Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Revolutionärer Utopismus

Im frühen 20. Jahrhundert musste Russland zwischen mehreren Wegen zur Moderne wählen, die jeweils eine spezifische Kombination aus Vorteilen und Belastungen mit sich brachten. Nachdem die Russen den Krim- und den Japankrieg verloren hatten, sahen bestimmte Vertreter der zaristischen Autokratie wie Graf WitteWitte, Sergej ein, dass das Land sich ökonomisch entwickeln musste. Nur dadurch konnte es militärisch stärker werden und mit anderen Mächten konkurrieren. Während die Befreiung der Leibeigenen die traditionelle, durch den Dualismus von adeligen Landgütern und bäuerlichen Kommunen gekennzeichnete agrarische Ordnung auflöste, schuf die rasche Industrialisierung ab den 1890er Jahren ein neues städtisches Proletariat. Die Herausforderung bestand nun darin, die notwendige Modernisierung zu gestalten, wenn auch nur defensiv und partiell. Die Wirtschaft sollte auf ein höheres Niveau kommen, aber ohne dass die sozialen Hierarchien erschüttert oder die administrativen Kontrollmechanismen des zaristischen Apparats geschwächt würden. Das paradoxe Projekt, mit dem westlichen Fortschritt gleichzuziehen, sich aber eine slawische Identität zu bewahren, scheiterte während des Ersten Weltkriegs, denn das widersprüchliche System erwies sich als nicht in der Lage, einen Zermürbungskrieg zu bestehen. Die autokratische »Modernisierung von oben« brachte wachsende Widersprüche hervor, bis die Modernisierer stürzten – und das zaristische System gleich mit zu Boden rissen.1

Die Bildung einer parlamentarischen Regierung nach der Februarrevolution 1917 eröffnete neue Möglichkeiten für eine graduelle Entwicklung hin zur Demokratie unter der Ägide der Mittelschicht. Die Provisorische Regierung bestand aus erfahrenen Duma-Abgeordneten, die eine Verfassung westlichen Stils erarbeiten wollten, um Rechtsstaatlichkeit und Selbstverwaltung sicherzustellen. Führende Geschäftsleute sowie Freiberufliche leisteten Hilfsdienste, und die Provisorische Regierung konnte auf den organisatorischen Sachverstand der in den semstwa zivilgesellschaftlich Engagierten zählen. Ihr ökonomisches Programm setzte sich Freiheit für die individuelle Initiative zum Ziel und einen Wettbewerbsmarkt, der, so vermeinten sie, weiteres dynamisches Wachstum anschieben werde. Aus der Furcht vor Anarchie und Chaos geboren, erzeugte dieses Szenario ein fatales Ungleichgewicht: Man kümmerte sich hauptsächlich darum, eine Verfassung zu entwickeln und das Privateigentum zu schützen, wenig aber um die Forderungen des Volkes nach besserer Versorgung mit Lebensmitteln und der Verteilung von Land an die Bauern. Der fundamentale Fehler der Provisorischen Regierung aber war ihre Entscheidung, den Krieg fortzusetzen, die sie die Unterstützung der erschöpften Massen kostete. Indem sie einen nationalistischen Kurs verfolgte, vertat die eben erst führende Kraft gewordene Bourgeoisie die Chance einer liberalen Entwicklung hin zur Moderne.2

Das Scheitern des liberal-evolutionären Weges ermöglichte die radikale Variante, den Versuch einer Modernisierung von unten durch Revolution. Die Bolschewiki gewannen den Wettbewerb unter den sozialistischen Parteien, weil sie versprachen, die unmittelbaren Wünsche der Massen zu erfüllen. Denn die populistischen Sozialrevolutionäre agitierten hauptsächlich für die Verteilung von Grund und Boden, während die Menschewiki die notwendige kapitalistische Entwicklung nur durch flankierende soziale Reformen mäßigen und mildern wollten. Da gedachten andere weiter zu gehen und kamen auch weiter: In seiner eine Revision des Marxismus vornehmenden Schrift Staat und Revolution befürwortete LeninLenin, Wladimir I. eine sozialistische Revolution, die sich die Errichtung einer Diktatur des Proletariats zum Ziel setzt. Mit diesem Buch lieferte der Chefideologe die theoretische Rechtfertigung für die bolschewistische Machtergreifung in Russland. Außerdem erwies sich sein pragmatischer Beschluss, nicht schon Anfang Juli eine Entscheidung zu erzwingen, sondern zu warten, bis sich die Situation Ende Oktober für die Gegenseite weiter verschlechtert hatte, letztlich als richtig.3 Obwohl die Bolschewiki das Jahr als Minderheit begonnen hatten – sogar innerhalb der Sowjets waren sie eine –, verfing ihre Parole »Brot, Land und Frieden« bei Arbeitern, Bauern und Soldaten, sodass sie ihre Anhängerschaft stetig vergrößern konnten. Der Erfolg ihres Coups verschaffte ihnen eine von der orthodoxen marxistischen Theorie für undenkbar gehaltene Gelegenheit, ihre sozialistischen Träume zu verwirklichen.

Die Bolschewiki begriffen, dass sie sich nur an der Macht halten konnten, wenn sie die Wirtschaft modernisierten, um ihr soziales Programm auch den Massen schmackhaft zu machen. Lenin selbst glaubte: »Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes«. Ab Februar 1920 realisierte daher eine Kommission der Sowjets, unterstützt von Wissenschaftlern und Ingenieuren, den »GOELRO-Plan«, der die Elektrifizierung Russlands zum Ziel hatte. Dafür wurde ein Netz aus dreißig regionalen Kraftwerken errichtet, wobei sowohl Kohle- als auch Wasserenergie zum Einsatz kamen. Die gigantische Anstrengung sollte binnen einer Dekade die Leistungskapazität auf das Vierfache dessen steigern, was Russland im letzten Jahr vor dem Krieg an Strom zur Verfügung gestanden hatte. Mit dieser raschen Elektrifizierung wollte Lenin »die Organisation der Industrie auf der Basis moderner, fortschrittlicher Technik« voranbringen sowie Stadt und Land verbinden, »um auch in den entlegensten Winkeln des Landes Rückständigkeit, Ignoranz, Armut, Krankheit und Barbarei zu überwinden«.4 Dies war ein klassisches Bekenntnis zum kommunistischen Weg in die Moderne; es enthielt das Versprechen, das Leben der Massen durch die Einführung industrieller Technik zu verbessern.

Die revolutionäre Modernisierung eröffnete Russland die Chance einer raschen Entwicklung – freilich um den Preis einer erschreckend hohen Zahl an Menschenleben. Laut MarxMarx, Karl stand nach dem Feudalismus ja eigentlich erst jene Gesellschaftsformation an, die er als Kapitalismus und bürgerliche Demokratie beschrieb. Die Sowjets übersprangen also eine ganze historische Phase, und dies erforderte viel Zwang, denn Prozesse wie die Alphabetisierung des gesamten Landes, die anderswo die Lebenszeit mehrerer Generationen gedauert hatten, mussten in wenigen Jahren durchgepeitscht werden. Für die Bolschewiki und die Intelligenzija, die sie unterstützte, waren Planung und Aufbau einer neuen Sowjetgesellschaft ein erregendes Projekt, dessen diktatorischer Charakter sich moralisch rechtfertigen ließ. Doch die Mehrheit des Volkes ersehnte diese utopische Transformation nicht unbedingt, sie wollte lieber ihr normales Leben in vorhersagbaren Umständen fortsetzen. Allzu bald wurde die Kehrseite der mit so viel Mühen herbeiforcierten Modernität sichtbar: Zwangsarbeit in der Industrie, viel Hunger auf dem Lande und ein System aus übers ganze Staatsgebiet verteilten Straflagern. Da sich kaum zwischen diesen grausamen Leiden und der tatsächlichen Verbesserung der Lebensbedingungen abwägen lässt, war die Beurteilung der Oktoberrevolution stets ein Streitobjekt und wird es auch noch für lange Zeit bleiben.5

Demokratische Hoffnungen


Präsident WilsonWilson, Woodrow prüft seine Truppen, 1918.

Am 8. Januar 1918 hielt Woodrow WilsonWilson, Woodrow vor beiden Häusern des US-Kongresses eine programmatische Rede, die als demokratischer Gegenentwurf zu LeninsLenin, Wladimir I. revolutionärer Botschaft gedacht war. Höchst eloquent breitete der Präsident ein in aller Diskretion vorbereitetes Konzept aus, das »Vierzehn Punkte« enthielt, die seiner Ansicht nach erfüllt sein müssten, damit der Große Krieg ein Ende finden und »die Welt für das Leben der Menschen tauglich und sicher gemacht« werden könne. An den diversen Geheimabsprachen zwischen den Alliierten hatte WilsonWilson, Woodrow sich nie beteiligt, was ihm einen überparteilichen Gestus erlaubte. Und so richtete er sein Statement über die Vorbedingungen einer friedlicheren Welt, das auf dem Gedankengut der amerikanischen Progressiven aufbaute, an die kriegsmüden Völker beiderseits der Front. Seine ersten Postulate lauteten: nur noch offene Diplomatie, freie Seefahrt, unbeschränkter Handel und Abrüstung – noble Forderungen, deren Durchsetzung freilich auch den Interessen Amerikas entgegenkam. In den nächsten Punkten ging es um unverzichtbare territoriale Regelungen, die die Entente begünstigten, ohne Deutschland unnötig zu demütigen: Russland müsse von den feindlichen Truppen komplett geräumt, Belgien wiederhergestellt und Elsass-LothringenElsass-Lothringen an Frankreich zurückgegeben werden; österreichische und osmanische Untertanen wiederum sollten die Chance auf »autonome Entwicklung« erhalten. Der Lösungsplan für einen »gerechten und stabilen Frieden« gipfelte in der Anregung, ein »allgemeiner Verband der Nationen« möge sich künftig um die Entschärfung von Konflikten kümmern.1

Als Verfechter der Demokratie machte der amerikanische Präsident eine imposante Figur; er wirkte gleichzeitig achtunggebietend und begeisternd. Woodrow WilsonWilson, Woodrow, schottisch-irischer Abstammung, war ein nüchterner Presbyterianer, der aber in öffentlichen Reden sein Publikum mitzureißen verstand. Er hatte Jura und Politik studiert sowie mit einer Dissertation über die Arbeitsweise des Kongresses und seinen Einfluss auf die Regierungspolitik der USAVereinigte Staaten promoviert. Dabei besuchte er renommierte Hochschulen wie die Johns Hopkins University und die Princeton University, deren Präsident er 1902 wurde. Als solcher baute er die Fakultät der Politischen Wissenschaften aus, modernisierte das Curriculum und ermunterte die Studenten, sich in den Dienst der Nation zu stellen. Schließlich ging er in die Politik und engagierte sich im fortschrittlichen Flügel der Demokraten. 1910 wurde er zum Gouverneur von New JerseyNew Jersey gewählt, nur zwei Jahre später gewann er die Präsidentschaftswahlen. Diesen Erfolg verdankte er seinem Ruf persönlicher Integrität und seiner Bereitschaft zu Reformen, die sein Programm »Neue Freiheiten« bezeugte. 1916 wurde er für eine zweite Amtszeit wiedergewählt – hauptsächlich, weil er das Land aus dem Krieg herausgehalten hatte. Als kundiger Demokratietheoretiker und erfahrener Politiker ging WilsonWilson, Woodrow mit dem Idealismus des Progressive Movement die Aufgabe an, ein vom Kriege zerrissenes Europa zu befrieden.2

 

Um etwas anderes aufzubieten als traditionelle Machtpolitik, befasste sich die »Kriegszielerklärung« des Präsidenten mit drei Problembereichen, die seines Erachtens unbedingt zu beachten waren, wenn man eine stabile Nachkriegsordnung wollte. Im Einzelnen erwägt Wilsons Text das Folgende: Da die zurückkehrenden Soldaten bestimmt ihre Teilhaberechte als Staatsbürger einfordern würden, sollte erstens um des inneren Friedens willen die parlamentarische Autonomie ausgeweitet werden. Das Aufkommen der Massenpolitik machte in Westeuropa Reformen, in Mittel- und Osteuropa offenbar revolutionäre Veränderungen notwendig. Zweitens verlangten aufstrebende Völkerschaften, beflügelt von den vielen nationalen Bestrebungen, lautstark nach der Chance, eigene Nationalstaaten zu gründen. Daher sei die schlussendliche Auflösung der drei multiethnischen Imperien in Eurasien nötig – des zaristischen, des österreichischen und des osmanischen. Drittens und letztens werde, da Handel, Verkehrswege und Kommunikation über nationale Grenzen hinweg mehr und mehr an Bedeutung gewönnen, eine Institutionalisierung der internationalen Kooperation unerlässlich, um die neuen Länder zur Zusammenarbeit zu bringen. Ironischerweise ging Letzteres übrigens nicht ohne die Beschneidung der Souveränität jener Staaten, die selbige eben erst frisch errungen hatten. Die Prinzipien, die WilsonWilson, Woodrow hier aufstellte, sahen eine fundamentale Revision der nationalen und der internationalen Ordnung vor – aber sie waren immer noch moderater als das sowjetische Programm, denn es bedurfte zu ihrer Umsetzung keiner sozialen Revolution.3

Obwohl einige Skeptiker sich entsetzt zeigten, verbreitete WilsonsWilson, Woodrow Programm bei den erschöpften Völkern der betroffenen Staaten weithin Hoffnung, versprach es doch einen Kompromiss zur Beendigung des Krieges. Verteidiger der traditionellen Ordnung wie der britische Diplomat Harold NicolsonNicolson, Harold verurteilten WilsonsWilson, Woodrow neue Diplomatie der »offenen Friedensvereinbarungen« freilich als naiv und schwerlich nachhaltig. Bolschewistische Radikale wie Leo TrotzkiTrotzki, Leo betrachteten dieses bourgeoise Programm als zu halbherzig, um an die Wurzeln des imperialistischen Problems zu rühren.4 Der demokratischen Linken beiderseits der Front hingegen erschienen Wilsons Positionen zu den territorialen Fragen konstruktiv, weil sie auf eine moderate Möglichkeit verwiesen, den Stillstand aufzubrechen, in den exzessive Kriegsziele hineingeführt hatten. Da ihnen die chauvinistische Rhetorik der Kriegspropaganda ein Gräuel war, zeigten sich die kritischen Intellektuellen ferner fasziniert von den innovativen Prinzipien, die aus Wilsons Text sprachen. Sie sahen darin eine Planskizze zum Aufbau einer dauerhaften europäischen Nachkriegsordnung. Positiv reagierte auch die deutsche Führungsriege: Als man einsah, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, ergriff man bereitwillig WilsonsWilson, Woodrow ausgestreckte Hand. So ließen sich vielleicht schärfere Bedingungen vermeiden, wie man sie von den kontinentalen Antagonisten befürchtete.5

WilsonsWilson, Woodrow Vision beschrieb einen liberalen Weg zur Moderne hin. Er wollte die Hoffnung auf den Fortschritt wiederbeleben und dafür Europa demokratisieren. Die Völker äußerten vielfach den Wunsch nach Demokratie, und WilsonWilson, Woodrow reagierte darauf, indem er Selbstverwaltung befürwortete. Er wollte eine neue Begeisterung für parlamentarische Systeme erzeugen, die den Massen die Teilhabe an Politik ermöglichen würden. Ethnisch gesehen bedeutete Selbstverwaltung nun Selbstbestimmung oder Autonomie; und so versuchte der Präsident auch unterjochte Völker aus autokratischer Herrschaft zu befreien, indem er sie ermutigte, Nationalstaaten zu gründen. Bestimmten Bestrebungen des bürgerlichen Internationalismus kam er mit der Idee entgegen, einen »Völkerbund« zu errichten: Dieser sollte einen weiteren Weltkrieg verhindern und die Bande des Friedens festigen, indem er etwaige Streitigkeiten schlichtete. Einerseits richtete sich dieser mitreißende Plan gegen die Autokratien, indem er vorsah, landgestützte Imperien durch demokratische Nationalstaaten zu ersetzen. Andererseits war WilsonsWilson, Woodrow Lösungsversuch eine Alternative zur sozialen Revolution bolschewistischer Manier, da er auf freiem Handel und Privateigentum beharrte.6 Dieses liberale Programm präsentierte den Bauplan der Moderaten für Frieden und Wohlstand.

Deutschland kollabiert

Damit die Demokratie sich verbreiten konnte, musste zunächst einmal die autoritäre Variante der Modernisierung, die die Mittelmächte repräsentierten, auf dem Schlachtfeld besiegt werden. Die Alliierten kämpften, zumindest vorgeblich, für die universellen Werte der westlichen Zivilisation, zu denen nach ihrem Verständnis individuelle Freiheit, parlamentarische Regierungsform und Marktwettbewerb gehörten. In ihrer Praxis allerdings trübten Imperialismus, Rassismus und Ausbeutung das positive Bild. Im Gegensatz dazu behauptete die deutschlandgeführte Koalition, eine ernsthaftere »Kultur« zu verkörpern; sie war charakterisiert durch einen Autorität ausstrahlenden Beamtenapparat, militärische Effizienz und soziale Wohlfahrt. Schon 1915 hatte der amerikanische Soziologe norwegischer Herkunft Thorstein VeblenVeblen, Thorstein auf eine spezifische Diskrepanz innerhalb des imperialen Deutschlands hingewiesen: Er sah einerseits eine beachtliche wissenschaftliche und technische Modernität, andererseits eine unterentwickelte, dem Fortschritt hinterherhinkende Selbstverwaltung, in der die höchste Entscheidungsmacht dem Kaiser vorbehalten bleibe und das Militär mehr Mitspracherecht habe als in den Demokratien. Anstatt aber den Westen zum Standardmaßstab zu nehmen und zu befinden, dass in Deutschland nur eine »partielle Modernisierung« vollzogen wurde, fand VeblenVeblen, Thorstein es erhellender, das deutsche Modell als alternativen, eigenen Weg innerhalb der vielfältigen westlichen Tradition zu verstehen.1 Da die liberale Variante der Modernität indes flexibler auf die strategischen Herausforderungen, die soziale Nivellierung und die Erosion der alten Herrschaft zu reagieren vermochte, erwies sie sich letztendlich als der autoritären überlegen.

Während die alliierten Führer auf ihren Materialvorteil vertrauen und abwarten konnten, wagte die deutsche Oberste Heeresleitung einen verzweifelten Versuch, doch noch die drohende Niederlage abzuwenden. Haudegen Erich LudendorffLudendorff, Erich hatte geplant, die antidemokratischen Kräfte daheim durch Eroberungen im Osten zu stärken. Nun war Russland kollabiert. Dies sah der OHL-Chef als Chance für den Kampf im Westen; also entsandte er flugs fünfzig Divisionen nach Frankreich, bevor amerikanische Verstärkung eintraf und die Moral der eigenen Truppen bröckelte. Es müsse nun schnell gehen, glaubte LudendorffLudendorff, Erich: »Die Lage bei unseren Bundesgenossen und bei uns sowie die Verhältnisse des Heeres«, schrieb Ludendorff später rückblickend, »erheischten einen Angriff, der eine baldige Entscheidung brachte.« Ab dem 21. März 1918 lancierte die deutsche Armee eine Reihe von Attacken, vier insgesamt, gegen die Westfront, in der Hoffnung, Briten und Franzosen zu trennen sowie Paris einzunehmen. Mit neuen Taktiken wie Stoßtrupps und rollendem Artilleriefeuer überrannten die Angreifer die alliierten Gräben und machten beeindruckende Geländegewinne, was beim kaiserlichen Heer die Illusion erweckte, es lasse sich der initiale Vormarsch von 1914 wiederholen. Die finale Offensive am 15. Juli jedoch verfehlte ihr Ziel, da sie die alliierten Linien zwar hier und da eindellte, aber nirgends komplett durchbrach. Indem sie auf Sieg setzten, verloren die Deutschen, denn nun hatten sie ihre letzten Reserven verbraucht.2

Das Scheitern der LudendorffschenLudendorff, Erich Offensive beschleunigte das Ende des Krieges, denn es spielte die strategische Initiative zurück in die Hände der Alliierten. Zwar erlitten beide Seiten ungefähr gleich hohe Verluste, aber die Mittelmächte hatten größere Schwierigkeiten als die Entente, verlorene Männer und Waffen zu ersetzen. Auf lange Sicht zeigte sich, dass die alliierten Ressourcen an Wehrmaterial und Personal doch der entscheidende Faktor waren, den BerlinBerlin auch mit hervorragender Ausbildung nicht mehr wettmachen konnte. Während die deutschen U-Boote dank des Konvoisystems ihre Bedrohlichkeit einbüßten, erreichten auf der Gegenseite mehr und mehr Granaten, Gewehre, Kanonen, LKWs und anderes Gerät die Westfront. Außerdem transportierten umfunktionierte Passagierdampfer soeben ausgebildete und kampfhungrige Soldaten aus den Vereinigten Staaten in wachsender Zahl auf die europäischen Schlachtfelder. Anders als die entmutigten französischen und britischen Veteranen, denen es nur noch ums bloße Überleben ging, parierten frisch aus IowaIowa hergebrachte Bauernjungen aufs Wort, sobald sie den Befehl hörten, »rauszugehen« und die deutschen Linien zu attackieren, koste es, was es wolle. Schließlich trugen auch bestimmte Fortschritte in der Militärtechnik – die alliierten Truppen hatten rund achthundert neue Panzer zur Verfügung, einsetzbar als effektive Unterstützungsplattform für die Infanterie – das Ihre dazu bei, das Blatt zu wenden.3

Die Hundert-Tage-Offensive der Alliierten im Sommer und Herbst 1918 erwies sich als die entscheidende Wende, die den Krieg überraschend schnell beenden sollte. Zwar hatte schon Mitte Juli der französische General FochFoch, Ferdinand nahe ReimsReims einen Angriff durchgeführt, bei dem er einigen verlorenen Boden zurückgewann. Aber erst als fünfhundert britische Panzer bei Amiens vorpreschten, die geschwächten deutschen Divisionen überrannten und sie zum hastigen Rückzug zwangen, kam die endgültige Wende: Der 8. August 1918 ging – nach einem Ausspruch des OHL-Chefs – als »schwarzer Tag des deutschen Heeres« in die Geschichte ein. Diese unerwartete Niederlage brachte LudendorffLudendorff, Erich zu der Einsicht, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei. Seine Divisionen waren dezimiert, und seine verbliebenen Soldaten hatten nun ein offenes Ohr für die Friedenspropaganda der radikalen Linken; immer weniger wollten noch kämpfen. Mit frischem Elan kassierten die attackierenden Alliierten die Frontausbuchtungen wieder ein, die den Deutschen im Frühjahr gelungen waren, und zwangen die kaum noch leistungsfähigen feindlichen Streitkräfte, hinter der befestigten »Siegfriedstellung« Deckung zu nehmen. Obwohl sie heftige Verluste erlitten, durchbrachen die gemeinsamen Sturmläufe der Alliierten schließlich auch dieses verzweifelt verteidigte Grabensystem. Ende September musste sich die Oberste Heeresleitung angesichts des unaufhaltsamen Vormarsches der Entente und der Abwendung der Verbündeten BerlinsBerlin eingestehen: Der Krieg war verloren.4

Angesichts der bevorstehenden Niederlage, die sich so lange hinter schönfärbenden Militärbulletins hatte verbergen lassen, blieb der Führung des Deutschen Reiches nichts übrig, als Friedensverhandlungen einzuleiten. Schon im Juli 1917 hatte eine kritische Mehrheit im Reichstag für eine Resolution gestimmt, die einen Frieden »ohne Annexionen und Reparationen« verlangte. Aufgrund ihres militärischen Versagens konnten die Quasi-Diktatoren HindenburgHindenburg, Paul von und LudendorffLudendorff, Erich nicht mehr verhindern, dass Forderungen laut wurden, es müsse »ein vollständiger Systemwechsel eintreten« und eine parlamentarische Regierung gebildet werden mit einem reformwilligen Kanzler, Prinz Max von BadenBaden, Max von. Die OHL selbst sah ein, dass »die Fortsetzung des Krieges als aussichtslos aufzugeben« war, sodass die Zivilregierung »an den Präsidenten WilsonWilson, Woodrow mit dem Ersuchen um Waffenstillstand und Frieden« herantrat. Da sie sich von ihren Offizieren verraten fühlten, ließen vielerorts deutsche Soldaten zu Lande und zur See Disziplin Disziplin sein und drängten außerdem auf die sofortige Einstellung der Feindseligkeiten.5 Folglich musste die deutsche Armee, obwohl sie immer noch Teile NordfrankreichsNordfrankreich und Belgiens besetzt hielt, kapitulieren, denn weiterzukämpfen war sie nicht mehr fähig. Da man sich Hilfe von WilsonWilson, Woodrow erhoffte und revolutionäre Propaganda von unten fürchtete, bat BerlinBerlin tatsächlich um einen Waffenstillstand.

 

Die entsprechende Vereinbarung wurde am 11. Oktober 1918 in einem Salonwagen der französischen Eisenbahn bei CompiègneCompiègne unterzeichnet. Sie beendete aber nur die offiziellen Feindseligkeiten, keineswegs alle Gewalt zwischen einzelnen Staaten oder in diesen. Die strikten Bestimmungen des Vertrages – Rückzug aller deutschen Truppen in ihre Heimatbasen, Internierung aller Kriegsschiffe, Herausgabe allen schweren Wehrmaterials – sollten dem Deutschen Reich die Möglichkeit nehmen, weiterhin bewaffneten Widerstand zu leisten.6 Der Verlauf mehrerer Grenzen in Mitteleuropa und auf dem BalkanBalkan blieb jedoch ungeklärt. Entsprechende Streitigkeiten gab es namentlich in Gebieten mit ethnisch gemischter Besiedelung; dort kämpften dann Freikorps bzw. Einheiten lokaler Milizen darum, der eigenen Volksgruppe Territorien zu sichern. Außerdem führten diverse Konflikte in Osteuropa – der Russische Bürgerkrieg, die alliierte Intervention in Russland und der Russisch-Polnische Krieg – noch einige Jahre lang zu Waffengängen größeren Umfanges. Manche Regionen, etwa die UkraineUkraine, die unabhängig zu sein wünschten, verloren nicht nur schon bald ihre Freiheit, sondern sie wurden auch zwischen verschiedenen Mächten hin- und hergereicht. Gleichzeitig erlebten mehrere Länder innere Streitigkeiten, die gewaltsam eskalierten; so gab es kommunistische Erhebungen in BudapestBudapest und MünchenMünchen, aber auch rechte Militärcoups wie den Kapp-Putsch in BerlinBerlin. Anders als der Mythos behauptet, der bis heute an den Feiertagen, die des Waffenstillstands gedenken, dargeboten wird, dauerte es noch fast ein halbes Jahrzehnt, bis wirklich überall in Europa die Waffen schwiegen.7

Nachdem der Alptraum namens Krieg endlich vorbei war, sahen sich Sieger und Verlierer gleichermaßen vor der enormen Aufgabe, die Staatsmaschinerie aus dem Kriegs- wieder in den Friedensmodus zu schalten. Laut Schätzungen waren rund 10 Millionen Soldaten im Kampf gefallen und 23 Millionen verwundet worden, während 7,5 Millionen Zivilisten zu Tode gekommen waren – ein irreparabler demografischer Aderlass.8 Schwere Zeiten für Regierende wie Regierte. Erstere mussten die Demobilisierung organisieren, denn die Soldaten heimzubringen und ihrer Uniformen zu entledigen, erforderte eine komplizierte Logistik. Trainierte Killer zu gewaltabstinenten Zivilisten zu machen, erwies sich ebenfalls als recht schwierig. Damit genügend Arbeitsplätze für Veteranen zur Verfügung standen, musste der Staat die Wirtschaft dazu anhalten, umzudisponieren: Sie stellte nun kein Kriegsgerät mehr her, sondern wieder Konsumgüter, weshalb z. B. Stahlhelme zu Kochtöpfen konvertiert wurden. Was die Regierten betraf, so hegten die Untertanen in den Siegerländern eine gewaltige Hoffnung auf eine Friedensdividende; die in den Verliererstaaten mussten schlicht zusehen, wie sie mit den erlittenen Verlusten umgingen. Zurückgekehrte Soldaten, aber auch Frauen, die an der Heimatfront gedient hatten, verwiesen auf die physischen und mentalen Opfer, die sie hatten bringen müssen, und verlangten deutlichere Anerkennung – die sie teilweise in Gestalt von mehr politischen Rechten und einer besseren sozialen Versorgung auch erhielten. Dieser Übergang zum Frieden wurde dadurch erschwert, dass die Eliten die gesellschaftlichen Hierarchien so wiederhaben wollten, wie sie vor dem Kriege waren. Derweil riefen die leidenden Massen nach demokratischen Reformen, wenn nicht gar nach einer sozialistischen Revolution.9