in der Business-Class zur Fortbildung nach London, um mich dann zu feuern. Das wäre absurd. Absurd, aber nach allem, was ich in den letzten fünf Jahren erlebt hatte, nicht unmöglich. Dies war Rutherford & Gold.





Nach zwei weiteren Americanos und einem Donut ging ich durch kalten Wind und Schneefall nach Hause. Noch nie hatte werktags so früh meine Freizeit angefangen, die sich in dieser Wohnung abspielte, die die Bank mir besorgt hatte, im 38. Stock eines Hochhauses mit Seeblick und uniformiertem Portier, der mir die Tür aufhielt.



Ich setzte mich auf mein Sofa. Um diese Zeit hier zu sein, fühlte sich so merkwürdig an, dass ich einen Moment einfach nur dasaß. Und zum ersten Mal seit Monaten die Kartons an der gegenüberliegenden Wohnzimmerwand bemerkte. Vier hellbraune Boxen mit weißen Aufklebern. Das Wort premmö in schwarzen Großbuchstaben. Daneben in einem Oval, wiederum in Großbuchstaben, die Aufschrift: IKEA. Bereits vor einem Jahr hatte ich mir dort einen Tisch gekauft, ihn aber nie aufgebaut. Ich wusste nicht, wo ich das in meine Work-Life-Balance einbauen sollte. Teil meiner Arbeit war das nicht, aber in meiner Freizeit wollte ich auch keine Möbel zusammenschrauben. So lag der Tisch immer noch originalverpackt da.



In meiner Freizeit schlief ich normalerweise, ging ins Fitnessstudio oder Essen einkaufen. Am ersten und dritten Sonnabend jeden Monats wurde meine Wäsche abgeholt und die saubere geliefert, am zweiten und vierten Wochenende telefonierte ich mit meiner Mutter. Ansonsten spielte ich Schach. Früher im Verein, in Bochum, Jugendbundesliga sogar. Jetzt über

ChessBase

, von meinem Sofa aus, den Computer auf dem Schoß.



Ich holte ein Küchenmesser. Dies war der perfekte Moment– wann war ich sonst um diese Zeit zu Hause, in diesem Vakuum zwischen Work und Life? Ich durchstach das Klebeband und riss die Kartons auf.

Premmö

. IKEA schien die Punkte auf dem ö auch in den USA für nötig zu halten. Ich breitete alles vor mir aus, die Metallfüße, die Bretter, die Klemmen, die zwei Sechskantschlüssel, stellte alle Schrauben senkrecht hin, die größten links, die kleinsten rechts. Las die Aufbauanleitung von vorn bis hinten durch, legte sie weg und begann. Eine Stunde später war

Premmö

 fertig. Stand da wie ein Fremdkörper – kein Wunder, es war ja auch ein Schreibtisch, mitten in meinem Wohnzimmer.



Ich holte einen Klappstuhl aus der Küche und setzte mich. Loggte mich bei Facebook ein, dem Internet-Netzwerk, wo man Kontakte zu alten Freunden halten konnte. Oder neue finden. Hatte beides nicht funktioniert. Meine Tage glichen sich so sehr, dass ich nie wusste, was ich in mein Profil schreiben sollte:

Jetzt arbeite ich/jetzt bin ich zu Hause/jetzt gehe ich ins Bett?



Ich hatte 93 Facebook-Freunde. Die, die ich davon persönlich kannte, hatte ich zum größten Teil seit Jahren nicht mehr gesehen. Kannte sie aus der Schule, vom Studium und vom Schach. Heute war in meinem Schachclub Spielabend. Auf der Facebook-Pinnwand des Clubs trudelten die Meldungen ein, wer alles kam. Alle kamen. Wie jede Woche. Dort könnte ich jetzt auch sein. Bier trinken. Erdnussflips essen. Blitzschach spielen. In meinem ersten Jahr hatten mich sogar zwei Freunde in Chicago besucht, Oliver und Max. Doch irgendwann war der Kontakt über eine solche Entfernung abgebrochen, das war ganz normal, und um neue Freunde kennenzulernen, feh