Das war ich nicht

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Als ich gerade mit einem Kollegen in New York telefonierte, hörte ich Chris fluchen. Lauter als normal.

»Hey, Girl. Was ist mit Equinox los?«

»Nichts.«

»Wie, nix? Ich komme nicht ins System.«

»Ich bin drin«, sagte ich.

»Schön für dich.« Das war Neelys Art, mich zu bitten, ihm zu helfen. Alle wussten, dass ich mit Computern umgehen konnte. Natürlich sollte ich ihm helfen. Er war unser Star. Betreute nicht nur die größten Kunden, sondern war auch der Einzige an unserem Desk, der für Prop-Trading autorisiert war. Also mit dem Kapital der Bank spekulieren durfte. Doch da ich eh so gut wie gefeuert war, genoss ich es, ihm die Standard-Ratlos-Antwort des gleichgültigen Kollegen zu geben:

»Mach erstmal einen Neustart.«

Neely lag mehr in seinem Stuhl, als dass er saß, sein Becken so weit unter den Tisch gerutscht, dass seine Schultern fast auf der Höhe der Schreibtischplatte waren. Ich sah ihn eine Weile an, doch er ignorierte mich. Dann sah ich den Sicherheitsmann. Obwohl er noch weit weg war, ahnte ich, dass er zu mir kam. Das schwarze Hemd fiel mir als Erstes auf, dann das Sprechteil des Funkgerätes an seinem Schultergurt, die Schusswaffe am Gürtel.

Natürlich. So feuerten sie mich. So unsubtil, wie es nur geht. Alex war dem Sicherheitsmann entgegengegangen. Nickte ihm zu. Wies mit einer knappen Geste seiner großen Hand in meine Richtung. Sie kamen. Plötzlich wusste ich, was ich tun werde. Ich werde mich wehren. Ihnen endlich sagen, was ich von ihnen hielt. Von Chris mit seinen Scheißsprüchen, Alex mit seinem Möchtegern-Pokerface. Die sollten sich bloß nichts darauf einbilden, dass sie so gut funktionierten hier. Sie standen doch alle unter dem gleichen Druck wie ich. Irgendwann werden auch sie weg sein. Aussortiert. Genau das werde ich ihnen sagen. Direkt ins Gesicht.

Als sie unsere Reihe erreicht hatten, verlangsamte der Sicherheitsmann das Tempo, wusste nicht, wo er hin sollte. Er ließ Alex vorgehen. Sie kamen. Auf mich zu. Ich rutschte auf meinem Stuhl nach vorn, ganz nah an die Monitore ran. Alex und den Sicherheitsmann hinter mir. Dann Alex’ Stimme, in einem Ton, dass alle sich umdrehten:

»Wir müssen ein paar Veränderungen in der Abteilung vornehmen und haben uns leider entschlossen, dass wir die Zusammenarbeit nicht mehr fortsetzen wollen. Hier ist ein Brief, in dem alles Weitere steht. Du hast eine halbe Stunde, um deine Sachen zu packen. Dann wird dieser Herr dich aus dem Gebäude begleiten.«

Ich schwieg. Vergaß zu atmen. Und sagte dann sehr leise:

»Okay.«

Starrte auf den Equinox-Bildschirm.

»Das meint ihr nicht ernst, Jungs«, sagte da jemand links von mir. Chris.

Ich drehte mich um, doch weder Alex noch der Sicherheitsmann sahen mich an. Dann sah ich, wie Chris Neely sich in eine halbwegs sitzende Position hocharbeitete.

»Aus gegebenem Anlass«, sagte Alex. »Das müssen wir hier ja nicht vor allen ausbreiten.«

Chris zischte etwas, das ich nicht verstand, und begann wortlos seine Sachen zu packen. Er brauchte nur zwei Minuten. Verabschiedete sich von einigen Kollegen und ging. Ich sah ihm hinterher. Er versuchte, den lockeren Gang eines Basketballspielers zu imitieren, der für einige Minuten vom Platz gestellt worden war.

Wenig später klingelte mein Telefon. Auf der Anzeige sah ich, dass es niemand aus New York oder London war, sondern jemand von hier.

»Jasper, Futures und Optionen«, sagte ich.

»Brauchst gar nicht so zu grinsen, St.-Pauli-Girl. Du bist nicht hier, weil du gut bist, sondern weil du ihnen ewig dankbar sein wirst, dass sie dich damals aus dem Back-Office rausgeholt haben. Du wirst nie einer von uns, da kannst du noch so viele Nachtschichten machen.«

Ich drehte mich um und sah Chris an einem Telefon stehen, an einem leeren Platz sechs Reihen hinter mir.

»Chris, Mann, das tut mir echt leid. Wirklich. Weißt du, wer der Mann gestern an meinem Platz war?«, fragte ich. Er legte auf.

Dann war Chris Neely weg. Ich war noch da.

Henry

Was war das? Ich hatte im Halbschlaf meine Wange berührt und sie dann, sofort hellwach, mit hektischen Fingern abgetastet – verkrustetes Zeugs bedeckte meine Haut. Hatte ich mich verletzt? War eine Ader geplatzt? Ich suchte nach dem Lichtschalter neben dem Bett, erwischte den, der sämtliche Zimmerbeleuchtung zugleich anschaltete, und es wurde so hell, als wollte mich jemand aus meiner Juniorsuite beamen. Ich taumelte ins Badezimmer, erwartete eine verheerende Wunde, getrocknetes Blut, und so ähnlich sah es auch aus, nur mit Stückchen von Papier und Alufolie mitten in meinem Gesicht: Ich war auf dem Betthupferl eingeschlafen, einem Schokoladentäfelchen, das das Zimmermädchen auf mein Kopfkissen gelegt hatte.

Ich ließ mir ein Bad ein. Angewidert stellte ich fest, dass auf dem Waschtisch eine Duschhaube lag, dann legte ich mich ins Wasser und wartete darauf, dass es meinen mit viel Aufwand in Form gehaltenen Körper komplett bedeckte. Alles um mich herum war weiß, die Handtücher, die Wände, die Fliesen. Plötzlich wurde mir klar, warum ich Hotels nicht mochte. Sie erinnerten mich an Pflegeheime. Ich wusch mein Gesicht und blieb solange mit dem Kopf unter Wasser, wie ich konnte. Hörte meinem Herzschlag zu, der so schnell war, als wäre ich gerade mit einem Gummiseil an den Füßen von einer Brücke gesprungen.

War da ein Geräusch an der Tür? Natürlich nicht, ich hatte den Kopf unter Wasser gehabt. Doch da war es noch mal. Die Verlagsidioten hatten mich gefunden. Ich schoss aus dem Wasser, warf mir, ohne mich abzutrocknen, den Bademantel über, schlich tropfend zur Tür und riss sie auf. Leise Ambientmusik auf dem Gang, sonst nichts. Niemand. Nur das Bitte-nicht-stören-Schild war heruntergefallen. Ich hängte es wieder an die Klinke und schloss die Tür.

Dann wollte ich in die Badelatschen schlüpfen, doch auch das erwies sich als schwierig, da man sich eine Frotteekordel zwischen die ersten beiden Zehen zwängen musste, um die Latschen am Fuß zu halten. Was denken die eigentlich, wer hier wohnt? Paarhufer, die Duschhauben benutzen, anstatt sich die Haare zu waschen und sich unmittelbar vor dem Schlafengehen mit Süßigkeiten vollstopfen?

Ich zwängte mich trotzdem in die Schlappen. Dann klingelte mein iPhone. Während ich es aus der Manteltasche zog, ahnte ich bereits, wer es war: Der Verlag musste schon verrückt sein vor Sorge um mich, doch so leicht würde ich es ihnen nicht machen. Ich hatte bereits den Finger auf dem Ausschaltknopf, da sah ich, welcher Name auf der Anzeige blinkte, nahm ab und sagte:

»Hallo, Enrique.«

»Henry, wie geht’s denn so?«, sagte eine Stimme, die mir schon immer etwas zu tief und seriös für solche Freundlichkeiten erschienen war.

»Gut«, sagte ich, ohne zu überlegen. »Fantastisch.«

»Und dein Termin heute? Du hast mich doch nicht etwa vergessen?«

»Oh, der … das ist ja jetzt.«

Normalerweise lag ich um diese Zeit bei Enrique auf der Massageliege und absolvierte ein auf mich zugeschnittenes Anti-Aging-Programm, das physiotherapeutische und kosmetische Elemente kombinierte: Rückenmassage und eine Gesichtsmaske mit antioxidierendem Granatapfel-Extrakt. Seit einem Jahr machte ich das jeden Tag, nun hatte ich es zum ersten Mal vergessen. Sofort vermisste ich es, wie Enrique leise mit mir sprach, mir von seiner Chinchillahündin erzählte oder von seinen Reisen in die Wüste von New Mexico. Wenn er etwas über meinen Rücken sagte und dabei einen medizinischen Fachausdruck benutzen musste, seufzte er jedes Mal, als erinnere ihn das an eine Anatomieprüfung: »Du hast da eine Verspannung im, hmm … Trapezius.«

»Tut mir leid, ich kann nicht, ich arbeite. Schreibe.«

»Oh. Okay. Dann verlegen wir das einfach.«

»Ja«, sagte ich, schaltete das Telefon aus und ging in den Wohnbereich, wo ich mir einen Kaffee machte und ewig nach den Löffeln suchte, bevor ich ihn wie ein desorientierter Zausel mit dem kleinen Finger umrührte.

Hinter dem Fenster lag meine verschneite Heimatstadt. Bald würde Gracy Welsh alles in Bewegung setzen, um mich zu finden: Sie würde vor meinem Haus auftauchen, von dem Portier erfahren, dass ich seit gestern nicht nach Hause gekommen war, meine Nachbarn mit Fragen löchern und mit ihrem Handy ein Heer von nach mir suchenden Praktikanten und Assistentinnen durch die Stadt scheuchen. Bei wem ich mich versteckt haben könnte, würde sie überlegen, doch ihr würde niemand einfallen.

Es gab keinen Schulfreund aus der Zeit, bevor ich ein weltberühmter Autor geworden war, meine Eltern waren tot, Geschwister hatte ich nicht, und dass ich auch nur überlegt haben könnte, mich bei Andrew zu verstecken, hielt sie sicherlich für genauso ausgeschlossen wie ich. Sie hatte ihn ja oft genug erlebt, in unseren gemeinsamen Jahren, 1988 bis 1993.

Dass Andrew mich betrog, hatte mich weniger gestört als die Tatsache, wie berechenbar es für mich war, wann und mit wem es geschah. Es war so weit gekommen, dass ich, wenn wir auf eine Party kamen, nach einem Blick durch den Raum wusste, an wen er sich im Laufe des Abends ranmachen würde. Es waren immer Typen mit breiten Schultern und einer Affinität zu französischer Literatur. Wenn Andrew dann betrunken war, hatte fast jeder breitschultrige Mensch eine Chance, auch wenn er noch nie eine Zeile von Proust gelesen hatte.

Irgendwann bekam Andrew einen Uni-Job in einer Stadt, in die es von Chicago aus keine direkten Flüge gab. Wir telefonierten weniger. Riefen uns nur an, wenn wir wussten, dass wir nur den Anrufbeantworter des anderen erreichten.

 

Ich nahm meine Brieftasche und griff in das Fach hinter dem mit dem ganzen Geld. Ich nahm den roten Briefumschlag heraus, den ich, ein Mal in der Mitte gefaltet, immer bei mir trug. Schon oft hatte ich beschlossen, ihn wegzuschmeißen – wie albern war das auch, mit einem roten Couvert durch die Gegend zu laufen, auf das ich in Großbuchstaben notfall geschrieben hatte.

Aber ich hatte ihn behalten und überlegte nun zum ersten Mal, ihn zu öffnen. Aber war das schon der Notfall? Was, wenn es noch schlimmer kam?

Ich ließ mir vom Zimmerkellner einen Obstsalat bringen, nahm die Chicago Tribune, die der Kellner auf das Tablett gelegt hatte und folgte meiner Zeitungsroutine: erst die Bilder im Sportteil ansehen, dann den Wirtschaftsteil wegschmeißen, dann – dann war da dieses Foto, das ich bewegungslos, fassungslos anstarrte. Es zeigte einen erschöpften jungen Mann in weißem Hemd, der mit müden Augen in die Ferne blickte, bis in meine Juniorsuite, auf das Sofa, auf dem ich saß; er schien mich so direkt anzusehen, dass ich mir durch die Haare fuhr und den Kragen meines Bademantels richtete. Hinter ihm zeichnete sich unscharf etwas ab: die nach unten weisende Kurve eines Aktienkurses.

Meike

Der Supermarkt war ein riesiger Klotz mit Fahnen davor, auf einer grünen Wiese, an der zwei Landstraßen in einem Kreisverkehr aufeinandertrafen. Wenige Dinge haben auf mich eine ähnlich beruhigende Wirkung wie ein Kreisverkehr im ländlichen Raum, mit der obligatorischen Skulptur aus dem Kunst-im-öffentlichen-Raum-Etat in der Mitte: zwei in Bronze gegossene Bauern, die Kohl ernteten oder, wie ich nach der fünften oder sechsten Umrundung dachte, wohl doch eher Rüben.

Ich kaufte Fisch, um für etwas Lokalkolorit zu sorgen, obwohl der Fisch tiefgekühlt war und aus dem Atlantik kam. Dazu kaufte ich Kohl, weil der fast nichts kostete und mein Geld durch Umzug und Hauskauf aufgebraucht war. Ich war pleite, blank, abgebrannt. Manchmal denke ich viel in Synonymen –eine Berufskrankheit der Übersetzerin, die auf der Suche nach dem passenden Wort alle Möglichkeiten durchspielt. So brachte ich mich in Stimmung für Henry LaMarcks neuen Roman.

Auf der Fahrt zurück nach Tetenstedt erinnerten mich meine schmerzenden Schultern jedes Mal, wenn ich schaltete, an das Holz, das ich gehackt hatte. Ich kann hier leben. Entlang der Landstraße boten Bauern auf handgeschriebenen Schildern Kartoffeln, Kohl und andere Produkte aus der Region an. Auf einem Schild stand: Deichlamm/Honig/Wurst aus eigener Schlachtung.

Ich fuhr durch das Dorf, passierte das Ortsausgangsschild, das unter dem durchgestrichenen Tetenstedt eigentlich den Namen der nächstfolgenden Ortschaft zeigen müsste, doch hier war nur ein gelbes Nichts. Eine halbe Zigarette später kam mein Haus. Ich stieg aus und horchte dem Laut hinterher, den die zuschlagende Autotür machte.

Die rote Briefkastenfahne war oben. Stand unbewegt im Wind wie ein Signal, das mir sagte, dass mein neues Leben beginnen konnte, und ich öffnete die weiße Klappe vorsichtig wie die Tür eines Backofens, nachdem die Schaltuhr geklingelt hatte und die Tiefkühllasagne nach fünfzig Minuten endlich fertig war.

Es war ein Prospekt, auf dem nicht einmal meine Adresse stand, nur ein Aufkleber mit dem Satz: Ihr persönliches Angebot. Entdecken Sie eine neue Welt von Wellness – ganz bequem und von zu Hause! Darunter das Bild einer schlanken Frau, zurückgelehnt in einem Massagesessel namens MediTouch. Mit geschlossenen Augen lag sie da, ein Badehandtuch um den Körper, ein anderes um den Kopf geschlungen. Ganz entspannt, ganz unabhängig.

Positiv ausgedrückt: Auch die Werbung war hier anders als in der Stadt, wo dafür geworben wurde, dass Dinge gebracht wurden, wie Sushi, oder abgeholt, wie kaputte Fernseher. Aber war anders wirklich besser?

Egal, dann kam das Manuskript eben später. Ich kochte gleich eine ganze Kanne Kaffee, um sie auf den inzwischen glühend heißen Kachelofen zu stellen und dort warm zu halten. Ich konnte warten, ich hatte ja Holz.

Mit Thorsten Fricke hatte ich ausgemacht, dass der Verlag mir das Honorar im Voraus überweisen würde, sobald ich mit der Arbeit begonnen hatte. Dann werde ich den ganzen Tag mit Henry LaMarck verbringen, nach zehn, zwölf, vierzehn Stunden in der perfekten Welt seiner Sprache einschlafen und eben dort wieder aufwachen.

Mein Mobiltelefon klingelte, zum ersten Mal in meinem Haus.

Ich wollte schon rangehen, als ich auf der Anzeige eine Hamburger Nummer sah. Arthur konnte es eigentlich nicht sein, denn dessen Nummer hatte ich gespeichert und seinen Namen durch Nicht rangehen ersetzt, dennoch duckte ich mich, während ich auf den Knopf mit dem grünen Hörer drückte.

»Hallo Meike«, sagte Thorsten Fricke. »Hast du meine Mails nicht gelesen? Natürlich hast du das nicht. Sonst hättest du mich längst angerufen.«

»Ich habe noch kein Internet hier.«

»Die brauchen ja ewig, um einen Internetanschluss freizuschalten bei dir da in Friesisch Sibirien.«

»Sibirien! Es ist schön hier.«

»Man zieht doch nicht einfach so aufs Land, ohne Familie.«

»Vielleicht kaufe ich mir ja ein Pferd!«, sagte ich.

»Gibt es da keine Internetcafés?«

»Nein.«

»Nicht mal einen Telefonshop für die ausländischen Erntehelfer? Oder wer auch immer da euren Spargel …«

»Kohl.«

»Kohl«, sagte er, dann schwieg er. Wahrscheinlich versuchte er sich in seinem Büro beim Farnsdorff Verlag vorzustellen, wie es hier aussah. »Also, was ich dir geschrieben hatte«, sagte er dann und seine Stimme klang nun so, als hätte er sich diese Worte im Voraus zurechtgelegt. »Es gibt ein Problem mit dem neuen Buch. Henry hat nicht geliefert.«

»Nicht geliefert?«

»Es gibt kein Manuskript. Er ist, na ja, er scheint verschwunden zu sein.«

»Verschwunden.«

»Parker hat eine Überraschungsparty zu seinem Sechzigsten gemacht. Und er ist weggelaufen.«

»Henry LaMarck läuft doch nicht einfach so weg.«

»Auf jeden Fall ist er seitdem nicht mehr in seiner Wohnung aufgetaucht.«

Ich nahm den Roman Windeseile aus der Umzugskiste, auf die ich groß LaMarck geschrieben hatte, und sah mir das Autorenfoto an. Frontal fotografiert blickte Henry LaMarck durch eine schwarze Hornbrille in die Welt und forderte sie mit seriösem Autorenblick auf, seine Bücher zu lesen. Dieser Mann lief nicht weg.

»Sucht jemand vom Verlag nach ihm?«

»Um Gottes willen!«

»Was?«

»Sie suchen natürlich nicht. Eigentlich hätte ich das noch nicht mal dir erzählen dürfen. Wenn die Öffentlichkeit das erfährt, ist hier Land unter. Niemand gibt einem Verschwundenen einen Pulitzerpreis.«

»Vielleicht ist er überfallen worden. Oder im Krankenhaus.«

»Nun entspann dich mal. Er braucht einfach länger mit dem Buch, das ist alles. Sobald er fertig ist, taucht er bestimmt wieder auf.«

»Könnt ihr mir trotzdem schon den Vorschuss zahlen?«

»Solange wir kein Manuskript von ihm haben? Nein.«

»Aber ich muss …«, ich dachte an die erste Rate für den Kredit, die fällig war, »… wirklich nicht?«

»Wenn es in der nächsten Woche nicht kommt, müssen wir es ein halbes Jahr schieben. Oder ein Jahr.«

Ich legte auf, schaltete den Wasserkocher ein und öffnete den Kühlschrank. Der Tiefkühlfisch fing langsam an zu tauen – ich hatte vergessen, dass der Kühlschrank kein Gefrierfach hatte. Die Wischfärbung an den Wohnzimmerwänden war zu einem sich langsam beschleunigenden Mahlstrom geworden, sodass ich mich ans Fenster stellte, ohne Getränk, ohne Musik. Draußen waren wieder Schafe auf der Wiese, genau genommen ein Schaf.

Jasper

In der Lobby meines Apartmenthauses drückte ich den Knopf mit dem Pfeil nach oben. Während ich auf den Fahrstuhl wartete, dachte ich, wie schade es war, dass mein Vater nicht mehr lebte. Sonst hätte ich ihn anrufen und ihm von Chris Neelys Entlassung erzählen können. Davon, dass nun der Weg frei war. Für mich. Es würde ihn freuen, was sein Sohn für eine Karriere hinlegte. Sein Sohn, der keine Probleme hatte, sondern nur Herausforderungen – der nicht einsam war, sondern auf das Wesentliche konzentriert.

Ich hatte nicht immer davon geträumt, Trader zu werden. Hatte mich eigentlich nie für Banken oder Börse interessiert, nicht während meiner Kindheit und Jugend in Bochum und auch nicht während des Studiums. Meine Mutter arbeitete als Sozius in der Kanzlei Meyer, Lüdemann und Meyer, ich ging zum Kindergarten, zur Schule, zum Schach, studierte Mathe an der potthässlichen Ruhr-Uni. Das war die Vergangenheit. Nach dem Studium bekam ich einen Job im Frankfurter Büro von Rutherford & Gold. Es hätte auch ein anderer Job sein können, aber bei mir war es nun mal dieser. Bald danach kam ich in die Zentrale nach Chicago. Ins Back-Office, wo wir die Händler kontrollierten und auch irgendwie belächelten: die Händler, die »Jungs auf der Hühnerstange«, die schwitzend die Finanzmärkte voranruderten, sich mit Junkfood vollstopften und im Bezug auf Freizeit niemals Ausdrücke verwendeten wie »die Seele baumeln lassen«, sondern eher so was wie »Eierschaukeln«.

Die Arbeit im Back-Office hatte mich nie wirklich interessiert. Sitzungen in mit Kunst behängten Konferenzzimmern, Salat und Rückengymnastik in der Mittagspause mochten nett sein, eins waren sie auf jeden Fall: langweilig. Kein Vergleich mit dem intensiven Leben im Händlersaal, wo jede Sekunde zählte. Händler waren die Rockstars einer jeden Bank. Ich bewarb mich um einen Job als Rockstar. Wurde abgelehnt, bewarb mich noch mal. Wurde wieder abgelehnt, bewarb mich noch mal und endlich, nach drei Jahren im Back-Office, hatte es geklappt. Seitdem kannte ich keine Langeweile mehr.

Ich setzte mich an Premmö, spielte eine Stunde Schach. Dann schenkte ich mir einen Whiskey ein und ging auf den Balkon. Diesmal hatte ich meinen BlackBerry zur Sicherheit dabei.

Ich erinnerte mich an den Moment, als Alex mit dem Sicherheitsmann an mir vorbeigegangen war. Chris. Ich hatte ihn immer beneidet. Er war richtig angekommen, in dieser Bank, in diesem Leben, und wusste, was er in seiner Freizeit tun konnte: feiern. Mit Kunden ausgehen. Nun musste jemand seinen Platz einnehmen. Ich ließ die Eiswürfel in meinem Whiskeyglas rotieren. Dann nahm ich einen großen Schluck.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?