Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Bande des Friedens

Inspiriert von Immanuel Kant,Kant, Immanuel konnten um das Jahr 1900 Optimisten, die an den Fortschritt der Zivilisation glaubten, auf den wachsenden Internationalismus verweisen, der die europäischen Länder immer enger zusammenführte. Dass man beispielsweise Eisenbahnlinien errichtet und Telegrafenleitungen gespannt hatte, erleichterte das Reisen und das Kommunizieren von Nation zu Nation. Die größeren Städte des Kontinents hatten intensiveren Kontakt als je zuvor. Gleichzeitig wurden Maße und Gewichte standardisiert. Fast weltweit übernahm man das Meter, das Kilogramm und die Celsius-Skala. Auch die Zeitmessung erfuhr eine Neuordnung, denn nun galt die Mittlere Greenwich-Zeit als Richtschnur – all diese Maßnahmen schufen einen gemeinsamen Nenner der Zivilisation. Ferner entstanden internationale Organisationen mit nationalen Unterabteilungen wie das Rote Kreuz, die es erlaubten, spezifische Probleme über Ländergrenzen hinweg anzugehen. Diese Bemühungen betrafen die gesamte zivilisierte Welt, ihre Basis lag aber hauptsächlich in Europa, teilweise auch in den Vereinigten StaatenVereinigte Staaten. Ausgeschlossen blieben freilich die Kolonien.1 Hoffnungsvollen Beobachtern mochte es daher scheinen, dass die Modernisierung den Kontinent in hoher Geschwindigkeit zusammenwachsen lasse.

Traditionelle Verflechtungen gab es auch während der letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts dadurch, dass die europäischen Monarchen eng miteinander verwandt waren. Für die kontinentale Aristokratie hatte es nichts Ungewöhnliches, Souveränen verschiedener Nationalitäten zu dienen, das taten sie seit jeher. Gekrönte Häupter wiederum neigten dazu, untereinander zu heiraten. Als Enkel Königin VictoriasVictoria I sehnte sich der deutsche Kaiser Wilhelm II. Wilhelm II.geradezu nach sozialer Anerkennung seitens seiner britischen Verwandten. War eine neue Monarchie zu etablieren, etwa in Griechenland, fand sich stets ein unbedeutender deutscher Prinz, der gern die Krone übernahm. Als sich die Politik aber immer nationalistischer ausrichtete, was sich in der neu aufgekommenen Massenpresse niederschlug, mussten die königlichen Familien sich quasi nationalisieren, z. B. indem sie die Landessprache lernten oder gar ihren ursprünglichen Namen änderten. So wurde aus Sachsen-Coburg-Gotha etwa Windsor. Familientreffen und Staatsbesuche boten den Monarchen reichlich Gelegenheit, nicht nur Höflichkeiten auszutauschen, sondern auch substanzielle politische Probleme zu besprechen, sehr zum Kummer ihrer Berater. Während die östlichen Höfe das gemeinsame Anliegen verband, die autokratische Herrschaft zu verteidigen, begannen die divergierenden geopolitischen Interessen ihre praktische Kooperation zu erschweren.2

Das explosive Wachstum des internationalen Handels baute eine weitere Brücke zwischen den europäischen Ländern. Während des ganzen 19. Jahrhunderts vergrößerte sich das Volumen des Welthandels um das 43fache; allein in den zwei Jahrzehnten vor dem Krieg verdoppelte es sich! Diese atemberaubende Expansion lag an der Industrialisierung, die vom Vereinigten Königreich auf den Kontinent übergriff und die Warenproduktion zwischen 1800 und 1900 um das 33fache steigen ließ. Anders als die imperialistische Propaganda verhieß, fand der Handel mit Massenprodukten aber zu über 75 Prozent zwischen den entwickelten Ländern statt, nicht zwischen den Metropolregionen und deren Kolonien.3 Um Transaktionen zu erleichtern, schufen Kaufleute Verbindungen über Grenzen hinweg, indem sie etwa ihre Söhne ins Ausland schickten, wo sie neue Geschäftsmethoden lernen sollten, oder dort Filialen ihrer Firma gründeten. Besonders erfolgreich mit einer solchen Verflechtungsstrategie war das Haus Rothschild, das von einer jüdischen Bankiersfamilie aus FrankfurtFrankfurt am Main zu einem führenden Finanznetzwerk mit weiteren Sitzen in Paris und London aufstieg.4 Solche Kontakte schufen eine transnationale Geschäftswelt, die in europäischen oder gar in globalen Maßstäben dachte.

Die erfolgreiche Entwicklung des Handels machte internationale Kooperation auch auf einem anderen Gebiet notwendig, nämlich bei der Einrichtung eines rechtlichen und organisatorischen Rahmens für transnationale Aktivitäten. So engagierten sich die Europäer besonders, als Weltpostverein und Internationaler Telegrafenverein gegründet wurden; dank ihnen konnten Briefe und Telegramme nun über die Grenzen gehen. Nach komplizierten Verhandlungen vereinbarten die kontinentalen Regierungen außerdem, die Unantastbarkeit kommerzieller Verträge zu respektieren, da diese lebenswichtig für den Handel waren. Ebenso bemühten sie sich um den Schutz des geistigen Eigentums und beschlossen Copyrightregelungen, aufgrund derer nun auch Bücher international verkauft werden konnten. Andere Vereinbarungen betrafen die Migration: Man wollte Leute mit Vermögen hereinlassen, unerwünschte Arme jedoch fernhalten. Also drängten die Regierungen auf ein internationales Passwesen und auf die Formulierung von Niederlassungsrechten und -pflichten für Ausländer. Auch das Benutzen von Seen, Flüssen und Kanälen fanden sie regelungsbedürftig und beriefen entsprechende Kommissionen ein.5 Für diese praktischen Angelegenheiten entwickelten die europäischen Staaten einen Korpus internationalen Rechts, der den friedlichen Austausch erleichterte.

Daneben entstand, eher spontan, eine Bruderschaft der Künste, gebildet aus Malern und Komponisten, die in Europa eine kulturelle Avantgarde formierten. Da die Sprachen der Kunst und der Musik universell zugänglich waren, spielten nationale Schranken keine Rolle. Die Freiheit und die stimulierende Atmosphäre der metropolitanen Zentren zogen Künstler aus dem ganzen Kontinent an. Beispielsweise ging der spanische Maler Pablo PicassoPicasso, Pablo nach ParisParis und der böhmische Komponist Gustav MahlerMahler, Gustav nach WienWien. »Kunst kennt kein Vaterland«, glaubten die kreativen Innovatoren jener Jahre, und so nutzten sie die Gelegenheit, neue Stile, etwa abstrakte Malerei oder Zwölftonmusik, von einer Hauptstadt zur anderen weiterzureichen. Offizielle, aber auch unabhängig organisierte Ausstellungen, Darbietungen in etablierten Konzerthallen oder an unautorisierten Orten hielten sowohl die Fachwelt als auch das große Publikum auf dem Laufenden. Kritiken in Zeitungen schufen ebenfalls eine internationale Debatte, bei der die Herkunft der besprochenen Werke und Urheber keine Relevanz besaß. Ein internationaler Kunstmarkt und internationale Konzertagenturen organisierten diesen Austausch. Viele der Künstler und Musiker, die ihren Durchbruch noch nicht geschafft hatten, führten zudem ein Bohème-Leben, für das die Nationalität gleichgültig war.6

Ein weiterer Bereich wachsender transnationaler Kooperation zwischen den Ländern Europas war die wissenschaftliche Forschung. Zwar wollten Institutionen wie das Deutsche Museum in MünchenMünchen auch nationale Leistungen präsentieren, doch um den Wert wissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Innovationen zu beurteilen, war man auf internationale Begutachtung angewiesen. Dank disziplinärer Spezialisierung und akademischer Professionalisierung entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine internationale Gelehrtengemeinschaft, die eifrig bestrebt war, Informationen auszutauschen. Die Bildung nationaler Forschungsgesellschaften mit eigenen Zeitschriften und Tagungen zog nach sich, dass internationale Körperschaften, Organisationen und Kongresse ins Leben gerufen wurden. Dort konnten Wissenschaftler sich zusammenfinden und ihre Resultate einer größeren Öffentlichkeit präsentieren. Obwohl die finanzielle Förderung solcher Institutionen aus staatlichen oder philanthropischen Mitteln national blieb, zogen die hervorragendsten Einrichtungen Gelehrte vom ganzen Kontinent an. So kam es etwa, dass Albert EinsteinEinstein, Albert aus einem Schweizer Patentamt an die Berliner Universität wechselte.7 Internationale Preise wie jene, die der Schwede Alfred NobelNobel, Alfred 1900 stiftete, leisteten solcher Internationalisierung weiteren Vorschub.

Die Pazifisten engagierten sich besonders nachdrücklich für die Erhaltung des Friedens. 21 einschlägige Kongresse veranstalteten sie vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam zum religiösen Impuls der Quäker für die Gewaltfreiheit die weltlichere Überzeugung hinzu, dass »Krieg unter zivilisierten Menschen ein Verbrechen« sei. In Frankreich wollten einige radikale Republikaner an das universalistische Erbe der Französischen Revolution anknüpfen, indem sie Institutionen einer internationalen Konfliktregelung forderten, während andere sogar der europäischen Integration das Wort redeten. Im deutschsprachigen Bereich profilierte sich auf diesem Gebiet namentlich die mutige Freifrau Bertha von SuttnerSuttner, Berta von, die in ihrem Bestseller Die Waffen nieder! sich der Militarisierung der Gesellschaft entgegenzuwerfen versuchte, indem sie die furchtbaren Folgen des Krieges für die Zivilbevölkerung aus weiblicher Sicht schilderte. In England äußerte der Publizist Norman AngellAngell, Norman sich ähnlich. Seine Studie The Great Illusion kommt gar zu dem Schluss, Krieg sei selbst für den potenziellen Sieger zerstörerisch und sollte daher als irrational betrachtet werden. Solche Appelle erregten zwar viel Aufmerksamkeit, Unterstützung fanden sie aber nur bei einer engagierten Minderheit – und doch trugen sie dazu bei, dass einschlägige internationale Konventionen unterzeichnet wurden, so die Haager Landkriegsordnung.8

Die Zweite Internationale der Arbeiterbewegung stellte sich ebenfalls gegen den Krieg, getreu Karl Marx'Marx, Karl Diktum: »Die Arbeiter haben kein Vaterland«. Anfangs widmeten die Sozialisten einen Gutteil ihrer Energie der Überwindung der Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland, da die Gewerkschaften und die eigenen Parteien in diesen Ländern strukturell wie organisatorisch am besten entwickelt waren. Auf mehreren internationalen Kongressen diskutierten die politischen Führer und die theoretischen Köpfe der Bewegung – darunter Karl KautskyKautsky, Karl, Jean JaurèsJaurès, Jean, Rosa LuxemburgLuxemburg, Rosa und Wladimir I. Uljanow alias LeninLenin, Wladimir I. ihre künftige Strategie: Sollte man Revolution oder Evolution anstreben? Wozu die einzelnen Vertreter neigten, hing von der Heftigkeit der Repression in ihrem Lande ab. Man debattierte intensiv per Brief, in Theoriejournalen wie der Neuen Zeit und bei persönlichen Begegnungen, um eine marxistische Analyse der Entwicklung des Kapitalismus zu erstellen sowie auf dieser Grundlage Möglichkeiten eines gemeinsamen Handelns zu eruieren. Die Millionen, die den Gewerkschaften und den sozialdemokratischen Parteien anhingen, mochten sich jedoch nicht so recht aus ihren nationalen Kontexten herausbewegen.9 Eine ähnliche Stimme, die sich für Veränderungen zum Frieden hin einsetzte, war die internationale Frauenbewegung, die während der letzten Jahrzehnte vor dem Großen Krieg rasch anwuchs.10

 

Quellen der Feindseligkeit

Trotz all dieser positiven Zeichen registrierten kritische Kommentatoren wie die Schriftsteller Heinrich MannMann, Heinrich und Romain RollandRolland, Romain in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts eine spürbare Verschlechterung des internationalen Klimas, welche die Befürchtung nährte, das Gespenst des Krieges könne wiederkommen. Teilweise stieg die Feindseligkeit aufgrund bestimmter aktueller Interessenkonflikte, mochten sie nun strategisch oder kolonial begründet sein. Teilweise wuchsen die Spannungen aber auch durch Fehlinterpretationen der Motive der jeweils anderen und wegen nationaler Stereotype; beides erschwerte es den üblichen Mechanismen der Diplomatie immer mehr, akzeptable Kompromisse zu finden.1 Manche Kulturkritiker wiesen außerdem auf die verderbliche Wirkung der Hasspredigten hin, die eine unverantwortliche Sensationspresse unter die Massen brachte. Solche Propaganda wirkte immer dann, wenn sie, von bisher gängigen Sichtweisen abrückend, die internationale Politik als unter den Nationen ausgetragenen Kampf ums Überleben kennzeichnete. Die negative Dynamik der Modernisierung trieb diese Entwicklung voran. Das Erzeugen nationaler Animositäten und des Gefühls existenzieller Bedrohtheit war daher wesentliche kulturelle Vorbedingung dafür, dass es auf dem europäischen Kontinent wieder zu Kriegen kam.


Europa vor dem Weltkrieg, 1913

Eine erste Quelle wachsender Feindseligkeit war das Wuchern eines ungezügelten Nationalismus sowohl bei den politischen Eliten als auch bei den Volksmassen. Die Idee des 18. Jahrhunderts, einen Staat aus Menschen zu bilden, welche dieselbe Sprache sprechen, durch die gleiche Geschichte verbunden sind und sich eine gemeinsame Verfassung gegeben haben, war ursprünglich ein progressives Konzept, das territorialer Zersplitterung und dynastischer Willkür entgegenwirken sollte. Die Aussicht, Handel ohne Behinderung durch Zölle zu betreiben und zu reisen, ohne dass Schranken einem den Weg verlegten, erschien besonders Geschäftsleuten und Intellektuellen attraktiv, und politische Führer konnten auf größere militärische Stärke und internationalen Einfluss hoffen. Als Bürger aber begannen, ihr eigenes Land für allen anderen überlegen zu halten, bekam die Attitüde etwas Illiberales. Chauvinisme schimpfte man eine solche Einstellung in Frankreich, jingoism in England. Trat noch biopolitischer Rassismus hinzu, verfestigte sich Stolz zu Voreingenommenheit gegenüber Andersartigem, das diskriminiert werden durfte, wo es sich im Inland zeigte, und angegriffen, wo es sich im Ausland manifestierte.2 Dank der zunehmenden Teilnahme der Massen an der Politik wurde schriller Nationalismus ein Werkzeug, mit dem sich das Volk leicht gegen imaginierte Feinde drinnen oder draußen mobilisieren ließ.

Ein weiteres unbewusstes Ideologem, das die europäischen Eliten vor dem Krieg in ihrer Entscheidungsfindung zunehmend beeinflusste, war der Sozialdarwinismus. Grob gesagt übertrug diese populäre Sichtweise Charles DarwinsDarwin, Charles biologische Evolutionstheorie auf die Gesellschaft und auf zwischenstaatliche Verhältnisse. Intellektuelle wie Herbert SpencerSpencer, Herbert und Ernst HaeckelHaeckel, Ernst betonten, dass der Kampf zwischen Einzelwesen zu einer »natürlichen Selektion« führe, die nur den Lebenstüchtigsten erlaube, sich fortzupflanzen und die weitere Existenz der Art sicherzustellen. Die Theorie ging aber über inländische Eugenik hinaus, weshalb sich ihr Denkschema auf die internationalen Beziehungen anwenden ließ. Somit konstruierte sie die Welt als einen Ort gnadenlosen Wettbewerbs, in dem nur die stärksten Nationen zur Blüte gelangten, während schwächere Länder unvermeidlich untergingen. Einer solchen Philosophie erschien der Krieg folgerichtig als ein Härtetest zwischen Nationen, weshalb sie logischerweise für ihn plädierte.3 Leider verbreitete sich diese Sicht zeitgleich mit dem Übergang von der im eingeschränkten kontinentalen Rahmen agierenden »Realpolitik« zu der weiter ausgreifenden, ja perspektivisch den ganzen Globus umspannenden »Weltpolitik«. Diese unselige Kombination gab dem internationalen Wettbewerb einen rabiateren Charakter.

Bereits etablierten Nationen wie den Briten erschien das sich rasch entwickelnde Deutschland als drängelnder und penetranter Konkurrent, der ihren komfortablen ökonomischen Vorsprung bedrohte. Zwar behauptete das Mutterland der Industrialisierung in Produktion und Handel lange Zeit eine Spitzenposition, doch 1913 hatte das imperiale Deutschland im Handelsvolumen gewaltig aufgeholt, sowohl beim Import (659 gegenüber 525 Millionen Pfund) als auch beim Export (525 gegenüber 505 Millionen Pfund). Die Deutschen produzierten bereits mehr industrielle Güter, und ihre Handelsbilanz fiel im Vergleich mit dem Vereinigten Königreich zunehmend zu ihren Gunsten aus. England fürchtete, im ökonomischen Wettbewerb zu verlieren, zumal BerlinBerlin die neuen Technologien gezielt förderte und Inlandsmärkte protegierte; so entstand in LondonLondon das Bewusstsein, dass da ein gefährlicher Handelsrivale heranwuchs. Man ersann Mittel, die England die Führungsposition bewahren sollten, etwa die Vorschrift, die Waren des Konkurrenten mit dem Siegel »Made in Germany« zu versehen. Britische Konsumenten sollten diese Importe von vornherein als minderwertige Billigprodukte einstufen, aber der Schuss ging nach hinten los. Andere Sperrmaßnahmen wie das Verbot der Einfuhr von Rübenzucker aus dem Kontinent schürten bei den Deutschen Groll gegen den »Handelsneid« der Briten.4 Während der Handel zwischen den beiden Ländern weiter wuchs, trugen solche Differenzen, die von der Populärpresse weidlich ausgeschlachtet wurden, zur gegenseitigen politischen Entfremdung bei.

Der verspätete Eintritt des imperialen Deutschlands in den Kolonialismus war eine weitere Provokation, denn er brachte die etablierte Aufteilung der Welt durcheinander. Solange die politische Fragmentierung die Deutschen von imperialen Bestrebungen abhielt, konnten sich die Briten, Franzosen und Russen auf ihre Rivalität untereinander konzentrieren. Doch nachdem es sich, angeführt von Preußen, 1871 vereinigt hatte, begann auch das neu geschaffene Deutsche Reich imperiale Aspirationen zu entwickeln. Während der 1880er Jahre wurde in Berlin der Ruf immer lauter, man müsse sich unbedingt Kolonien verschaffen. Anders als die USAVereinigte Staaten, die, jedenfalls rhetorisch, eine »Politik der offenen Tür« vertraten, glaubten führende Köpfe Deutschlands, ihr Reich könne seine kommerziellen Interessen besser schützen, wenn es auswärtige Gebiete regelrecht besäße. Widerwillig gab Otto von BismarckBismarck, Otto von dem nach. Er moderierte nicht nur die Neuaufteilung Afrikas beim Berliner Kongress 1884/85, sondern erwarb dem Reich auch Kolonien in Afrika: das künftige Deutsch-OstafrikaDeutsch-Ostafrika und Deutsch-SüdwestafrikaDeutsch-Südwestafrika sowie die Länder TogoTogo und KamerunKamerun. Nicht, dass diese Besitzungen besonders profitabel gewesen wären (nur TogoTogo warf Erträge ab), doch ihre bloße Existenz störte englisch-französische Pläne, den ganzen Kontinent zu kontrollieren. Als kolonialistische Nachzügler erschienen die Deutschen an den unwahrscheinlichsten Orten, etwa auf SamoaSamoa, und verlangten recht rüde einen Teil des Territoriums, auch wenn dort schon andere saßen. Es war diese Kombination aus Dynamik und Penetranz, die im Ausland für Zorn sorgte.5

Die wachsenden Spannungen zeitigten auch im literarischen und publizistischen Bereich Konsequenzen. Schriftsteller und Journalisten mühten sich, aus ehemaligen Widersachern Freunde und aus ehemaligen Freunden neue Feinde zu machen. So präsentierten britische Autoren plötzlich Frankreich – bisher LondonsLondon Hauptrivale zur See, in den Kolonien und auf dem Kontinent – in einem günstigeren Licht; ParisParis avancierte zu einem Zentrum der Mode und der Kunst. Nun geißelte man nicht mehr NapoleonsNapoleon Bonaparte hegemoniale Bestrebungen, stattdessen priesen Reiseschriftsteller die Schönheiten der ProvenceProvence und der französischen RivieraRiviera. Dagegen wurden die Deutschen, die bisher als Vettern ersten Grades der Angelsachsen galten und als Mitglieder der weißen protestantischen Rasse Wertschätzung genossen, auf einmal finsterer gezeichnet. In seinem 1903 erschienenen und sehr populären Roman The Riddle of the Sands (dt. Das Rätsel der Sandbank) schrieb etwa Erskine ChildersChilders, Erskine über eine Gruppe junger Männer, die zufällig auf eine geheime deutsche Armada stoßen und deren Plan durchkreuzen, Großbritannien anzugreifen. Die packende Abenteuergeschichte befeuerte die Ängste der Briten so sehr, dass die Admiralität sich gezwungen sah, mehrere defensive Flottenstützpunkte in und an der NordseeNordsee zu bauen.6 Diese Agentenfiktion war also keine harmlose Unterhaltung, sondern psychologische Vorbereitung auf einen neuerlichen Krieg.

Der konkrete Hintergrund der kulturellen Kriegsschwärmerei war ein ungestümes Wettrüsten zur See zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich. Da die Royal Navy während des ganzen bisherigen 19. Jahrhunderts die Meere beherrscht hatte, entschied Kaiser Wilhelm II.Wilhelm II., auch Deutschland brauche eine schlagkräftige Seestreitkraft, um seine Kolonien zu verteidigen und die Briten an den Verhandlungstisch zurückzubringen. Um sich ihre Überlegenheit zu bewahren, konterten die Briten 1906 mit einem technologischen Quantensprung, einem neuen Typ von Schlachtschiff, genannt dreadnought (wörtlich: ›Fürchtenichts‹), dessen leistungsstärkere Kanonen, festere Panzerung und höhere Geschwindigkeit die bisher üblichen Linienschiffe obsolet machten. Etwas überrascht war er schon, der deutsche Marinestabschef Alfred von TirpitzTirpitz, Alfred von, doch hielt er an dem Ziel fest, zwei Drittel der britischen Stärke zu erreichen. Dadurch sollte es für London zu riskant werden, die deutsche Flotte zu attackieren. Sein Gegenspieler bei den Engländern aber, Admiral John FisherFisher, John, beharrte darauf, dass die Royal Navy stärker bleiben müsse als die nächststärkeren zwei Flotten zusammen, und sorgte dafür, dass die Briten ihre Kriegsschiffsbautätigkeit verdoppelten.7 Dieses Wettrennen stellte nicht nur den technischen Erfindungsreichtum und die industriellen Kapazitäten der Engländer auf eine harte Probe, sondern auch ihre finanziellen Möglichkeiten und ihre politische Entschlossenheit. Um zu gewährleisten, dass die Öffentlichkeit mit diesen Notwendigkeiten Schritt hielt, war ein gewaltiger Propagandaeinsatz notwendig.

Gleichzeitig entwickelte sich ein weiterer gefährlicher Wettbewerb zwischen der französisch-russischen Allianz und dem österreichisch-deutschen Zweibund, nämlich der um die größte Armee. Wegen seiner abnehmenden Bevölkerung bestand Frankreich auf der allgemeinen Wehrpflicht und zog 83 Prozent der betroffenen Jahrgänge ein. Die Deutschen dagegen verpflichteten nur 53 Prozent, weil die preußischen Junker das Offizierskorps nicht mit Männern aus der Mittelklasse ›verdünnt‹ sehen wollten. Angesichts ihrer zahlreichen Untertanen riefen die Russen nur 20 Prozent zu den Fahnen, aber sie modernisierten ihre technischen Kapazitäten und vermehrten zumindest die Zahl der Rekruten. 1912 forderte General Erich LudendorffLudendorff, Erich nachdrücklich die drastische Vergrößerung des deutschen Heeres, doch angesichts der gewaltigen Ausgaben für die Marine schien nur eine Erweiterung auf rund eine Dreiviertelmillion Soldaten möglich. Da die Aufstockung der bewaffneten Kräfte recht teuer war, musste die Bevölkerung überzeugt werden, indem man ihr einredete, ein feindlicher Angriff stehe unmittelbar bevor. Das Wettrüsten zu Lande ging nach demselben Muster vonstatten wie das zur See: Wenn eine Seite ihre Kampfkraft stärkte, bemühte sich die andere, nachzuziehen.8 Die Folge der ganzen Aufregung war, dass beide Parteien sich immer unsicherer fühlten.

 

Wachsende Furcht und Feindstereotype flossen in spekulative Literatur über einen baldigen Krieg ein. Zu besonderer Bekanntheit gelangte eine prophezeiungsartige Schrift General Friedrich von BernhardisBernhardi, Friedrich von, dem man Kompetenz zutraute; schließlich war er deutscher Militärattaché und Historiker des Generalstabs gewesen. 1911 erregte er eine stürmische Kontroverse mit dem Buch Deutschland und der nächste Krieg; darin bezeichnet er sozialdarwinistisch den Krieg als eine »biologische Notwendigkeit«, um die Tauglichkeit einer Nation zu prüfen. BernhardiBernhardi, Friedrich von proklamiert nicht nur eine sittliche Pflicht, Krieg zu führen, er beharrt sogar auf einem »Recht zum Kriege« und zur Eroberung. Besonders ein Land wie Deutschland dürfe und müsse dieses wahrnehmen, da es bei der Aufteilung der Welt zu kurz gekommen sei. Denn als es die Arena betreten habe, seien die meisten Territorien schon vergeben gewesen. Mit ominösem Unterton nimmt er die Träume späterer Rassisten vorweg, wenn er Möglichkeiten zur Expansion hauptsächlich in Osteuropa sieht. Verbreitet vom Alldeutschen Verband, wurde das Buch rasch ins Englische und Französische übersetzt. Dort im Ausland diente es wiederum als Beweis für die deutsche Kriegslüsternheit; dabei stand es gar nicht im Einklang mit der offiziellen Politik.9 Dieses Szenario und ähnliche Traktate, auch von Autoren anderer Nationen, machten den Ausbruch des Krieges, den sie so fleißig herbeischrieben, nur wahrscheinlicher.

Reale und vermeintliche Gefahren aus rivalisierenden Ländern wurden namentlich von der Boulevardpresse breitgetreten, billigen Tagesperiodika, die mit Skandalen und Gerüchten hohe Verkaufszahlen erzielten. Die Vorkriegsjahre waren das Goldene Zeitalter der Presse, denn Dutzende von Morgen- und Abendblättern erheischten in den Hauptstädten plakativ öffentliche Aufmerksamkeit. Selbstverständlich hatte jedes große Land eine seriöse Zeitung, England etwa die London Times, Frankreich Le Temps und Deutschland das Berliner Tageblatt, die ihr Bestes taten, akkurat zu berichten. Doch waren auch sie nicht davor gefeit, parteiisch zu werden, wenn es um das ging, was sie für das ›nationale Interesse‹ hielten. Gefährlicher waren Massenpostillen wie die Daily Mail oder die Berliner Zeitung, die sich an ein unterdurchschnittlich gebildetes Publikum wandten und ihm sensationelle Stories boten, ohne sich immer die Mühe zu machen, diese auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.10 In jedem Land fachte die Boulevardpresse die Leidenschaften des Volkes an, indem sie nationale Stereotype verwendete und Gefahren übertrieb, die von auswärts drohen sollten. Sogar die Kinder wurden militaristisch konditioniert: Man bedachte sie mit Kriegsspielzeug. Indem sie internationale Konflikte anheizten und stereotype Feindbilder kreierten, unterminierten die negativen Dimensionen der Modernisierung den Frieden und halfen, das große Publikum auf den Krieg vorzubereiten.