Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Der Schock des Krieges

Angesichts des Ersten Weltkriegs wendete man sich umso intensiver gegen die Tradition, denn diese Erfahrung zerstörte zu viel, als dass sie noch mit den damals akzeptierten Formen hätte wiedergegeben werden können. Wenn sie da in schmutzigen Gräben kauerten, fühlten sich die Soldaten zu Automaten degradiert, die unverständliche Befehle auszuführen hatten; ihr Horizont verengte sich auf den ununterbrochenen Kampf ums Überleben, in den nur Zigaretten oder Schnaps dann und wann Erleichterung brachten. Sie nahmen teil am Massenmord und wurden Zeugen eines schändlichen Massentodes, sodass sie ihre jugendliche Unschuld und Unbefangenheit verloren – das Leben konnte nie wieder einfach schön und friedvoll sein. Der unpersönliche Charakter des Tötens und Sterbens im mechanisierten Gefecht zerstörte nach und nach die Illusionen, die das Leiden vielleicht noch zur heldenhaften Opfergabe fürs Vaterland erhöht hätten. Schließlich erweckten die jämmerlich geringen Geländegewinne, die viele der Attacken einbrachten, und die Nichtabsehbarkeit eines Endes der Kämpfe die beklemmende Frage, welcher Sinn der ganze Konflikt denn habe. Künstler wie Otto Dix rangen um Bilder, die das Grauen des »Fronterlebnisses« angemessen wiedergaben. Diese Grässlichkeiten offenbarten die destruktive Seite der Moderne, denn in ihnen manifestierte sie sich als eine Kraft, die sich individueller Kontrolle entzog.1 Sogar bei den Intellektuellen an der Heimatfront hinterließ der Krieg tiefe Wunden, die erst in Jahrzehnten heilen würden.

Der Weltkrieg trug dazu bei, Wissenschaft und Technik zu diskreditieren, schließlich erwies sich ihre Wirkung eher als tödlich denn als wohltätig. Die Lebensvernichtung auf den Schlachtfeldern des Zermürbungskriegs verlief nach dem gleichen Prinzip wie die Fließbandfertigung in der Industrie: Nicht individuelle Tapferkeit entschied über Sieg oder Niederlage, sondern die reibungslose kollektive Aktion und die Menge des verfügbaren Materials. Seit 1915 wurde Giftgas eingesetzt, das einen langsamen Tod durch Verbrennungen in der Lunge auslöste; von denen, die es einatmeten, überlebten die wenigsten, und diese waren versehrt für den Rest ihrer Tage. Auch in den Ozeanen konnte man nun Minen platzieren, die ebenso wie U-Boote, für deren Einsatz vielerorts keine einschränkenden Regeln mehr galten, Schiffe ohne Vorwarnung versenkten; ihre Mannschaften waren hilf- und wehrlos gegen diese Gefahr aus der Tiefe. Nicht besser erging es den Soldaten, wenn ein Angriff aus der Luft kam: Zum ersten Mal in der Geschichte warfen Flugzeuge Bomben ab. Ebenfalls innovativ waren die gepanzerten und auf Selbstfahrlafetten montierten Geschütze, Panzer genannt, ein wahrer Schrecken für die Infanteristen in den Gräben. Zwar gab es in den Feldhospitälern inzwischen bessere medizinische Versorgung, doch auch die ordnete sich strategischen Zwecken unter: Man flickte dort verwundete Körper nur zusammen, damit diese bald wieder ihren militärischen Pflichten genügen konnten. Auch ließ man den »Kriegsneurotikern« psychologische Therapien angedeihen, um die nunmehr faktisch Geisteskranken ins Inferno der Front zurückzuschicken. Es verwundert nicht, dass nach 1918 Maschinen in der kulturellen Vorstellungswelt zunehmend als mechanisierte Bedrohung erschienen.2

Seit dem Ersten Weltkrieg wurden Schlachten in Stil und Sprache anders geschildert als zuvor: Statt Erzählungen von heldenhaften Abenteuern gab es nun Bestandsaufnahmen von sinnlosem Leiden. Der feierlich-erhabene Ton der offiziellen Kriegsberichterstattung vermochte die quälende Erfahrung des Grabenkampfes nicht angemessen zu erfassen. Viele der Briefe, die Soldaten von der Front nach Hause sandten, vermieden es gezielt, irgendein Detail der grauenerregenden Vorgänge während der Gefechte zu erwähnen. Dadurch entfremdeten sich die Schlachtfelder und das tatsächliche Geschehen dort von der Heimatfront, während man die entstehende Kluft mit den hohlen Phrasen der Kriegspropaganda überbrückte. Während patriotische Autoren wie Walter FlexFlex, Walter oder Rupert BrookeBrooke, Rupert anfangs den Waffengang noch zu romantisieren versuchten, sahen sich andere Dichter, etwa die britischen war poets Robert GravesGraves, Robert und Wilfred OwenOwen, Wilfred, angesichts des Unbeschreiblichen, das sie in den Gräben erlebt hatten, dazu nicht länger imstande. Verse, die unter dem unmittelbaren Eindruck der Kämpfe entstanden, feierten nun immer seltener patriotische Tugenden und schockierten dafür immer häufiger mit der Ausmalung der Sinnlosigkeit des Leidens.3 Die literarischen Anstrengungen, solche Empfindungen wiederzugeben, beförderten die modernistischen Trends zur Auflösung der Einheit von Form und Sinn.

Da, wie sich zeigte, die Fotografie die Gräuel der Front besser einfing, verstärkte der Krieg die Abkehr der Künstler von den Stilen der Gegenständlichkeit. Man mochte den Krieg nicht mehr in den traditionellen großformatigen, durchkomponierten Schlachtszenen darstellen; wer die Grabengefechte der jüngsten Zeit visualisieren wollte, präsentierte verwüstete Landschaften mit wirr verstreuten Leichen. Eindringlicher noch waren George Grosz’Grosz, George porträtartige Bilder, die den entstellenden Wirkungen des Krieges auf die Menschengestalt einen dramatischen Ausdruck gaben. Die Erfahrung des Krieges verlieh der Lossagung vom Realismus, die mit Henri MatisseMatisse, Henri und den Fauvisten begonnen hatte, zusätzlichen Schub; schon sie komponierten Flächen aus intensiven Farbtönen, die keine fotografische Ähnlichkeit mehr bezweckten. Die Kampferlebnisse beschleunigten dann den Trend zur Abstraktion, dessen Pioniere der französische Maler Georges BraqueBraque, Georges und sein exilrussischer Kollege Wassily KandinskyKandinsky, Wassily waren. Letzterer erklärte Formen und Farben entschieden zu autonomen kompositorischen Elementen, denen geometrische Linien Struktur und Begrenzung gäben; die klassische Perspektivlehre wurde verworfen. Schließlich bestätigte das, was sie von den Grabengefechten mitbekamen, auch die expressionistischen Impulse vieler Künstler; sie fühlten sich, wie der deutsche Maler Emil NoldeNolde, Emil, nun ermuntert, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen in kräftigen Farben und dynamischem Pinselduktus.4 Insgesamt bestärkte der Erste Weltkrieg also die modernistische Neigung zu Experimenten mit nicht-figurativen Stilen.

Das furchterregende Dröhnen der Front und das Getöse der durchmechanisierten Innenstädte ermutigte in Musik und Tanz einzelne Kunstschaffende, den Übergang von der Dissonanz zur Kakophonie zu wagen; bestenfalls das Unverständnis der Konzertbesucher konnte ihren Eifer bremsen. Schon 1913 schockierten der russische Komponist Igor StrawinskyStrawinsky, Igor und sein Landsmann, der Ballettmeister Sergei DjagilewDjagilew, Sergei, das Pariser Publikum mit einer ungestümen Produktion namens Le sacre du printemps (»Die Frühlingsweihe«), deren Rhythmuskaskaden und schrille Akkorde Vorstellungen eines orgiastischen Primitivismus erweckten. Der Krieg selbst inspirierte Komponisten wie Leoš JanáčekJanáček, Leoš, Béla BartókBartók, Béla und Maurice RavelRavel, Maurice zu einem gewagten Umgang mit dem nationalen musikalischen Erbe: Sie nahmen einheimische Volksweisen und transformierten sie zu unstrukturierteren und abstrakteren Klanggebilden. StrawinskyStrawinsky, Igor vertrat entschieden die Parole »Il faut absolument être moderne« (»Modernsein ist Pflicht«), und diese Attitüde dominierte die Nachkriegsszene. Entsprechend machte man Experimente aller Art, von Erik SatiesSatie, Erik subtilen Collagen bis zu Jean CocteausCocteau, Jean Anspruch, »Musik des Alltagslebens« zu komponieren. Die Begegnung mit dem Jazz erweiterte das melodische und rhythmische Vokabular, wovon so verschiedenartige Komponisten wie Darius MilhaudMilhaud, Darius und Kurt WeillWeill, Kurt profitierten. Paul HindemithHindemith, Paul postulierte: »Tonschönheit ist Nebensache«, während Arnold SchönbergSchönberg, Arnold und seine Schüler furchtlos in ein ganz neues Universum vorstießen – das Zwölftonsystem.5

Was die Literatur betraf, so beschleunigte die Kriegserfahrung die Auflösung der linearen chronologischen Erzähltechnik, bei der die Entwicklung von Charakteren im Vordergrund stand, zugunsten assoziativer Muster, die die Funktionsweise des Bewusstseins samt seinen raschen Richtungsänderungen und Sprüngen imitierten. Der hypersensible französische Romancier Marcel ProustProust, Marcel konstruierte sein gewaltiges fünfzehnbändiges Meisterwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als eine Art introspektive Expedition: Der Protagonist erkundet seine Erfahrungen in der PariserParis Gesellschaft durch genaue Prüfung seiner Erinnerungen, die per Assoziation ausgelöst werden. Der phantasievolle Franz KafkaKafka, Franz, Tscheche mit jüdisch-deutschem Hintergrund, schilderte die Absurdität des Lebens in brillanten metaphorischen Texten, darunter Die Verwandlung, die seine Leser so verwirrt wie fasziniert zurückließen, weil eine fest umrissene Botschaft fehlte. Etwa um dieselbe Zeit saß ein anderer Avantgardist, der katholische Ire James JoyceJoyce, James, im selbst auferlegten Exil – während der Kriegsjahre ZürichZürich, danach ParisParis – an einem epischen Monumentalwerk mit dem Titel Ulysses. Darin evozierte er seine Geburtsstadt DublinDublin und benutzte eine komplexe Technik des Bewusstseinsstroms. Auch sparte er weder an Anspielungen auf die klassische Antike noch an sarkastischem Humor, was dem Roman zunächst Verbote wegen Unsittlichkeit in den USAVereinigte Staaten und dem Vereinigten Königreich einbrachte.6 Diese modernistischen Texte schockierten die Autoritäten nicht nur, weil sie sexuelle Themen ganz offen behandelten, sondern auch, weil sie Türen zu den Bereichen des zuvor Undenkbaren und Unsagbaren aufstießen.

Die Entwicklungen nach dem Krieg verwandelten bei vielen Kulturschaffenden die Utopie eines Freiheit bringenden urbanen Lebens in die Dystopie einer bedrohlichen, ausbeuterischen Megalopolis. Fritz LangsLang, Fritz Film Metropolis (1927) dreht sich um den Konflikt zwischen Kapitalisten und Proletariern in einer futuristischen Großstadt, die von einem technischen Zentralsteuerungsmoloch beherrscht wird, der »M-Maschine«. Im Vordergrund steht die Liebe zwischen dem Sohn des Ober-Ausbeuters und einer jungen Arbeiterfrau; die reichlich verschachtelte Handlung unterstreicht die Botschaft, »das Herz vermittle zwischen Hand und Hirn«. Der Film war bahnbrechend auf dem Gebiet der special effects; so präsentierte er u. a. einen »Maschinenmenschen« sowie einen dem Turm zu Babel ähnlichen Wolkenkratzer; dank des raffinierten Einsatzes von Spiegeln und kleinen Modellkonstruktionen konnten reale Schauspieler in fiktiven Räumen agieren. Obwohl der Film ein Happy End hatte, trugen gerade die Trickaufnahmen, die meist Beklemmendes zeigten, dazu bei, dass eine Metropole, in der die Maschinen dominierten, als ein Ort ohne Gnade erscheinen musste. Ähnlich verhielt es sich bei Alfred DöblinsDöblin, Alfred breit angelegtem Collageroman Berlin Alexanderplatz. Darin erlebt der Leser, wie der straffällig gewordene Arbeiter Franz Biberkopf sich vergebens bemüht, anständig zu werden, und letztlich an der Gleichgültigkeit des gnadenlosen Klassensystems zugrunde geht.7 In solchen Filmen und Romanen bewirkt die Metropole, dass die Bewohner sich selber und untereinander entfremden, und verschlingt sie am Ende. Ihre Unpersönlichkeit, die sozialen Spannungen und die Übermechanisierung, die in ihr obwalten, haben letztlich einen entmenschlichenden Effekt.

 

Die ganzen 1920er Jahre hindurch stritten sich die Intellektuellen auch um den Sinn des Weltkrieges, denn sie zogen grundverschiedene Lehren aus dem Gemetzel. In seinem autobiografischen Roman In Stahlgewittern schildert der hochdekorierte Offizier Ernst JüngerJünger, Ernst die Brutalität der Kämpfe als erregendes Abenteuer, das Kameradschaft stiftet und zum Heldentum begeistert; die Bewährung im Angesicht der Gefahr stählt den Mann. Ganz anders der tschechische Autor Jaroslav HašekHašek, Jaroslav, dessen Roman Der brave Soldat Schwejk einen quasi zeitlosen Charakter in das Geschehen des Weltkrieges setzt: den Einfaltspinsel, dem zwar viele Missgeschicke passieren, der aber alle Fährnisse irgendwie überlebt. Die ironische Darstellung legt satirisch die Unfähigkeit der österreichisch-ungarischen Armee bloß. Ernster ging es bei dem deutschen Schriftsteller und Journalisten Erich Maria RemarqueRemarque, Erich Maria zu. Obwohl er nur kurz gedient hatte, bevor er 1917 verwundet worden war, konnte Remarque in seinem Hauptwerk eine niederschmetternde Schilderung der Inhumanität des Krieges geben: Sein Roman Im Westen nichts Neues erzählt von den Erfahrungen eines jungen Rekruten, der erleben muss, wie nach und nach seine gesamte Kompanie ausgelöscht wird. Unter den englischen Literaten und Literatinnen kam es zwar zu einem harten Dissens darum, ob man, wie etwa Siegfried SassoonSassoon, Siegfried, die Tapferkeit der Soldaten preisen oder wie Vera BrittainBrittain, Vera den Waffengang als Schlächterei verdammen solle. Doch so unterschiedlich sie ihre Schilderungen akzentuierten – einig waren sie sich immerhin darin, dass die Moderne mehr und mehr mörderische Züge offenbarte.8

Reize der Populärkultur

Die Verbreitung der Massenkultur schien erfreulichere Aspekte ins moderne Leben hineinzubringen, denn sie bot den schwer arbeitenden Massen erschwingliche Zerstreuung und Freizeitbeschäftigung. Es gehört zu den Folgen rascher Urbanisierung, dass eine säkulare Populärkultur, die vorwiegend in Gaststätten, Vereinen, öffentlichen Shows und Paraden gepflegt wurde, die traditionellen ländlich-agrarischen und religiösen Volksbräuche nach und nach verdrängte. Während des späten 19. Jahrhunderts bescherten die Perfektionierung von Erfindungen wie der Linotype-Setzmaschine, des Grammophons, des Filmprojektors und des Radioempfängers nie dagewesene sinnliche Erfahrungen, wenn auch zunächst nur den Eliten, die sich nun auf neuartige Weise informieren und unterhalten lassen konnten. Als die Massenproduktion diese Gerätschaften so stark verbilligte, dass sie das große Publikum erreichten, entstand eine stetig wachsende Kulturindustrie, die nicht nur den Gebrauch dieser Dinge demokratisierte, sondern auch Inhalt und Stil dessen, was da vermittelt wurde.1 Dass der Lebensstandard der Unterschichten sich verbesserte und ihre Mußezeit allmählich zunahm, setzte eine Entwicklung neuer Freizeitaktivitäten in Gang. Man konnte Großveranstaltungen mit Profisportlern verfolgen oder die Angebote des Massentourismus wahrnehmen; die Palette der Erholungsmöglichkeiten erweiterte sich zusehends. All dies kostete eine Menge Geld, versprach aber auch prächtige Profite. Doch wie stand es bei den ganzen Veränderungen um die Gefahr politischer Einflussnahme, wie um das intellektuelle Niveau? Befriedigende Antworten auf diese Fragen sollten sich nicht leicht finden.

Eine wichtige Innovation war die Entwicklung der Massenpresse, mit der man die Öffentlichkeit aufklären, aber auch agitieren konnte. Dank der zunehmenden Alphabetisierung wuchs die Zahl der Leser, die Linotype-Setzmaschine erleichterte die Herstellung, das Schalten von Werbung senkte die Kosten, und Nachrichtenagenturen wie AP, Reuters, Havas oder W. T. B. lieferten den Inhalt. In den großen Städten wetteiferten Dutzende von Morgen- und Abendzeitungen miteinander, die auf verschiedenen Niveaus Informationen, Unterhaltung und Kommentare boten. Der Zusatz von Grafiken, Karikaturen und Fotografien verstärkte den visuellen Reiz der illustrierten Magazine. Während Boulevardblätter wie die Daily Mail oder die Berliner Zeitung ihr Massenpublikum mit schrillen Schlagzeilen und primitiven Inhalten in Erregung versetzten, wobei sie eklatante Vorurteile pflegten, präsentierten sich seriösere Periodika wie die London Times, Le Temps oder das Berliner Tageblatt mit einer zurückhaltenden Aufmachung, verlässlichen Informationen und anspruchsvollen Reflexionen.2 Für ihre täglichen Kunden schufen diese Zeitungen einen neuen geistigen Raum und erweiterten deren Horizont; der Blickwinkel weitete sich vom Wohnviertel auf die ganze Stadt und von der Region auf das ganze Land.

Der erste Apparat, der Musik und gesprochenes Wort zu den Leuten nach Hause brachte, ohne dass es einer Live-Darbietung bedurfte, war der Plattenspieler. Als Ersatz für mechanische Klaviere oder Spieldosen erfand Thomas Alva EdisonEdison, Thomas Alva 1878 den Phonographen, in dem ein Diamant in Wachszylinder geritzte Rillen abtastete und diese so in Schallwellen umwandelte. Ein Jahrzehnt später präsentierte Emil BerlinerBerliner, Emil ein weniger sperriges Aufnahmemedium, das sich dann durchsetzte: eine flache rotierende Scheibe aus Schellack mit standardmäßig 78 Umdrehungen pro Minute, die optimale Klangwiedergabe ermöglichte. Sie verbesserte sich während der 1920er Jahre weiter durch den Einsatz neu entwickelter technischer Hilfsmittel: Mittlerweile nahm man über Mikrofone auf und benutzte zum Antrieb der Grammophonteller Elektromotoren. Die großen Plattenfirmen wie Columbia, Victrola, Pathé und Deutsche Grammophon boten ihren Kunden ein breites Spektrum an Platten, in dem alle Musikrichtungen vertreten waren, von Opern und anderem Klassischem für den Connaisseur bis hin zu Vaudeville-Schlagern fürs Ladenmädchen. Wer Musik um sich haben wollte, musste nicht mehr mühsam ein Instrument erlernen; dank der Leistungsfähigkeit mechanischer Gerätschaften konnte er sich die exquisitesten künstlerischen Darbietungen ins Haus holen. Doch nachdem die Tonträgerindustrie einmal entdeckt hatte, dass sich Volkstümliches besser verkaufte als anspruchsvolle Kompositionen, setzte sie einen neuen Schwerpunkt und produzierte vorzugsweise banale Hits, um die Massen zu unterhalten.3

Die Kinematografie war eine weitere Technik, die dem Publikum neue Phantasiewelten eröffnete. Neben Fotografien, die letztlich Standbilder wie die Erzeugnisse der alten laterna magica blieben, gab es nun auch bewegte Bilder. Ein Verfahren, Letztere auf Zelluloid zu bannen, hatte Edison bereits erfunden, und in Lyon entwickelten die Brüder LumièreLumière, Nicolas und Louis Jean eine Apparatur, mit der sich das Festgehaltene auf eine Leinwand projizieren ließ. Der erste – noch recht kurze – kinematografische Film wurde 1895 in einem BerlinerBerlin Varieté vorgeführt. Regisseure experimentierten mit der Kapazität des neuen Mediums, zeigten Szenen aus dem Alltagsleben, erzählten aber auch schon Geschichten wie Edwin S. PorterPorter, Edwin S. 1903 in seinem Streifen The Great Train Robbery. Der Schlüssel zum Erfolg lag im Aufbau ganzer Studios, in denen sich Filme herstellen ließen. Ebenso notwendig waren Betriebe, die zahlreiche Kopien des Filmes fertigten, die dann wiederum an spezielle Filmtheater verteilt werden mussten. Diese Lichtspielhäuser konnten es sich leisten, niedrigere Eintrittspreise zu nehmen als die – personalintensiveren – traditionellen Bühnen, an denen Schauspieler aus Fleisch und Blut agierten, was den Kinos einen Massenandrang bescherte. Während Hollywood für die große Konsumentenschar spannende Western, glamouröse Variety-Shows und lustige Charlie-Chaplin-Komödien produzierte, war manchen kontinentalen Studios, etwa denen der UFA in BabelsbergBabelsberg, auch künstlerische Qualität ein Anliegen; dies bezeugen namentlich expressionistische Filme wie Das Kabinett des Doktor Caligari.4 Ab Ende der 1920er Jahre waren die Streifen dann nicht länger stumm. Nun sah man die Akteure nicht nur, sondern hörte sie auch, weshalb die ersten Tonfilme in der amerikanischen Umgangssprache talkies hießen. Spätestens jetzt liebte das Publikum das neue Medium, weil es täuschende Wirklichkeitsnähe mit imaginär-fiktiven Inhalten verband.

Indem er seine Programme direkt in die Heimstätten der Menschen sendete, wirkte sich auch der Rundfunk auf die kulturellen Gewohnheiten aus. Guglielmo MarconiMarconi, Guglielmo und andere hatten die Technologie auf der Grundlage der drahtlosen Telegrafie entwickelt; erste Versuche fanden um 1900 in England statt. Nicht sofort wurde sie ein Massenmedium, denn die notwendigen Transmitter waren kostspielig, die Signalreichweite blieb begrenzt, und die Hörer mussten komplizierte Detektoren kaufen. Seinen wahren Durchbruch erlebte der Rundfunk erst in den 1920ern, dann aber entwickelte und verbreitete er sich ziemlich rasch. In Europa wurde das Problem, wie die Dienstleistung zu finanzieren sei, gelöst, indem man Gebühren von den Nutzern erhob. Die Obrigkeiten begriffen nur zu gut, welche Möglichkeiten ihnen das Medium bot; so ließen sich etwa Nachrichten und Kommentare in ihrem Sinne einfärben und schattieren. Deshalb sicherten sich die Regierungen die rechtliche Kontrolle über die Anstalten, wofür sie einschlägige öffentliche Körperschaften gründeten, z. B. die British Broadcasting Corporation (BBC). Anfangs konnte man nur in größeren Städten Radio hören; entsprechend rechneten die Rundfunkmacher mit einem eher elitären Publikum und brachten kulturell wertvolle Inhalte. Als jedoch die Empfänger preiswerter wurden und immer mehr Menschen einen erwarben, mussten die Sender ihre Programme dem simpleren Geschmack der Massen anpassen. Diktatoren wie Stalin und Mussolini unterstützten den Ausbau drahtloser Übertragung besonders eifrig, denn durch das Radio konnte ihre Propaganda viel mehr Leute erreichen als durch Printmedien.5

Dass vielen jetzt mehr Mußezeit und mehr Geld zur Verfügung standen, trieb auch die Entwicklung der Massenfreizeitkultur voran; besonders das öffentliche Sportwesen expandierte. Dessen Anfänge lagen in den britischen Privatschulen, wo man schon länger zu wissen glaubte, dass athletische Wettbewerbe den Charakter stählten. Nun bemerkte man, dass sie außerdem geeignet waren, Zuschauende zu unterhalten. Während die Eliten kostspielige Aktivitäten wie Tennis, Segeln und Reiten bevorzugten, entschieden die weniger gut Betuchten sich lieber für preiswertere Betätigungen wie Wandern, Schwimmen, Fahrrad- oder Kajakfahren. Die Olympische Bewegung, die den »Amateursportler«, der nur um der Sache und nicht um des eigenen Vorteils willen »dabei« sei, in den Mittelpunkt rückte, sprach eher die oberen Klassen an, während Spektakel wie Boxen, Radrennen und Fußball die Volksmassen herbeilockten. Die gewaltigen Ticketeinnahmen, die bei solchen Großereignissen zusammenkamen, erlaubten den Akteuren, ins Profilager zu wechseln und nur noch für Wettkämpfe zu trainieren. Erfolgreiche Athleten wie der deutsche Boxer Max SchmelingSchmeling, Max oder der italienische Radrennfahrer Fausto CoppiCoppi, Fausto wurden Stars, bewundert von Tausenden Fans. Dass dem Sport ein beträchtliches Propagandapotenzial innewohnte, begriffen auch die Diktatoren und förderten ihn kräftig. Um nationalistische Leidenschaften anzufachen, ließen sie ihre Länder an internationalen Wettkämpfen teilnehmen, so an den Olympischen Spielen und der Fußballweltmeisterschaft, und wenn ihre Athleten Preise und Medaillen heimbrachten, deuteten sie dies als Beweise für den Wert und die Stärke ihrer Regimes.6

 

Ausgebaute Beförderungsnetze und bezahlter Urlaub begünstigten ein weiteres Phänomen der Moderne, den Massentourismus. Scharenweise begaben sich Menschen in berühmte Städte oder in Naturlandschaften; manche wollten sich bilden, manche sich erholen. Organisierte Reisen zu entfernteren Orten hin hatte es zwar schon früher gegeben, man denke an das religiöse Pilgertum oder die grand tour der Adeligen. Was nun aber britische Unternehmer in diesem neuen Gewerbe, namentlich Thomas CookCook, Thomas, ihren Kunden anboten, ging darüber hinaus. Sie animierten die mittleren Klassen, ferne Länder zu besuchen, und priesen das Reisen als eine Form der Zerstreuung. Dank längerer Freizeit und etwas mehr Kleingeld konnten zunehmend auch die unteren Klassen am Wochenende einmal wegfahren, mindestens zu nahegelegenen Seen oder Wäldern, und sich dort regenerieren. Niedrigere Eisenbahn- und Dampfschifftarife ermöglichten selbst Leuten mit bescheideneren Budgets, weitere Strecken zurückzulegen, mochten die Ziele nun spektakuläre Gebirgszüge sein wie die Alpen oder die jüngst ausgebauten Seebäder. Zeigten sich Naturliebhaber mit spartanischer Unterbringung zufrieden, bestand die Mehrheit der Touristen auf Luxus, weshalb sich eine ganz neue Industrie entwickelte, zu der Hotels, Museen und andere Attraktionen gehörten.7 Und wieder wussten die Kommunisten wie die Faschisten die Innovation für ihre Zwecke auszubeuten: Indem sie den Bürgern preiswerte Ferien anboten – den Jüngeren über einschlägige Organisationen wie den Komsomol, den Erwachsenen über Clubs wie den Dopolavoro –, konnten sie ihre jeweilige Ideologie populärer machen.

Als letzter Aspekt der Populärkultur sei die Transformation der Geschlechterrollen erwähnt. Diese verdankte sich auch dem kulturellen Konstrukt der »neuen Frau«, propagiert von den Feministinnen und den Medien. Während die Suffragetten, die meist der Oberschicht entstammten, gleiche Bildungschancen und politische Rechte reklamierten, wagten die Frauen der Mittelschicht immer häufiger den Schritt aus dem klassischen Hausfrauendasein, indem sie zumindest vor der Heirat als Verkäuferinnen oder Sekretärinnen arbeiteten. Frauen aller Schichten hatten die viktorianischen Korsetts und Turnüren satt, und statt kunstvoll gestalteter Haartürme waren nun schlichte, androgyne Stutzfrisuren en vogue, etwa der Bob. Nachdem sie in England und Deutschland das Wahlrecht bekommen hatten, gründeten die Frauen eigene Interessenverbände und beeinflussten auch die Gesellschaftspolitik, wobei sich bestimmte Hoffnungen, etwa auf liberaleres Scheidungsrecht und legalisierte Abtreibung, überwiegend bald zerschlugen. Doch feierten immerhin die Illustrierten und der Film einen weiblichen Typus, der von Traditionen abrückte: Sogenannte flappers, Frauen mit knabenhaft schlanker Figur, die selbstbewusst auftraten und rauchten, wurden modische Ikonen, denen urbane Mädchen nacheiferten. Die Befreiung der Frauen von einigen der bisherigen Zwänge verlangte auch eine Neudefinition der männlichen Rolle weg vom Patriarchat, hin zur Partnerschaft in der Ehe.8 Diese beiden Faktoren, die einander verstärkten – einerseits die unzähligen technischen Fortschritte des noch jungen Jahrhunderts, andererseits neue Entwicklungen in Stil und Lebensweise –, verschafften der Modernität ein positives Image.