Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Demokratische Friedensstiftung

Die Bedingungen für den Waffenstillstand, eine Übereinkunft der Vereinigten Staaten und der Entente, lassen schon einiges von den Widersprüchen und Unklarheiten erahnen, die den Prozess der demokratischen Friedensstiftung kennzeichnen sollten. Dem Drängen einer verzweifelten Obersten Heeresleitung nachgebend, hatte die deutsche Regierung Anfang Oktober WilsonWilson, Woodrow um einen Waffenstillstand auf der Basis seiner Vierzehn Punkte gebeten. Doch der Präsident stellte in mehreren Noten klar, dass die deutschen Truppen zuvor sämtliche alliierten Territorien komplett zu räumen hätten und der Kaiser abdanken müsse. Noch komplizierter gestalteten sich die Verhandlungen zwischen Wilsons Emissär Colonel HouseHouse, Edward, ClemenceauClemenceau, Georges und Lloyd GeorgeLloyd George, David, denn zumindest anfangs mochten sich der französische wie der britische Staatschef ganz und gar nicht durch die amerikanischen Friedensbedingungen binden lassen. Als sie aber erfuhren, dass »The Inquiry« – ein aus amerikanischen Akademikern und Diplomaten gebildetes Gremium, das mit der Vorbereitung der Friedenskonferenz betraut war – eine abgemilderte Version ausgearbeitet hatte, akzeptierten die europäischen Alliierten WilsonsWilson, Woodrow Vierzehn Punkte; sie würden sie schon, glaubten sie, gemäß ihren eigenen Interessen modifizieren können. Die herben militärischen Konditionen, darunter die Besetzung der linksrheinischen Gebiete Deutschlands und die Aufrechterhaltung der Seeblockade, hatte General FochFoch, Ferdinand hineinschreiben lassen.1

Immer wieder schien die alliierte Seite zwischen den Wilsonschen Prinzipien und nationalistischen Zielen zu schwanken; das Muster zeigte sich auch bei der bald anberaumten Pariser Friedenskonferenz. Die eigentlichen Verhandlungen begannen am 18. Januar 1919; sie wurden dominiert von den Oberhäuptern der drei großen »Alliierten und Assoziierten Mächte«, ClemenceauClemenceau, Georges, Lloyd GeorgeLloyd George, David und WilsonWilson, Woodrow. Zu Wort meldeten sich freilich auch Italien, JapanJapan und eine ganze Schar kleinerer Nationen, die versuchten, die Entscheidungen zu beeinflussen. Einzelfragen besprach man in Komitees, die von Petitionären belagert wurden, unter ihnen Ignacy PaderewskiPaderewski, Ignacy und Tomáš MasarykMasaryk, Tomáš. Während es dem einen darum ging, dass Polen wieder einen eigenen Staat bekam, wünschte sich der andere Hilfe bei der Bildung eines ganz neuen Staates, der Tschechoslowakei. Die französische Öffentlichkeit wollte sich in erster Linie vor einer neuerlichen deutschen Aggression schützen, weshalb sie territoriale Abtretungen, diplomatische Zusicherungen und ökonomische Konzessionen seitens des östlichen Nachbarn forderte. Den Briten kam es allgemein mehr darauf an, dass sie ihre Überlegenheit zur See behielten und ein paar Kolonien hinzugewannen, während für die Delegation der USAVereinigte Staaten die Satzung des noch zu formierenden Völkerbundes Priorität hatte, die auch im Vertragswerk erscheinen sollte. An keiner Stelle hingegen war das neue, demokratische Deutschland in die Beratungen einbezogen; man konfrontierte es schlicht mit der Endfassung des Vertrags. Seine Repräsentanten beugten sich dem Zwang und unterschrieben am 28. Juni 1918 in VersaillesVersailles.2


Europa nach dem Krieg, 1921

Der Versailler Vertrag erlegte Deutschland beträchtliche Einbußen auf: Es verlor ein Siebtel seines Vorkriegsterritoriums und ein Zehntel seiner Vorkriegspopulation. Frankreich gewann Elsass-LothringenElsass-Lothringen zurück und erhielt die Kontrolle über das kohlenreiche SaarbeckenSaarbecken. Was das RheinlandRheinland betraf, hatten die Franzosen den Angelsachsen die Zusage abgerungen, dass es fünfzehn weitere Jahre unter alliierter Besatzung verblieb. Auch anderswo nahm man wenig Rücksicht darauf, welcher Ethnie die Einwohnerschaft vor Ort mehrheitlich angehörte. So wuchs das Territorium Belgiens um das Gebiet Eupen-MalmedyEupen-Malmedy. In SchleswigSchleswig gab es ein Plebiszit, bei dem das nördliche Drittel der Region dafür votierte, wieder von Dänemark regiert zu werden. Im Osten wollten die Architekten des Versailler Vertrages den Polen einen freien Zugang zum Meer verschaffen, allerdings war die Mehrheit der Bevölkerung in den Gebieten an der Ostsee nicht polnisch. Der Konflikt wurde gelöst, indem man die ethnisch durchmischte Provinz WestpreußenWestpreußen dem neu erstehenden souveränen Polen zuschlug. Den deutschen Hafen DanzigDanzig (Gdańsk) erklärte man zur Freien Stadt unter der internationalen Kontrolle des Völkerbundes, womit OstpreußenOstpreußen vom Reich abgeschnitten war. Einen weiteren Streitfall im Osten bildete OberschlesienOberschlesien mit seinen Kohlen- und Industriegebieten; welche davon die Polen und welche die Deutschen nutzen durften, sollten wiederum Abstimmungen entscheiden. Die deutsche Hafenstadt MemelMemel in OstpreußenOstpreußen ging samt Hinterland an Litauen. Dass weder das mehrheitlich deutschsprachige SudetenlandSudetenland noch Österreich die Erlaubnis bekamen, sich dem Reich anzuschließen, spielte den Nationalisten das Argument in die Hände, das Recht auf Selbstbestimmung werde immer nur zum Schaden Deutschlands ausgelegt.3

Die anderen Mittelmächte mussten sogar noch drakonischere Bestimmungen hinnehmen, denn die neuen Nationalstaaten, die sich ab 1918 in Europa und an dessen Rändern bildeten, entstanden hauptsächlich auf ihre Kosten. Die Verträge von Saint-GermainSaint-Germain und TrianonTrianon brachen das Kaiserreich Österreich-Ungarn auf, indem sie vorgaben, das multiethnische Ostmitteleuropa nach nationalen Kriterien zu teilen. So blieben ein kleiner, ethnisch gesehen deutscher Staat Österreich und ein ebenfalls geschrumpftes Ungarn übrig; Letzterem wurden drei Millionen ungarischsprachiger Einwohner genommen, die nun unter die Oberhoheit von Nachbarstaaten kamen. Der Vertrag von NeuillyNeuilly zwang Bulgarien, einige Randprovinzen an das neugegründete Jugoslawien abzutreten. Der Vertrag von SèvresSèvres löste das Osmanische Reich auf; ihm blieb nur ein Rumpfstaat – die Türkei als Lebensraum der türkischen Ethnie. Seine arabischen Provinzen wurden hingegen abgetrennt und unter das Mandat des Völkerbundes gestellt. Eine vorwiegend von Griechen bewohnte Region im Westen, IzmirIzmir und Umgebung, sollte laut Vertrag Griechenland besetzen und verwalten dürfen. Die Entscheidung löste einen blutigen Konflikt aus, den Griechisch-Türkischen Krieg, der erst 1923 mit dem Vertrag von Lausanne beendet wurde. Darin verfügt wurde ein Bevölkerungsaustausch zwischen den Streitparteien: Etwa 1,2 Millionen Griechen mussten Kleinasien verlassen, etwa halb so viele Türken Griechenland. Geografische Ignoranz und unbegründete Sonderrechte schufen neue Grenzen – und damit bleibende Anlässe für weitere Feindseligkeiten.4

Den osteuropäischen Raum zu ordnen, wurde auch dadurch erschwert, dass Russland nicht mit am Konferenztisch saß, denn die westlichen Staaten fürchteten eine revolutionäre Ansteckung mit dem dort herrschenden Kommunismus. Im Prinzip lehnten die Alliierten den Vertrag von Brest-LitowskBrest-Litowsk seiner Härten wegen ab; tatsächlich aber mussten sie ihre Interventionstruppen zurückziehen und einige der Bestimmungen jenes Kontraktes hinnehmen, indem sie etwa die Unabhängigkeit Finnlands und der baltischen Staaten anerkannten. Dafür förderte die Friedenskonferenz die Gründung mehrerer neuer Staaten, die sich zusammengenommen als Pufferzone nutzen ließen. So bildeten sich mit alliierter Beihilfe Polen, die Tschechoslowakei und Jugoslawien, während man Rumänien erlaubte, zu expandieren. Dergestalt wollte man einem Wiedererstehen Österreich-Ungarns vorbeugen und dem deutschen Einfluss in der Region entgegenwirken. Gleichzeitig war diesen neuen Staaten die Funktion eines cordon sanitaire zugedacht, der Mittel- und Westeuropa vor der Infektion durch den kommunistischen Virus bewahren sollte. Freilich zwangen diese neu gezogenen Grenzen rund dreißig Millionen Menschen in Nationalstaaten hinein, deren Sprache sie nicht beherrschten und denen sie nicht anzugehören wünschten. Italien etwa forderte IstrienIstrien ein, weil dort Landsleute lebten, nahm aber ohne Bedenken den BrennerBrenner als strategisch günstige Nordgrenze in Anspruch, damit SüdtiroSüdtiroll, ein unbezweifelbar deutschsprachiges Gebiet, italienisch wurde.5

Um ein Wiederaufflammen der Kämpfe zu verhindern, wurden die Verliererländer gründlich entwaffnet und die Personalstärke ihrer Heere zusammengestrichen, ohne dass die Sieger an ihren eigenen Streitkräften ähnliche Reduktionen vornahmen. Auf das Drängen der Franzosen hin erlaubte man der Weimarer Republik nur eine Armee von 100 000 Mann, die weder eine Luftwaffe besitzen durfte noch Panzer, schwere Artillerie, Giftgas oder einen Generalstab. Das linke Rheinufer wurde besetzt und das rechte entmilitarisiert. Nachdem in Scapa FlowScapa Flow 66 deutsche Kriegsschiffe von ihren eigenen Mannschaften versenkt worden waren, damit sich nicht die Feinde ihrer bemächtigten, sorgte britischer Druck dafür, dass die neue Marine der Geschlagenen keinen großen Umfang annahm: Man ließ ihnen lediglich eine kleine Restflottille zum Küstenschutz, bestehend aus 15 000 Offizieren und Matrosen; ferner mussten die Deutschen sämtliche U-Boote abliefern. Österreich und Ungarn gestand man Zwergarmeen von je 30 000 Mann zu. Aufgrund dieser drastischen Reduktionen standen die Verliererländer praktisch ohne Verteidigung da, was Groll und Zorn in den Kreisen ehemaliger Militärs schürte, die sich plötzlich ohne Beschäftigung sahen. Da die neuen Staaten Polen und Tschechoslowakei auf eine Stärke von je einer halben Million Soldaten hochrüsteten, bewirkte die einseitige Entmilitarisierung ein gewaltiges Ungleichgewicht der Kräfte inmitten Europas. Auch fachte die Umsetzung dieser ganzen Auflagen ständig neue Konflikte an.6

 

Der vielleicht umstrittenste Punkt im Gesamtpaket der Verträge betraf die Reparationen. Sowohl in England als auch in Frankreich, das zusätzlich eine Menge Wiederaufbauarbeit vor sich hatte, erklang die von Chauvinisten befeuerte Forderung: »Deutschland muss zahlen!« Der Berater der amerikanischen Friedensdelegation, John Foster DullesDulles, John Foster, formulierte einen Passus, der in den Vertragstext eingefügt werden sollte und der explizit die deutsche Verantwortung für den Ausbruch des Krieges feststellte. Dieser Abschnitt wurde der berüchtigte Artikel 231, die infame »Kriegsschuldklausel«. Nun hatten manche Alliierte auch noch Schulden bei anderen Alliierten, was die Beratungen nicht eben erleichterte. Im Wesentlichen kreisten die Pariser Debatten um drei Fragen. Erstens: Wie erfasst man die Höhe der Zivilschäden? Zweitens: Wie viel soll Deutschland zahlen? Drittens: Wie ist das zusammenkommende Geld zu verteilen? Einig waren sich die Friedensstifter lediglich darin, eine fixe Summe zu verlangen, nicht aber darüber, wie hoch diese sein solle und in wie vielen Jahren die Besiegten sie ratenweise zu erbringen hätten. Die endgültige Entscheidung fiel erst 1921. Der ursprünglich vorgeschlagene Betrag von 269 Milliarden Goldmark erschien den vergeltungssüchtigen Siegern enttäuschend niedrig, den Verlierern hingegen astronomisch hoch – da müsste man ja bis 1999 zahlen, hieß es. Der Vertreter des Britischen Schatzamts, John Maynard KeynesKeynes, John Maynard, hielt die Forderungen für ökonomisch absurd, drang aber nicht durch und verließ die Delegation. Nicht zuletzt infolge seines Austritts vergiftete die Debatte um die Gerechtigkeit der alliierten Reparationsforderungen die Nachkriegspolitik über Jahre hinweg.7

Zu guter Letzt erörterte die Pariser Friedenskonferenz die Frage, wie mit den deutschen Kolonien und den abgetrennten türkischen Provinzen zu verfahren sei. Diesbezüglich verfolgte England imperialistische Interessen, und auch die britischen dominions wollten ihren Teil der Beute. Dass nun sie die Kontrolle in jenen Regionen übernahmen, rechtfertigten die alliierten Verhandler mit einer nicht gerade objektiven Bilanz deutscher Übeltaten. Man erklärte die ehemaligen Kolonien der Besiegten zu »Mandatsgebieten« des Völkerbundes. Es gab drei Klassen von Mandaten, was im Grunde hieß: drei Grade der Bevormundung. Diese Entwicklung enttäuschte die antikolonialistischen Intellektuellen zutiefst, die auf sofortige Selbstbestimmung gehofft hatten. Frankreich und England teilten sich, die bisherigen Territorien zerstückelnd, TogoTogo, KamerunKamerun und OstafrikaOstafrika; JapanJapan erhielt den chinesischen Hafen TsingtauTsingtau, SüdafrikaSüdafrika gewann SüdwestafrikaDeutsch-Südwestafrika hinzu, AustralienAustralien durfte sich NeuguineaNeuguinea nehmen, und NeuseelandNeuseeland bekam SamoaSamoa. Im Nahen OstenNaher Osten wurden aus den früheren osmanischen Provinzen neue Staaten geformt. Theoretisch befanden sie sich auf dem Weg in die Unabhängigkeit, de facto aber lebten sie unter europäischer Herrschaft: der französischen in SyrienSyrien und im LibanonLibanon, der britischen auf dem Rest der arabischen Halbinsel.8 Viel Sprengstoff barg die Balfour-Deklaration von 1917, versprach sie doch »eine nationale Heimat für das jüdische Volk« in Palästina, was mit arabischen Ansprüchen kollidierte.9

Beurteilt man die Pariser Verträge nach ihren Konsequenzen für die späteren Entwicklungen, bleibt der Befund, dass sie eher ein fehlerhaftes Konstrukt waren, denn sie kombinierten innovative Impulse Wilsonscher Art mit Verfügungen, aus denen ein regressiver Nationalismus sprach. Getrieben von einer rachsüchtigen Öffentlichkeit und angespornt von militärischen Beratern, ignorierten ClemenceauClemenceau, Georges und Lloyd GeorgeLloyd George, David die Appelle zur Mäßigung und unterminierten universelle Bestrebungen zugunsten der eigenen nationalen Interessen. WilsonWilson, Woodrow wiederum sah zwar ein: »Wenn wir das deutsche Volk demütigen und es zum Äußersten treiben, bringen wir jede Regierung dort, gleich welcher Art, zum Scheitern, und der Bolschewismus tritt an ihre Stelle.« Ebenso wollte der amerikanische Präsident aber die preußische Tücke vergelten, mit der die Deutschen Russland den schmählichen Vertrag von Brest-LitowskBrest-Litowsk diktiert hatten.10 WilsonsWilson, Woodrow Programm, das Demokratie in allen Ländern, nationale Selbstbestimmung und internationale Kooperation durchsetzen wollte, hätte vielleicht dem Nachkriegseuropa eine konstruktive Ordnung bescheren können, aber die vielen Modifikationen, die man an den Konzepten vornahm, und die Einseitigkeit, mit der man sie anwandte, ruinierten ihre Glaubwürdigkeit. Zugegeben, viele der konkreten Schwierigkeiten beim Versuch, die Ideen der neuen Diplomatie auszuführen, waren damals unmöglich vorherzusehen. Doch ihre halbherzige und widersprüchliche Umsetzung machte sie einerseits zu hart, als dass die Unterlegenen sie hätten akzeptieren, andererseits zu konziliant, als dass die Sieger sie hätten erzwingen können. Letztlich führte, wie sich zeigen sollte, diese Doppelnatur dazu, dass die Versuche misslangen.

Demokratie auf dem Vormarsch

Trotz allem verschaffte der Sieg der Alliierten Europa die Gelegenheit, sich für die liberale Vision der Moderne zu entscheiden. Ein Weg hin zu Selbstverwaltung und Selbstbestimmung innerhalb einer kooperativen internationalen Ordnung wurde sichtbar. Während die westlichen Alliierten sich bestätigt fühlten, konnten die östlichen Demokraten den Zusammenbruch der multiethnischen Imperien im genannten Sinne nutzen, indem sie etwa in republikanischen Verfassungen die Eigenständigkeit ihrer Völkerschaften festschrieben. Allerdings profitierten von der Gunst der Stunde auch bestimmte lokale Nationalisten. Diese wollten über bloße Autonomie hinausgehen und eine Reihe neuer Nationalstaaten schaffen, die sie mit ihrem reichlich mythischen Geschichtsverständnis legitimierten. Der Vorgang stellte die sozialen Hierarchien auf den Kopf: Frühere Untertanen, so Polen und Tschechen, saßen jetzt an der Spitze, und wo sie regierten, fanden sich ihre einstigen Herren selbst als Minderheiten wieder, ohne einen Staat, der sie unterstützte. Um aber dieses ehrgeizige Ziel einer Souveränität zu verwirklichen, mussten die neuen Demokratien einige Probleme überwinden: die ererbte Unterentwicklung, die Verwüstungen des Krieges und die Widrigkeiten, die ein Übergang von der Nachkriegszeit in die Normalität bereithielt.1 Für ihr state-building waren neue gouvernementale Strukturen erforderlich, und dies betraf weite Bereiche – Polizei wie Militär, Postbeamte wie Steuereinnehmer, Parlament wie Diplomatie.

Da die Alliierten propagiert hatten, sie kämpften für die Demokratie, und die Autokratien nun kollabiert waren, gewann im Westen die parlamentarische Regierungsform als überlegenes politisches System noch mehr Attraktivität. Aber die unsäglichen Opfer an Leben und Gesundheit, die im Krieg erbracht worden waren, motivierten auch Veteranen und Suffragetten, neue Rechte als verdienten Lohn für das staatsbürgerliche Engagement einzuklagen, das Männer wie Frauen während des Konfliktes bewiesen hatten. Die kleineren neutralen Demokratien wie die Schweiz und die skandinavischen Länder bekräftigten, an ihrer Art der Selbstbestimmung festzuhalten, und erweiterten sie um einige Partizipationsmöglichkeiten. In England brachte der »Representation of the People Act« 1918 hinsichtlich der ›Volksvertretung‹ einige Reformen: Der Zensus wurde abgeschafft, ein Mindesteinkommen war also nicht länger Vorbedingung für die Teilnahme am Urnengang. Alle Männer ab 21 durften jetzt wählen, desgleichen alle Frauen ab 30. Die Dritte Französische Republik gewährte schon seit längerem fast allen Männern das Wahlrecht, doch Frauen erhielten es erst viel später, nämlich 1944 (!). Desgleichen organisierten die Regierenden Hilfe für Veteranen, Verwundete sowie Kriegerwitwen und taten damit erste Schritte in Richtung eines modernen Wohlfahrtsstaats. Weiterreichende Forderungen, etwa die der Arbeiter nach sozialen Reformen und Kontrolle über die Betriebe, wurden höheren Ortes allerdings generell abgeblockt. Am kapitalistischen Klassensystem änderte all der Wandel verhältnismäßig wenig.2

Ein Dutzend neue Demokratien waren vom Baltikum bis zum BalkanBalkan entstanden, die mit hochfliegenden Hoffnungen in die Nachkriegsepoche gingen, dass die Unabhängigkeit ihren Völkern ein besseres Leben verschaffen möge. Nie mehr würden sie sich von Bürokraten herablassend behandeln lassen müssen, die nicht einmal die Sprache derer verstanden, die sie herumkommandierten; endlich durften sie ihre Angelegenheiten selber regeln – so die Erwartung. Die Führungsriegen entwarfen ehrgeizige Verfassungen, um neue Bürger zu erschaffen, nationalbewusst und bereit, sich in die neue Ordnung einzubringen. Doch die Realität erwies sich als eher ernüchternd. All den neuen Staaten – außer Ungarn – machten ethnische Minderheiten das Leben schwer, die lautstark Autonomie für sich beanspruchten, lieber zu einem Nachbarland gehören wollten oder einen eigenen Staat zu gründen begehrten. Die neuen Zölle, die die einheimische Industrie schützen sollten, unterbrachen alte Handelsrouten und strangulierten den Markt wie auch die ökonomische Entwicklung. Ferner kostete die Errichtung staatlicher Schulen, Krankenhäuser und Polizeistationen Unsummen Geldes, das man sich im Ausland leihen musste. Da ihre Völker Selbstbestimmung nicht gewohnt waren, wandelten sich, außer der Tschechoslowakei, all jene neu entstandenen Demokratien zu nationalistisch-autoritären Regimen, so etwa Polen unter General Józef PiłsudskiPiłsudski, Józef.3

Auch beim Kriegsverlierer Deutschland triumphierte die Demokratie, denn die Novemberrevolution von 1918 stürzte Wilhelm II. Als die Matrosen in den Häfen Wilhelmshaven und Kiel hörten, dass sie zu einer finalen Schlacht gegen die British Royal Navy aufbrechen sollten, meuterten sie; solch eine heroische Aktion am Ende eines verlorenen Krieges erschien ihnen sinnlos. Da auch viele Arbeiter in den Fabriken streikten, musste der diskreditierte KaiserWilhelm II. abdanken und floh per Eisenbahn nach Holland – ein schmachvoller Rückzug. In BerlinBerlin hofften Spartakisten und einige Gewerkschaftsführer, sie könnten ein revolutionäres Regime aus Arbeitern und Soldaten errichten, mit Räten nach bolschewistischem Vorbild. Um einer solchen Radikalisierung vorzubeugen, rief der moderate Sozialdemokrat Philipp ScheidemannScheidemann, Philipp am 9. November 1918 von einem Balkon des Reichstagsgebäudes: »Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue; es lebe die deutsche Republik!« Scheidemanns Parteifreund Friedrich EbertEbert, Friedrich wurde Kanzler der neuen republikanischen Regierung. Er manövrierte den Rat der Volksbeauftragten aus und stellte die Ordnung in der Hauptstadt wieder her – mit der Hilfe der Armee und der Rückendeckung des Unternehmertums.4

Die konfliktreiche Weimarer Republik zu stabilisieren, war schwierig, aber immerhin nicht unmöglich. Gegründet wurde sie abseits der Orte, an denen die Leidenschaften des Volkes tobten, nämlich an der Geburtsstätte der deutschen Klassik. Liberale Parlamentarier wie Hugo PreußPreuß, Hugo erarbeiteten dem neuen Staat eine fortschrittliche Verfassung, die proportionale Repräsentation vorsah und den Frauen das Wahlrecht gab. Schockiert zeigte sich das Kabinett jedoch über die herben Bedingungen des Versailler Vertrages. Man hatte gehofft, die Sieger würden mehr Großzügigkeit walten lassen – da Deutschland inzwischen doch eine Demokratie sei. Und die brauchte Unterstützung. Auf der Rechten wurde die frischgebackene Republik belagert von revanchistischen Nationalisten, die eine »Dolchstoßlegende« über den Kriegsausgang zurechtzimmerten: Die Niederlage der Armee sei allein durch Subversion an der Heimatfront verursacht worden, und in der Demokratie sahen diese Extremisten eine Komplizin der Alliierten. Auf der Linken befeuerten Kommunisten und Anarchisten die Rebellion in den Industriegebieten, um so die Macht an sich zu reißen und ein Regime nach sowjetischer Manier zu errichten. Außerdem streiften die paramilitärischen Freikorps durch die Straßen und ermordeten politische Gegner wie Karl LiebknechtLiebknecht, Karl und Rosa LuxemburgLuxemburg, Rosa; anders als mit Gewalt, behaupteten sie, könne man weder die Ordnung im Inneren aufrechterhalten noch Deutschlands Ostgrenzen verteidigen. Trotzdem überlebte die Republik ihre turbulenten Anfänge, nicht zuletzt, weil die Arbeiterklasse hinter ihr stand. Allmählich gewann sie bei ihren Bürgern ein gewisses Maß an widerwilligem Respekt.5

 

Einer ungewissen Zukunft sah die Demokratie auch in den neuen Staaten Österreich und Ungarn entgegen, die vorher noch nie in dieser Form und diesem Zuschnitt existiert hatten. Das deutschsprachige Österreich besaß nun mit Wien eine überdimensionale Hauptstadt, deren politisches Leben zwischen den Parteien der Mittelschicht und jenen der Arbeiterklasse vermitteln musste; die wichtigsten Antipoden bildeten die Christlich-Sozialen und die Sozialdemokraten. Die Mehrheit der österreichischen Parteien befürwortete den Anschluss an die Weimarer Republik, doch der Vertrag von Saint-GermainSaint-Germain verbot exakt diese naheliegende Lösung, um Deutschland nicht zu stark werden zu lassen. Von seinen bisherigen Handelspartnern durch nationalistische Zölle abgeschnitten, blieb WienWien auf westliche Kredite angewiesen. Ungarn konnte sich immerhin freuen, endlich unabhängig zu sein; allerdings hatte es den Verlust eines Drittels der magyarischen Ethnie zu beklagen – so ungünstig für diese Bevölkerungsgruppe waren die Grenzverläufe durch den Vertrag von TrianonTrianon geändert worden. Der Aufstand unter Béla KunKun, Béla brachte 1919 kurzfristig die Kommunisten in BudapestBudapest an die Macht, aber nach einer Weile stellte die rumänische Armee die konterrevolutionäre Ordnung wieder her. Im Januar 1920 rissen rechte Kräfte die Herrschaft an sich, sodass Admiral Miklós HorthyHorthy, Miklós für die nächsten zwei Jahrzehnte Ungarn autoritär regieren konnte. So schuf die von außen auferlegte Selbstbestimmung zwei revisionistische Staaten, die mit dem Frieden unglücklich waren.6

Der Siegeszug der Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg riss viele Länder mit; die große Ausnahme blieb die Sowjetunion. Sie präsentierte sich als egalitäre Alternative zur Wilsonschen Vision. LeninLenin, Wladimir I. brandmarkte unermüdlich die parlamentarische Regierung als Pseudoveranstaltung; nur vorgeschoben sei ihr Anspruch, die Bürgerrechte gegen zaristische Verfolgung zu schützen. Statt für eine Erweiterung der politischen Partizipationsmöglichkeiten innerhalb eines kapitalistischen Systems zu streiten, betonten die Bolschewiken die Notwendigkeit, der wirtschaftlichen Ausbeutung ein Ende zu bereiten; nur so lasse sich soziale Gerechtigkeit erreichen, die Vorbedingung echter Demokratie. Obwohl diese Gegnerschaft zu den westlichen Klassenhierarchien durchaus einigen Eindruck machte, installierten die Sowjets nach der Revolution eine »Diktatur des Proletariats«. Ihre Begründung lautete, sie müssten Gewalt gebrauchen, um ihre sozialen Veränderungen abzusichern, denn sie seien von Klassenfeinden umstellt. Auch die »Kommunistische Internationale«, kurz »Komintern«, der 1919 gegründete internationale Dachverband aller sozialistischen Parteien Moskauer Prägung, propagierte diese Legitimation eifrig. Manchen Gruppen im Westen erschien die Rechtfertigung plausibel, desillusionierte Intellektuelle und leidende Arbeiter etwa begrüßten den kritischen Impetus gegen kapitalistische Ausbeutung.7 Doch erlangte die kommunistische Radikalisierung des Sozialismus – obwohl sie hier und da ein paar Aufstände zu entzünden vermochte – nie so ganz die Attraktivität, derer sie bedurft hätte, um die gemäßigteren Demokratiekonzepte zu verdrängen.

Die Demokratisierungswelle nach dem Ersten Weltkrieg zeitigte letztlich enttäuschende Ergebnisse, da die meisten neuen Regime an ungenügender Vorbereitung und widrigen Umständen scheiterten. Innerhalb Mittel- und Osteuropas bemächtigten sich gebildete Minderheiten, die sich früher, als die Imperien noch existierten, ausgeschlossen gefühlt hatten, im Namen der Selbstbestimmung der Beamtenapparate, während sich die bäuerliche Majorität lediglich nach einem besseren Leben sehnte. Dass sich so oft Demokratie mit Nationalismus verband, entzündete eine endlose Folge von Konflikten, denn die Minderheiten innerhalb der Nationen, die der Frieden geschaffen hatte, bekämpften die Bemühungen der neuen Regierungen um sprachliche und kulturelle Vereinheitlichung.8 Das Entstehen eines Dutzends neuer Nationalstaaten brachte neue Zollgrenzen mit sich, und die beschädigten bewährte Handelsbeziehungen. Die Kosten des Staatsaufbaus brachten die neuen Regime in den Bankrott. Zu guter Letzt war die Zivilgesellschaft noch zu schwach entwickelt, was der Intoleranz Vorschub leistete; demokratische Gebräuche hatte man noch nicht genügend eingeübt. Folglich wuchs das Verlangen nach einer starken Führung. Hervorgegangen aus einer Revolution oder einer Niederlage, stieß die Demokratie in Nachkriegseuropa auf enorme Hindernisse. Bestenfalls lässt sich befinden, dass die neuen Nationalstaaten dem Wunsch nach Selbstbestimmung entsprachen und durchscheinen ließen, was aus der Demokratie unter günstigeren Bedingungen in Zukunft werden konnte.9