Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Ursachen der Expansion

Europas Expansion nach Übersee hatte im 15. Jahrhundert mit wagemutigen Forschungsreisenden wie Vasco da GamaGama, Vasco da begonnen. Portugiesische und spanische Seefahrer machten den Anfang, später kamen niederländische, britische und französische hinzu. Diese erste Welle des Kolonialismus beschränkte sich im Großen und Ganzen auf Küstengebiete und war kommerziell motiviert; private Firmen mit besonderen Konzessionen wie die Niederländische Ostindien-Kompanie trieben sie voran. Hauptsächlich ging es um Edelmetalle wie etwa Silber, die in Europa knapp wurden, oder um Gewürze, Tee und Kaffee, die in der Heimat nicht wuchsen. Ein großer Teil handelte mit unfreiwilliger Arbeit; Menschen wurden zu Sklaven gemacht, weil man billige Kräfte für die Bodenbewirtschaftung in Plantagen auf den karibischen Inseln und dem amerikanischen Kontinent brauchte. In den gastlicheren Regionen Nordamerikas und AustraliensAustralien, deren Klima gemäßigt war und in denen es keine Seuchen wie Malaria gab, entwickelten sich auch Siedlerkolonien, die religiöse Dissidenten, landhungrige Bauern und kriminelle Outlaws anzogen.1 Dieser frühe Kolonialismus errichtete riesige transozeanische Imperien; aber als etwa im ersten Drittel der 19. Jahrhunderts der Freihandel aufkam und mit Sklaven keine Geschäfte mehr gemacht werden durften, war seine Energie weitgehend verbraucht.

Seit den 1870ern entwickelte sich ein neuer Imperialismus, getragen von der Dynamik der europäischen Modernisierung. Er baute zwar auf früheren Trends auf, doch intensivierte er das territoriale Vordringen und den Herrschaftsanspruch. Der Terminus »Imperialismus« war ursprünglich geprägt worden, um die abenteuerliche Politik Napoleons III. Napoleon III.zu kritisieren, dessen Großmachtgebaren sich im Bau des SuezkanalsSuezkanal äußerte. Kaum war aber der verkürzte Seeweg nach IndienIndien eine »Lebensader des britischen Weltreichs« geworden, bekam das Wort einen positiveren Klang. Während des nun einsetzenden »Wettlaufs um Afrika« teilten die europäischen Mächte den Kontinent untereinander auf; den Verlauf der Grenzen legten sie in der BerlinerBerlin Kongo-Konferenz 1884/85 fest. Der neue Imperialismus, der sich dabei formierte, sollte sich vom Kolonialismus älteren Musters unterscheiden. Zwar trieben auch ihn Wissenschaftler, Missionare und Handelsleute als Pioniere voran, doch wurde er sehr rasch von Regierungen für ihre Zwecke übernommen. Entsprechend erhoben sie Ansprüche auf ganze Territorien, statt sich wie zuvor mit den Küstenlinien zu begnügen, weshalb sie weit ins Landesinnere vorstießen und militärische Sicherheits- und bürokratische Herrschaftsapparate errichteten. Diese eher invasive Form der Machtausübung erlaubte es Plantagenbesitzern, Bergbauunternehmen, Finanzinvestoren und Schifffahrtsgesellschaften, ihren Profit künftig im Rahmen der europäischen Hegemonie zu erwerben.2

In den 1920ern versucht der amerikanische Politologe Parker T. MoonMoon, Parker T. das Wesen dieses »neuen Imperialismus« näher zu bestimmen, indem er dessen politische Aspekte hervorhebt. Er definiert ihn als »Ausdehnung der politischen oder ökonomischen Kontrollmacht eines Staates auf einen anderen, in Kultur oder Rasse vom ersteren verschiedenen, mit Hilfe eines Ideenkorpus, der diesen Schritt rechtfertigen soll«. Jene klassische Definition hält also nicht die ökonomische Ausbeutung für den Hauptfaktor, sondern betont, dass zum neuen Imperialismus eine direkte oder indirekte Form von Herrschaft, kulturelle und rassische Unterschiede sowie eine die Expansion propagandistisch stützende Rhetorik gehörten. Eine jüngere Definition malt ein komplexeres Bild: »Charakteristische Merkmale eines Imperiums waren enorme Größe, ethnische Diversität, das Bestehen aus vielen Einzelterritorien als Ergebnis in der Vergangenheit erfolgter Abtretungen oder Eroberungen, besondere Formen übernationaler Macht, veränderliche Grenzen, ein Fluktuieren der Landeshoheit in den Randgebieten und schließlich ein Geflecht aus interaktiven Beziehungen zwischen den imperialen Zentren und den Peripherien«. Diese Beschreibung hat den Vorteil, dass sie nicht nur die maritimen Imperien wie das Großbritanniens umfasst, sondern auch die landgestützten autoritären Imperien Russlands, des Osmanischen Reichs und Österreich-Ungarns.3

Dass Europa seine Expansion nach Übersee und seine Praxis der territorialen Eroberungen wieder aufgriff, wurde durch mehrere komplementäre Aspekte der Moderne beschleunigt. Ein oft übersehenes Motiv war wissenschaftliche Neugier. Man wollte die Geografie unbekannter Regionen erkunden – denken wir an David LivingstonesLivingstone, David Versuche, die Quellen des Nils zu entdecken – und die dort vorhandenen Ressourcen kartografieren, um sie dann ausbeuten zu können. Ingenieure reizte die Herausforderung, in schwierigem Gelände Häfen, Brücken, Bahngleise, Telegrafenleitungen und Kanäle zu errichten, kurz: die widerspenstige Natur zu zähmen. Den Europäern sollte so ermöglicht werden, ihre neuerworbenen Gebiete auch zu durchdringen und von ihnen zu profitieren.4 Ferner entwickelte sich eine neue wissenschaftliche Disziplin, die Ethnologie. Anhand repräsentativer Objekte und Subjekte studierte man fremde Kulturen, die man für »primitiver« hielt als die eigene; man beschrieb ihre seltsamen Gebräuche und sammelte ihre religiösen und weltlichen Artefakte. Diese Anthropologen brachten Produkte und manchmal sogar Menschen aus exotischen Ländern mit nach Hause und zeigten sie in eigens dafür etablierten neuen Museen. Die europäischen Besucher konnten sie und ihre seltsamen Gebräuche dort bestaunen – und sich ihnen überlegen fühlen.5

Ökonomische Interessen spielten zweifellos auch eine wichtige Rolle. Sie trieben Abenteurer in fremde Länder, wo sie ein Vermögen zu machen hofften. Als die Massenproduktion aufkam, suchten Branchen wie die Textilindustrie neue Märkte außerhalb Europas, denn die kargen Löhne, die man den Arbeitern daheim zahlte, hielten den Konsum niedrig. Neue technologische Entwicklungen wie die Elektrizität und das Automobil erforderten außerdem Rohstoffe, die man auf dem Alten Kontinent nicht bekam, etwa Kupfer für Kabel oder Kautschuk für Fahrzeugreifen. Außerdem vermehrte die Verbreitung des Wohlstands das verfügbare Kapital der Spekulanten, die fest entschlossen waren, dort zu investieren, wo die Rendite das Doppelte oder Dreifache dessen betragen konnte, das sich zu Hause erzielen ließ, auch wenn dies ein erheblich größeres Wagnis darstellte. Solche Anreize motivierten Geschäftsleute, Plantagen oder Bergwerke einzurichten, in denen Weiße die Aufsicht führten und Einheimische rücksichtslos um des Profits willen ausgebeutet wurden. Für die Verbraucher in den europäischen Metropolen lagen nun Importgüter wie Kaffee, Tee, Bananen, Orangen und Kakao als »Kolonialwaren« zum Kauf bereit.6 Da der Aufbau der notwendigen Infrastruktur teuer war, operierten die meisten Kolonien mit öffentlichen Geldern, um privaten Gewinn zu fördern.

Etwas weniger klar ist, wie die soziale Dynamik des »Aufstiegs der Massen« mit dem Imperialismus zusammenhing. Einerseits fürchtete man sich vor der Überbevölkerung, bedingt durch den rapiden Bevölkerungszuwachs während der letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts, den Hans GrimmsGrimm, Hans Roman Volk ohne Raum (1926) recht dramatisch darstellt. Nicht wenige glaubten, ein besseres Leben zu erlangen, indem sie in die Kolonien emigrierten. Häufig wurden diese Hoffnungen jedoch enttäuscht, da ein solcher Wechsel mit beträchtlichen Härten verbunden war. Und so erfüllten sich die Erwartungen der Regierungen Europas, mit ihren einheimischen Slums per Imperialismus aufzuräumen, nur selten. Andererseits wirkte die Propaganda bestimmter pressure groups wie der Kolonialbünde und Flottenvereine, die Wirtschaftskreise mit bestimmten kommerziellen Interessen finanzierten, etwa Schifffahrtsunternehmen oder Kolonialimporteure. In Plakaten, Pamphleten und Vorträgen malten sie ein leuchtend helles Bild von den Chancen, die das Imperium dem Einzelnen eröffne – er müsse nur zugreifen.7 Und dann nutzten manche europäische Eliten die imperiale Expansion auch noch, um den Druck umzulenken, der von unten auf soziale Reformen sowie politische Partizipation drängte. So konnten sie einem schlichten Proletarier das Gefühl eingeben, mehr wert zu sein als ein fremdländischer Fürst.

Der kulturelle Impetus des neuen Imperialismus war das paradoxe Projekt mit Namen mission civilatrice, »zivilisierende Mission«. Darunter wurden das Recht und die Pflicht verstanden, minderbedarfte Völker auf den europäischen Standard zu heben. Ursprünglich beinhaltete dieses Motiv noch das missionarische Ziel, den Heiden die Segnungen des Christentums zu bringen, damit auch sie eine Chance auf Erlösung erhielten. Die säkulare Version dieses Konzepts, die sich während der Aufklärung herangebildet hatte, schloss zusätzlich die Verbreitung einer vernunftbestimmten Lebensweise ein, für die Europäer der Gipfelpunkt der menschlichen Entwicklung. In seinem Gedicht »The White Man’s Burden« (»Die Bürde des weißen Mannes«) formuliert der britische Autor Rudyard KiplingKipling, Rudyard die klassische ethische Fundierung dieses Bestrebens: Er ruft die jungen Leute unter den Kolonisatoren auf, »den Bedürfnissen eurer Gefangenen zu dienen«. Doch indem er die kolonisierten Völker »halb Teufel und halb Kind« nennt, verrät er tiefsitzende Arroganz und Rassismus. Das widerspricht dem altruistischen Geist des Poems, worin er etwa fordert, man möge die sogenannten Wilden »aus ihrer Knechtschaft« befreien, indem man ihnen Wissen, Gesundheit und Zivilisation bringe. Das Zivilisierungsethos gab zwar vor, eine humanitäre Vision der Moderne zu propagieren. Doch in Wahrheit diente es nur dazu, ein problemloses Funktionieren der Kolonisierten innerhalb des imperialen Systems zu gewährleisten; volle Gleichberechtigung blieb ihnen versagt.8

 

Noch ein letztes Bündel von Ursachen für den neuen Imperialismus sei genannt. Die Rivalität zwischen den Großmächten trieb bestimmte Länder dazu, mit den anderen um die Wette Kolonien zu erobern und auszubeuten, da sie fürchteten, sie würden sonst abgehängt. Aus der sozialdarwinistischen Sichtweise jener Jahre war die internationale Politik ein Überlebenskampf, der die Regierungen zwinge, jeden vermutbaren Macht- oder Landgewinn eines Nachbarn durch eigene Zuwächse auszugleichen. War ein Imperium einmal installiert, bestand auch die strategische Notwendigkeit der geopolitischen Verteidigung des eigenen Besitzes. Das erforderte Bekohlungsanlagen für die Dampfschiffe der Marine oder die Okkupation weiterer Ländereien, um eine Grenze militärisch abzusichern. 1890 formulierte der amerikanische Admiral Alfred T. MahanMahan, Alfred T. ein überzeugendes Credo zur eminenten Wichtigkeit von »Seemacht«: Imperien wie das britische, argumentierte er, verdankten ihre weltweite Macht ihrer Überlegenheit auf den Ozeanen. Er vertrat somit einen »Navalismus«, der sich bestens in den Imperialismus einpassen ließ. Solche Haltungen verschmolzen zu einer sozialdarwinistischen Vorstellung der nationalen Vitalität, die mit biologischen Metaphern dartat, dass die Zukunft den jungen und wachsenden Nationen gehöre, wogegen die alten und verfallenden das Nachsehen hätten.9

Der Aufstieg des neuen Imperialismus in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts resultierte also aus der Dynamik der europäischen Moderne, die zu weitestmöglicher Expansion drängte. Viele der dabei wirkenden Motive – etwa wissenschaftliche Neugierde, kapitalistische Habsucht und Massenpolitik – waren treibende Kräfte der Modernisierung. Auch waren die meisten Werkzeuge der Herrschaftsergreifung – etwa Dampfer, Eisenbahnen, Telegrafen und Maschinengewehre – neue technische Erfindungen, welche die europäischen Länder schlagkräftiger machten. Dank ihrer See- und Landarmeen konnten sie neue Territorien erobern und dort bürokratische Verwaltungsapparate errichten, die ihnen die Machtausübung sicherten. Die humanitäre Vision einer »Zivilisierung« der Welt war ebenso eine europäische Erfindung, um den ganzen Erdball nach dem eigenen »progressiven« Bild zu formen. Alles in allem machten diese Kräfte den neuen Imperialismus so unaufhaltsam, dass er selbst störrische Traditionalisten wie Fürst Otto von BismarckBismarck, Otto von überrollte. Letzterer hatte zwar geschworen: »Solange ich Reichskanzler bin, betreiben wir keine Kolonialpolitik«.10 Doch das Ergebnis war das Gerangel, das Afrika und den Rest der noch-nicht-modernisierten Welt zerteilen sollte.

Muster der Machtgewinnung

Im Nachhinein erscheint immer noch erstaunlich, dass ein paar wenige Europäer es schafften, ihnen zahlenmäßig weit überlegene Völker und riesige Territorien zu unterwerfen, indem sie schlicht die Vorteile nutzten, welche die Moderne ihnen beschert hatte. Gewöhnlich erweiterten sie lediglich das Eindringverfahren, dessen sich bisher die Forscher, Händler und Missionare bedient hatten, sodass sie auch politische Herrschaft erringen konnten, und zwar, indem sie sich in lokale Konflikte einmischten. In IndienIndien gelang es etwa hunderttausend Engländern, einen ganzen Subkontinent, bevölkert von Abermillionen Menschen, unter ihre Kontrolle zu bringen. Zu diesem Zweck kombinierten die britischen Raj politische Kontaktpflege zu lokalen Prinzen oder Eliten mit dem gelegentlichen Einsatz militärischer Gewalt gegen ihre Feinde. In Deutsch-OstafrikaDeutsch-Ostafrika unterwarfen sich wenige tausend Soldaten und Administratoren erfolgreich ein beträchtliches, von mehreren Millionen Stammesleuten bewohntes Areal, indem sie Allianzen mit Angehörigen zuvor besiegter Stämme eingingen. Gab es hier und da Rückschläge, sandte die Metropole zusätzliche Ressourcen oder Soldaten, um den Druck zu verstärken. Einmal an der Macht, setzten die Europäer darauf, als übergeordnete Organisation Frieden zwischen den Stämmen zu stiften; mit ökonomischen Anreizen und symbolischen Belohnungen wollte man die Kolonisierten daran gewöhnen, dass Fremde sie beherrschten.1

Eine andere Methode war der rücksichtslose Einsatz von Militär, der sich zu jener exzessiven Gewalt der Kolonialkriege steigerte, in der Technik und Organisation strategische Unzulänglichkeiten kompensieren mussten. So schlugen am 2. September 1898 in der Schlacht bei OmdurmanOmdurman 8000 reguläre britische Soldaten, unterstützt von 17 000 lokalen Hilfskräften, fast 50 000 Derwische in die Flucht, um Englands Kontrolle über den Oberlauf des Nils wiederherzustellen. Während dem General der Eroberer, Sir Herbert KitchenerKitchener, Herbert, leistungsstarke Waffen zur Verfügung standen – Artillerie, Maschinengewehre und Kanonenboote –, waren Kalif AbdullahsKalif Abdullah numerisch überlegene Truppen nur mit Speeren, Säbeln und Vorderladerflinten ausgerüstet. Infolgedessen wurden rund 10 000 seiner Leute getötet, 13 000 verwundet und anschließend ermordet sowie 5000 gefangen genommen. Dagegen erlitten die Briten bescheidene Verluste: 47 fielen, 382 wurden verwundet. Dank der europäischen Überlegenheit war jener Kampf »keine Schlacht, sondern eine Exekution«. So berichtete der junge ChurchillChurchill, Winston über jenen vernichtenden Sieg, der zur sich selbst verstärkenden Legende des Imperiums wurde. Brutalität gegen die Urbevölkerung war daher wesentlich, um mit numerisch begrenzten Kräften eine hohe Überzahl von Einheimischen in Schach zu halten.2

Eine weitere Strategie bestand darin, dem Handel neue Gewinnmöglichkeiten über die lokale Ebene hinaus zu eröffnen. Man errichtete eine neue Infrastruktur, um die kolonialen Ressourcen besser ausbeuten zu können. Damit Dampfschiffe anlegen konnten, wurden Häfen gebaggert wie San JuanSan Juan in Puerto RicoPuerto Rico; Kais, Kräne und Zollhäuser wurden gebaut, um den Transfer von Massengütern zu erleichtern. Gleichzeitig machte man das Landesinnere zugänglich: Aus Pfaden wurden Straßen, auf denen Lastkraftwagen fahren konnten; man konstruierte Eisenbahnen, mit denen sich mehr Menschen und Produkte über weitere Entfernungen transportieren ließen. Entlang dieser Route wurden Handelsstationen eingerichtet, um die weißen Siedler zu versorgen und in Massenproduktion hergestellte Güter an die Einheimischen zu verkaufen. Im KongoKongo ersetzte die Überschusswirtschaft auf Plantagen die bisherige Subsistenzwirtschaft. Kaffee und Bananen sollten in so großen Mengen zur Verfügung stehen, dass sich die Ausfuhr per Schiff auch lohnte. In SüdafrikaSüdafrika grub man Bergwerke verschiedenster Art, um Diamanten oder Metalle wie Kupfer und Silber aus dem Boden zu holen.3 Solche Innovationen intensivierten die Ausbeutung der Ressourcen und verbanden die koloniale Produktion mit den Weltmärkten; und sie brachten auch den Kolonisierten – zumindest einigen – einen Hauch des europäischen Lebensstils.

Dieses imperiale System beruhte darauf, dass die sozialen Schichten einer Kolonialgesellschaft streng nach Rassen sortiert waren; es stand eindeutig fest, wer die Herren waren und wer die Beherrschten. Im Prinzip teilte sich die Kolonialgesellschaft wie folgt: Oben stand die herrschende weiße Klasse, auf Zwischenhöhe eine Gruppe subalterner Helfer, und schließlich, ganz unten, die ausgebeuteten lokalen Arbeitskräfte. Die Wirklichkeit war natürlich oft komplexer, denn es existierte ja eine parallele einheimische Hierarchie, die sich den neuen Machtverhältnissen anpassen musste. Entweder wurde sie fundamental umgeformt oder schrittweise aufgelöst. Gelegentlich mischten sich jedoch die beiden Sphären, was das Aufrechterhalten scharfer Abgrenzung erschwerte. Einige Europäer wurden zwangsläufig »Einheimische«; umgekehrt wollten die Söhne der lokalen Elite, nachdem sie europäische Universitäten besucht hatten, nicht länger untergeordnete Rollen spielen. Aber mochten auch einige Weiße sich von der Landschaft faszinieren lassen oder Zuneigung zur lokalen Bevölkerung entwickeln – manche Memoirenliteratur hat diesen Vorgang romantisiert, etwa Karen BlixensBlixen, Karen autobiografischer Roman Out of Africa (dt. Jenseits von Afrika) –, blieb das grundlegende Verhältnis zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten nichtsdestoweniger das einer krassen Ungleichheit.4 Zudem sorgte ein ganzes Bündel an Umständen – verschiedene Sitten und Gebräuche, Apartheid-Gesetze, Einsatz physischer Gewalt – dafür, dass die beiden Welten generell doch getrennt blieben.

In der festen Gewissheit, den Fortschritt zu bringen, stülpten die Europäer ihre eigenen Institutionen den unterworfenen Völkern über. Dies manifestierte sich anschaulich in kolonialen Gebäuden, die eine kuriose Mixtur aus mutterländischen und lokalen Stilen zeigten. Den Mittelpunkt einer kolonialen Verwaltungshauptstadt bildete gewöhnlich ein Gouverneurspalast wie etwa der in WindhoekWindhoek: eine strahlend weiße Konstruktion mit Verandas und Gartenanlagen, die sich für Administration und Repräsentation gleichermaßen eignete. Ebenso brauchten die neuen Herren Kasernen, denn man musste ja Militär und Polizei unterbringen, derer man zur Aufrechterhaltung der Ordnung bedurfte. Da die Kolonisatoren oft krank wurden, mussten sie Hospitäler bauen lassen, ausgestattet mit weißen Ärzten, denen schwarze Schwestern zur Hand gingen. Ferner gab es Kirchen, die sowohl die Kolonisatoren als auch die Frischkonvertierten seelsorgerisch zu betreuen hatten. Auch Schulen nach europäischem Muster wurden geschaffen, Lehranstalten aller Stufen, vom Primar- bis zum Sekundarbereich. Schließlich entstanden in gesundheitlich besonders unbedenklichen Gegenden Villen mit viel Grün drumherum; in ihnen wohnten die Weißen samt ihrer Dienerschar. Abseits des Trubels jener Städte, in denen die Einheimischen hausten, bildeten diese repräsentativen Bauten, Denkmäler des europäischen Lebensstils, eine Parallelwelt, in der sich Kolonisatoren und Kolonisierte kaum je begegneten.5

Wie weit den Europäern der Zugriff gelang, hing von zweierlei ab: erstens vom Druck der imperialen Modernisierung, zweitens vom Entwicklungsstadium der lokalen Kultur. Gab es nur einige indigene Stämme, gelang den Kolonisatoren problemlos die komplette Inbesitznahme, und Versuche einer Rebellion wurden rasch zerschlagen. Eine solche »vollständige Abhängigkeit« charakterisierte Kolonien reinsten Wassers wie den belgischen KongoKongo und das portugiesische AngolaAngola. Wo höher entwickelte lokale Kulturen existierten, komplexere Religionen und stärker ausgebildete Formen politischer Organisation, war der europäische Einfluss begrenzter, sodass lokale Strukturen überlebten. Solche »halbautonomen« Regime oder Protektorate gab es in ÄgyptenÄgypten und MarokkoMarokko, obwohl sie formell zum britischen bzw. französischen Imperium gehörten. Wenn die indigene Bevölkerung eine lange Tradition der Unabhängigkeit und eine Kultur hohen Niveaus besaß, so hielten diese Faktoren die Kolonisateure davon ab, den ganzen Staat zu annektieren. Die Imperialisten konnten dann nur Landeköpfe an der Küste einrichten oder politischen Druck ausüben. Typische Beispiele eines solchen extrem lockeren imperialen Regiments waren ChinaChina und das Osmanische Reich.

Die europäische Herrschaft fußte also auf einer komplexen Mischung aus imperialistischer Macht und lokaler Mitwirkung. Natürlich war militärische Stärke wichtig, namentlich zu Beginn, als man Eroberungen tätigte, und auch später, als man Revolten niederschlug – wichtig ja, aber nicht hinreichend, denn die Kolonien waren zu groß und die Besatzer zu wenige. Ihr Erfolg beruhte wohl hauptsächlich darauf, dass die europäischen Generäle, Administratoren und Pflanzer sich in bestehende Strukturen einfügten, vorherige Herrscher ersetzten oder für die neue Ordnung vereinnahmten, wobei sie die unteren Ebenen der Gesellschaft weitgehend unangetastet ließen. Dazu nutzten die Kolonisatoren auch Anreize: So vergaben sie Orden und Titel und teilten ein paar ihrer finanziellen Gewinne mit Einheimischen, um sie kooperationsbereiter zu machen. Wollte man militärische Sicherheit, administrative Kontrolle und ertragreiche ökonomische Nutzung der Kolonie, brauchte man lokale Arbeitskräfte auf den niederen Rängen, und die mussten in europäischen Verfahrensweisen geschult werden, damit sie effizient funktionierten. Die entstehende Kolonialgesellschaft war daher ein hybrides Reich, in dem Ausbeutung und rassische Ungleichheit herrschten, das aber gleichzeitig modernisierende europäische Einflüsse mit verbleibenden indigenen Traditionen verschmolz.