Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater

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1.5.3.4.4. Installationskunst

Juliane Rebentisch stellt in ihrer Ästhetik der Installation fest: „was unter dem Begriff der Installation entsteht, sind weniger Werke denn Modelle ihrer Möglichkeiten, weniger Beispiele einer neuen Gattung denn immer neue Gattungen.“1 Ein Merkmal von Unbestimmbarkeit wohnt der Installationskunst grundlegend inne. Dieser Unbestimmbarkeitsfaktor drückt sich vor allem in Form eines Überschreitens von Gattungsgrenzen sowie Kunstgrenzen aus und entkommt jeglicher allgemeingültigen Differenzierung von Kunst und Nichtkunst. Nach Rebentisch stellt Installation nachdrücklich den jeweiligen Kontext ästhetischer Erwartungen infrage, der über das entscheidet, was Kunst ist, und widersetzt sich paradigmatisch der Idee ästhetischer Werkautonomie.2 Die Installation kann eine institutionskritische Selbstbefragung und Selbstreflexion ermöglichen, weil die Beobachterperspektive dabei aufgelöst ist, weil jedermann eine gesellschaftliche Positionierung bzw. Institutionalisierung vertritt:

Installation ist ein Medium mit ausgedehnten Möglichkeiten für Ausdruck und Ermittlungen. Da ist kein Rahmen, der die Kunst vom Betrachter trennt; das Werk und der Raum schmelzen zur Annäherung an eine Lebenserfahrung zusammen […]. Die Installation spielt eine wichtige Rolle in der Kunstgeschichte und dem Charakterwechsel des Museums von heute. Dieser Kunstbereich erhält durch ihre weltweite Bedeutung universellen Sinn und ist dadurch demokratisiert.3

1.5.3.4.5. Aktionskunst oder Aktionismus

Die Aktionskunst entsteht mit dem Bestreben, die Kunst nicht mehr als eine Aktivität zu verstehen, die autonom und von der Lebenspraxis abgehoben bzw. isoliert ist. Die Idee oder das Programm der Aktionskunst besteht darin, einerseits neue bzw. andere künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten zu erschließen und andererseits die etablierten Gattungsgrenzen zu destabilisieren und zu erweitern. Einer der zentralen Punkte der Aktionskunst liegt darin, dass kein Kunstwerk am Ende der Aktion als fertiges und nachvollziehbares Kunstobjekt geschaffen wird. Der Flüchtigkeitscharakter wohnt der Aktionskunst inne, die nur im Augenblick bzw. im Prozess des realen Geschehens eine Existenz beansprucht. Dabei ist von besonderer Wichtigkeit, dass Künstler_innen und Publikum an dem Vorankommen des künstlerischen Ereignisses in bestimmter Art und Weise aktiv beteiligt sind. Da keine (klare) Trennungsgrenze zwischen Künstler_in und dem teilnehmenden Publikum definiert wird, sind alle Anwesenden in den Entstehungsprozess des Kunstwerkes, das als gemeinsam geschaffenes Kunstwerk gilt, involviert. „Verfolgt man die Entwicklungslinie der Aktionskunst, dann sind wichtige Voraussetzungen im Dadaismus, in der ‚serata‘ der Futuristen, im Bauhaustheater, im surrealistischen Film sowie in den subjektiv-gestischen Entäußerungen von Informel und Action Painting zu finden.“1 Die Nachkriegszeit ist für diese institutionskritische Aktionskunst entscheidend gewesen. Die Aktionskunst oder der Aktionismus bezeichnet Handlungen, die sich an kritischen Absichten ohne klare Verständnis- sowie Zielorientierung ausrichten. Festzuhalten ist jedoch, dass die Aktionskunst eine Kritik an jenen politischen, soziokulturellen und ökonomischen Verhältnissen übt, die eine unmittelbare Aktualität in der Gegenwart haben. Aktionismus ist vom lateinischen Begriff actio abgeleitet und bedeutet „Handlung“ – nicht im aristotelischen Sinn, sondern performativ handlungsorientiertes Tun. Aktionismus reduziert die zu vermittelnde Botschaft auf das Wesentliche, das in dramatisierender, irritierender sowie provokativer Form mediengerecht dargeboten wird. Dadurch bestreben die Künstler_innen des Aktionismus, aktuelle Zustände in Gesellschaft, Kunst oder Literatur durch gezielte Aktionen zu verändern.

1.5.3.5. Unterscheidungsversuch der institutionskritischen Kunstformen

Performance, Happening, Fluxus, Aktionismus und Installation entstanden in den 1950er- und 1960er-Jahren des 20. Jahrhunderts und sind von institutionskritischen Vorgehensweisen gegenüber dem Mainstreamverständnis von Kunst und dem Kunstproduktions- und Rezeptionsapparat geprägt. Es ist deshalb nicht leicht, sie voneinander zu unterscheiden. Ein künstlerisches Ereignis könnte in einer Aufführung (siehe Orgien-Mysterien-Theater und Aktion 18, „tötet Politik!“) Merkmale von allen angeführten Kunstrichtungen aufweisen. So entspringen Fluxus und Happening den gleichen Wurzeln der John-Cage-Klasse in New York, in der sowohl Allan Kaprow (Happening-Künstler) als auch Dick Higgins (einer der Vertreter der Fluxus-Bewegung) Schüler waren. Darüber hinaus wirkten Künstler_innen der Fluxus-Bewegung in Happening-Gruppen mit – wie z.B. Dick Higgins, der sich bei Allan Kaprows 18 Happenings in 6 Parts beteiligt hatte. Dennoch kann man anmerken, dass man diese Kunstrichtungen einigermaßen voneinander ausdifferenzieren könnte. Das entspräche einem akademischen sowie verwirrenden Unterfangen: Für Sarah Higgins ist Happening eine expressive und symbolhafte Ausformung der Aktionskunst und steht dem Action Painting nahe. Ihr zufolge ist Fluxus eine nicht symbolhafte, antiexpressionistische und formfreie Kunst2 sowie im Sinne George Maciunas eine antiprofessionelle Kunst. In Gegensatz zu Fluxus, der mit Fluxkit und Events auf alle menschlichen Sinneswahrnehmungen fokussiert, ist die Form von Happening eine prozessual theaterhafte Kunstform, die sich dennoch vom klassischen Theaterverständnis distanziert: so wird etwa beim Happening das Publikum, dessen Reaktion erwünscht ist, ins Geschehen involviert. In Fluxus-Events wird das Publikum nicht einbezogen, da eine Trennlinie zwischen Künstler_innen und Zuschauer_innen besteht. Während sich die Fluxus-Events vorwiegend an Alltagshandlungen und Zufällen anlehnen, laufen Happenings nach einem bestehenden Plan. Die Performance wiederum vereint hier beides: kalkulierte Alltagshandlungen, die während der Durchführung unvorhersehbar werden können. Fluxus und Happening weisen in ihrer Durchführung einen performativen Charakter auf. In einer Performance – zum Teil im Aktionismus (man denke in diesem Zusammenhang an den Wiener Aktionismus) – ist der Körper der Künstler_innen und/oder der Körper von anderen als künstlerisches Arbeitsmaterial zentral, das je nach Prägung in ein Kunstobjekt verwandelt wird. Wird der künstlerische Umgang mit dem menschlichen Körper so weit getrieben, dass ihm Schmerzen, Verletzungen etc. zugefügt werden, balanciert die Performance in Richtung Body Art. In diesem Zusammenhang wird das Publikum nicht involviert, aber es kann – wie in Abramovics Performance – intervenieren, um die Performance zu beenden. Genauso wie die Performance lässt sich der Raster von der Installationskunst nicht deutlich definieren. Installation dehnt vor allem die künstlerischen Ausdrucks- und Ermittlungsmöglichkeiten, löst die Beobachterperspektive auf, bringt Betrachter_in, Raum und Objekte prozessual zusammen, sodass sie verschmelzen.

Die Strategien der institutions- und sozialkritisch künstlerischen Ausdrucksformen von Fluxus, Installation, Aktionismus, Happening und Performance werden im Orgien-Mysterien-Theater und in der Aktion 18, „tötet Politik!“ auf radikalisierte Art und Weise eingesetzt, wie es in vielen gegenkulturellen Tendenzen im postdramatischen Theaterverständnis auszumachen ist.

TEIL II: Das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik!“

2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater
2.1.1. Hermann Nitsch: eine kommentierte Biografie

Begleitet sowohl von Faszination als auch von Irritation hat sich Hermann Nitsch längst mit seinem institutions- sowie zivilisationskritischen Orgien-Mysterien-Theater in der internationalen Kunstszene einen Platz geschaffen. Nitsch und das Orgien-Mysterien-Theater sind wie der Ausdruck einer „Einheit von Kunst und Leben […], eine unendliche Geschichte“:1 Sein Leben und seine Kunst greifen ineinander und schließen einander nicht aus. Wenn vorausgesetzt wird, dass man weiß, was Leben ist und was Kunst ist, dann sollte man in Bezug auf Nitsch und sein Theater die Trennung von Leben und Kunst überdenken.

Geboren am 29. August 1938 in Wien, wurde Hermann Nitsch ab dem fünften Lebensjahr von seiner Mutter allein erzogen, nachdem sein Vater im Zweiten Weltkrieg gefallen war. Von 1953 bis 1958 machte er eine Ausbildung für Gebrauchsgrafik an der Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien. Schon 1957 fing er an, die Konzeption seines Orgien-Mysterien-Theaters zu entwickeln, welches ihn von diesem Zeitpunkt an unablässig beschäftigte. Zugleich ist das Orgien-Mysterien-Theater bis heute „der Idee nach schon lange vollendet und dennoch nicht abgeschlossen, vielleicht sogar niemals abschließbar […], in vollem Wortsinn ein Lebenswerk.“2 Von Anfang an verstand sich seine aktionistische Kunsttätigkeit als institutionskritisches Ausdrucksmittel sowohl gegen herkömmliche Darstellungs- und Abbildungsästhetik als auch gegen Verdrängungen der damaligen konservativen Kulturpolitik in Österreich. Dies alles ging mit lebensbezogenen Konsequenzen Hand in Hand: Von 1960 bis 1968 zog seine Aktions- und Ausstellungstätigkeit in Wien mehrere strafrechtliche sowie polizeiliche Verfolgungen und Gefängnisstrafen nach sich.3 In der Tat lag es nahe, Nitsch und sein Theater mit der Vermutung einer „Mordmotivation“ zu assoziieren. In Anspielung auf den Wiener Opernmord an einem Ballettmädchen, der damals mit der Nitsch-Aktion in Verbindung gebracht wurde, behauptete Nitsch, dass wer Aktionen mit Fleisch, Gedärmen und Blut durchführe, dürfe sich nicht wundern, wenn die Polizei ihm des Mordes für fähig halte.4 Dass er sich bei der Verwirklichung seines Theaters große Schwierigkeiten einhandeln würde, war ihm bereits am Anfang seiner künstlerischen Laufbahn bewusst. Seine erste Aktion, die am 19.12.1962 stattgefundene „Kreuzigung und Beschüttung eines menschlichen Körpers“,5 hatte für ihn Konsequenzen: Er fing damit an, seine Aktionen systematisch zu nummerieren, als ob er sehen möchte, wie viele Aktionen ihm trotz der bevorstehenden Hürden gelingen würden.

 

Mit seinem aktiven Mitwirken am Wiener Aktionismus steckte Nitsch zudem in einem realen Spannungsbogen: Er und die anderen Protagonisten des Wiener Aktionismus, die sich mit Tabus, erotischen/sexuellen Extremzuständen, Verletzungen und Tod künstlerisch auseinandersetzten,6 setzten sich einer gesetzlichen Strafe aus. Dies bezeugen die strafrechtlichen Verfolgungen und Exile nach der Aktion „Kunst und Revolution“ (1968) sowie das Ende des Wiener Aktionismus. Hingegen nahm die Zahl der Aktionen sowie Malaktionen von Nitsch zu, mit denen er rasch international berühmt wurde. Im September 1966 nahm er an dem „Destruction in Art Symposium“ (DIAS)7 teil. Auch dort betrat kurz vor Ende von Nitschs 21. Aktion die Polizei mit zehn Mann den Raum, brach die Veranstaltung ab und forderte die Herausgabe des während der Aktion projizierten Filmes, der eine Penisbespülung zeigte. Nitsch wurde einer Leibesvisitation unterzogen.8 Doch hatte ihm seine Teilnahme an DIAS Türen für weitere internationale Auftritte geöffnet: Seine 25. und 26. Aktion hielt er 1968 in der Film-Makers‘ Cinematheque in New York City, wo er selber auftrat. Seitdem erfolgten weitere internationale Aktionen in New York, München und Köln. Sein internationaler Erfolg ermöglichte es ihm, 1971 das Schloss Prinzendorf anzukaufen, das zum Zentrum der weiteren Entwicklung seines Theaters wurde. Bei genauerer Betrachtung stehen die Jahre von 1968 bis 1971 für die Periode, in der der Wiener Aktionismus sowohl seinen Höhepunkt als auch sein Ende erlebte. Zugleich entspricht auch diese Periode dem entscheidenden Startpunkt des Erfolgs und der Weltberühmtheit von Nitsch und seinem Orgien-Mysterien-Theater.9 Ab diesem Zeitpunkt hat sich Nitsch nachhaltig mit zahlreichen Auszeichnungen im internationalen Kunstbetrieb etabliert.10 Trotz dieser Auszeichnungen und seines internationalen Ranges in der Kunstszene scheiden sich bis heute noch weiterhin die Meinungen über sein Theaterkonzept. So stößt Nitsch nach wie vor auf Kritik und Erregung der Öffentlichkeit innerhalb wie außerhalb von Österreich – vor allem wegen seines Umgangs mit christlich-religiösen Symbolen und wegen der Verwendung von Tierkadavern. Es gilt in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass Nitsch in seinem Theater nicht nur Gebrauch von allen grundlegenden Praxen der bereits geschilderten Formen der Installations-, Happenings-, Aktions- und Performancekunst sowie von Fluxus macht. Er radikalisiert sie zugleich. Seines Erachtens sind z.B. die Möglichkeiten der unter dem Begriff Happening zusammengefassten Aktionen in den 1960er-Jahren zu wenig genützt worden. Ihm zufolge sei die Konfrontation mit unserer eigenen existentiellen Wirklichkeit zu oberflächlich geschehen und alles habe eine spielerische Leichtigkeit gehabt. Mit Rückgriff auf diese Kunstformen institutionskritischen Ausdrucks geht es ihm darum, durch intensives Erleben andere ästhetische Wirklichkeitsbereiche zu erfinden, die auf die Weite unserer mystischen Existenzmöglichkeit hinweisen sollten.11

Diese Analyse beschränkt sich überwiegend auf die institutions- und zivilisationskritischen Aspekte von Nitschs Theaterkonzept, das alle bisher institutionell sowie konventionell tradierten Rahmenbedingungen der Kunst erschüttert hat: „das direkte gestalten mit der wirklichkeit wurde nitsch zum obersten gebot“,12 um eine andere Dimension der gesellschaftlichen Rolle der (Theater-)Kunst zu schaffen – durch die prozessuale Hervorbringung und reale Erfahrung emotionsgeladenen und affektiven Ausdrucks, der sich einer sinnlich überladenen Sprache sowie eines Geschmacks- und Geruchsrituals13 bedient. Nitschs Theater ist umfangreich und geht entsprechend mit der Aufforderung zu anderen Wahrnehmungs- und Rezeptionsweisen Hand in Hand.

Der nun folgende Teil widmet sich eingehender dem Verhältnis zwischen Nitschs Theaterkonzept und den spätmittelalterischen geistlichen Spielen sowie dem institutions- sowie zivilisationskritischen Anteil des Orgien-Mysterien-Theaters. Da sein Theateransatz als Gesamtkunstwerk sehr umfangreich ist, wird aus postdramatischer Perspektive die Beziehung zur Institution Theater sowie zur christlichen Religion sowie den christlich-religiösen Bräuchen und der Zivilisation, zur Lebenswelt und zu tragischer Erfahrung erörtert. Es geht erstens darum, das Orgien-Mysterien-Theater mit der aktuellen soziokulturellen Situation in Verbindung zu bringen. Dadurch wird gezeigt, dass der Anteil der Institutions- und Zivilisationskritik eine zentrale Rolle spielt. Zweitens wird in diesem Teil der Arbeit auf institutionskritische Teilentwicklungen des Orgien-Mysterien-Theaters eingegangen: von der klassischen Malerei bis zum Aktionstheater, vom klassischen/dramatischen bis zum aktionistischen Theatermodell. Drittens wird Nitschs Kritik am Modell des klassischen Theaters diskutiert. Dabei wird seine Synästhesie als Kritik- sowie Transgressionsmittel und als Weg zu Wirklichkeitsbereichen seines Theaters verdeutlicht. Viertens befasst sich diese Analyse mit Nitschs szenisch-performativer institutionskritischer Reaktion auf die christliche Religion bzw. die Passion Christi, die er zur Passion des Gegenwartsmenschen macht. In diesem Zusammenhang wird sein Theater als ästhetische und selbstreferenzielle Zeremonie kulturellen Zelebrierens aus postdramatischer Sicht veranschaulicht. Dabei analysiert diese Studie, wie Nitsch mit dem performativ-zeremoniellen Reflektieren über den menschlichen Körper umgeht. Fünftens geht die Untersuchung auf das Verhältnis des Orgien-Mysterien-Theaters zu den spätmittelalterlichen Passionsspielen ein. Sechstens untersucht diese Dissertation den Anteil der Zivilisationskritik und der ästhetisch transformativen Erfahrung in Nitschs Theater, das fremd gewordene Erfahrungen ritueller theatraler Kulturpraktiken der griechischen Antike wiederherstellt. Diesbezüglich wird in dieser Arbeit der Begriff Urtheatralisierung eingeführt, um eine Vorgehensweise zu bezeichnen, die im Verhältnis mit dem Sinn der performativen Opferhandlung in voraristotelischer Theaterpraxis steht. Im Anschluss daran wird auf die literarische Transformation voraristotelischer Theaterpraxen eingegangen. Siebtens behandelt dieser Teil die Verstrickung des menschlichen Körpers mit Tierkadavern und der Dingwelt als Mittel zur transformativen Körpererfahrung im Orgien-Mysterien-Theater.

2.1.2. Schloss Prinzendorf: Zentrum und Schauplatz des Orgien-Mysterien-Theaters

Während Nitsch seit Anfang der 1960er-Jahre an seinem Theaterkonzept performativ arbeitet, findet erst ab dem Sommer 1998 die erste vollständige Aufführung seines Sechstagespiels in seinem Schloss in Prinzendorf statt. Seit 1971 bildet das Schloss den zentralen Schauplatz sowie das Zentrum der vollständigen Entwicklung und performativen Durchführung seines Theaters. Parallel zur praktischen Ausführung hat Nitsch an einer umfassenden Theorie seines Theaterkonzepts beständig gearbeitet, die stets die performative Entwicklung seiner Theatervision begleitet und eine historische, kultur- und kunstgeschichtliche Einbettung hervorgehoben hat. Die Gestaltungsform mit betonter synästhetischer Dramaturgie soll nach Nitschs Intentionen die direkte Teilnahme an den Geschehnissen sowie das Ausleben des Exzesses, der Aggression, der Abreaktion und der Katharsis ermöglichen – im Zerreißen, Schmieren, Schütten und Besudeln, Zerstampfen, Zerdrücken und Zerwühlen, um wiederum die Erfahrung und Überwindung des Tragischen, des Todes erlebbar und erfahrbar zu machen. Dabei beansprucht die gesamte Realisierung seines Theaters die meisten grundlegenden Kunstformen – Malerei, Musik, Theater, Architektur etc. –, die sich Nitsch unkonventionell aneignet, die er personalisiert und grundlegend transformiert, sodass jede interessierte universitäre Wissenschaft oder Disziplin einen bestimmten Aspekt seines Theaters zum Forschungsgegenstand machen kann. In dieser Arbeit wird der Akzent stärker auf den Theateraspekt gelegt. Im Folgenden werden der Schauplatz, die Zeit/Dauer, die Vorgänge/Aktionen, die Materialien/Struktur und die Organisation der vollständigen Aufführung des Sechstagespiels im Sommer 1998 dargestellt.

2.1.2.1. Raum, Architektur und Schauplatz

Im Vergleich zu Kirchenbauten ist das Schlossgebäude Prinzendorf bzw. die Architekturkonzeption eine Analogie zum menschlichen Leib bzw. Körper. Zugleich heißt es, dass das sich dort ereignende Theatergeschehen für den Inbegriff des Seins, der Schöpfung bzw. der Weltwerdung steht. Dabei drückt sich die Gebundenheit des Seins an einen bestimmten Bezugsort/Bezugsraum – wie z.B. an Kultstätten, Tempel, Kirchen, Arenen – aus, wo, wie Nitsch selbst formuliert, „hochämter des theatralischen, dramatischen geschehens aufgeführt werden.“1 So gesehen ist das niederösterreichische Schloss Prinzendorf, das 1971 durch die Initiative seiner Frau Beate Nitsch der Kirche abgekauft wurde, Wohn- und Schaffensort und vor allem Schauplatz und Herz des Orgien-Mysterien-Theaters.

Abbildung 1:

Schloss in Prinzendorf, © Julia Schrenk

Frank Gassner schreibt, dass urkundlich 1120 ein Schloss in Prinzendorf erwähnt wurde, das vermutlich an einer anderen Stelle lag. Nachdem 1631 die Camaldulenser vom Josefsberg die Herrschaft übernommen hatten, wurde 1645 der Vorgängerbau in den Schwedenkriegen stark beschädigt. Der jetzige Bau datiert auf die Jahre 1729/30 und ist von Franz Jänggl und Franz Anton Pilgram geplant worden. Aufgrund von Geldmangel hatte sich der Bau bis in die Jahrhundertmitte verzögert. Gassner zufolge ist dieser Bau im Zuge der Religionsreformen Josephs II. als kontemplativer Orden aufgehoben worden.

Das jetzige Landgut Schloss Prinzendorf befindet sich im Süden am Rand des Dorfes, das von etwa 1200 Menschen bewohnt wird.2 Nun sind der gesamte Schlossbau und die umliegende Landschaft zum performativen Schauplatz des Orgien-Mysterien-Theaters geworden.

Es gibt sogar einen umweltfreundlichen bzw. ökologischen Aspekt: „die gegend von prinzendorf soll durch den theaterbau nicht verändert werden.“3 Das Schloss liegt in Prinzendorf an der Zaya im Weinviertel und ist umgeben von Wein- sowie Obstgärten, Wiesen und Feldern. In der christlichen bzw. kunsthistorischen Ikonografie deutet der Hinweis auf Vegetation und Weintrauben auf Leben, Neuschöpfung des Lebens, Freude und Energie hin. In der Eucharistie wird z.B. das Blutopfer durch Wein symbolisch ersetzt. Im Christentum ist der Weinstock ein Christussymbol. Darüber hinaus ist der Garten ein symbolischer Ort, wo unterschiedliche Lebewesen zusammentreffen: Pflanzen, Insekten, Fliegen, Vögel und andere Tiere – dabei ist der Mensch Gärtner, der Leben sät.

Die Weingärten deuten zudem auf Dionysos, den antiken griechischen Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase hin. In der römischen Antike ist er unter dem Namen Bacchus bekannt. Rund um die Symbolik des Weins gibt es das Weinlaub bzw. die Weinblätter, die in der Antike als Glücks- sowie Fruchtbarkeitssymbol vor allem mit dem griechischen Dionysos-Kult oder dem römischen Bacchus-Kult in Verbindung gebracht werden. Im März zu Beginn der Vegetation wurde er mit den großen Dionysien als Fruchtbarkeitsgott verehrt, bei denen auch der Phallus-Kult eine wichtige Rolle spielte. Zur Zeit der Weinlese im Oktober wurde Dionysos mit den kleinen Dionysien gefeiert.4 Insofern wird Dionysos mit Existenzfest, Lebensfreude, Ekstase, Rausch, Energie, Sexualität und Fruchtbarkeit assoziiert.

Abbildung 2:

Prinzendorf. Luftbildaufnahme des Schlosses von S (2004),

© Gabriele Scharrer-Liška

Zugleich geht es aber in diesem Zusammenhang nicht nur um den einen Aspekt oder um die eine Seite der Existenz. Es besteht ein beständiges Wechselspiel von Leben, Tod, Landschaft und Architektur, welches die inneren und äußeren Zustände der Menschen auf diesem ästhetischen Schauplatz des Theaters kennzeichnet. Die Architektur des Schlosses ist eine Art symbolische Einführung in die äußeren und inneren Bereiche des Gebäudekörpers, der an den des Menschen erinnert: Am Beginn war das Gebäude ein dreigeschossiger Bau mit Seitenflügeln, einem dreiachsigen Mittelrisalit, einer Kapelle mit ovaler Kuppel, mit gewölbten Räumen mit einfachem Stuck und Schüttboden im dritten Stock. Dann baute Nitsch für sein Theater das Gebäude in der Erde zumindest konzeptionell weiter.

 

Konzeptionell zeichnerisch und szenisch-performativ hat Nitsch mit seinen Architekturzeichnungen und durchgeführten Aktionen das Biologische, das Anatomische des menschlichen Körpers zur Schau gestellt. Nitschs Architekturkonzept für die Realisation seines Orgien-Mysterien-Theaters ist nach Wieland Schmied nicht nur ein Kosmos unter der Erde, sondern auch ein Entwurf von höchster Komplexität:

Sechs, sieben Stockwerke tief will er hinabsteigen in den Schoß der Erde. In seinen Gedanken projiziert sich ein Labyrinth unter das andere, […] unter dem Hauptraum und seinen Nebenzellen, den Weinkellern, den Schlafsälen, den Ställen, dem Rosentreibhaus, dem Schlachthaus und dem Kühlhaus und den sie verbindenden Blutrinnen, Blutkanälen, Blutadern, soll die Krypta liegen, unter der Krypta die „Ganggruppe Herzgebilde“ und schließlich ganz unten, auf dem Grund des untersten Labyrinths, vielleicht das verborgene Ziel des Orgien Mysterien Theaters, der Graltempel.5

Abbildung 3:

„die architektur des orgien mysterien theaters. architektur unter der erde“,

© Atelier Nitsch

Diese konzeptionelle und zeichnerische Ansiedlung der Architektur unter der Erde zeigt eine Analogie zum Umgang mit dem menschlichen Körper, der im Zentrum seines Orgien-Mysterien-Theaters steht. So sind organische Formen in seinen konzeptionellen Architekturzeichnungen deutlich erkennbar. Wie der menschliche Körper lässt sich das Innere der Architektur von außen nicht begreifen. Es benötigt eine Besichtigung des Inneren, um zu erfahren bzw. zu erleben, wie jedes Stockwerk unter der Erde ein Labyrinth für sich ist – und, wie Wieland Schmied sagt, mit verwinkelten, verschlungenen, irritierenden Gängen. Eine solche architektonische Konzeption ist wie eine Einleitung in die realen performativen Aufführungsvorgänge des Orgien-Mysterien-Theaters zu lesen – vor allem, wenn Nitsch seine Architektur „wie Querschnitte oder Längsschnitte in den Umriss des menschlichen Körpers, in die Kontur eines Kopfes, in anatomische Tafeln“ schreibe. Um „in diesem Körper wirklich zu Hause zu sein, zu wohnen im Herz, in der Lunge, in der Leber, wechselnd in allen Organen, zu treiben im Blutkreislauf, ein- und auszugehen mit dem Atem“, hat sich Nitsch so unwiderstehlich angezogen gefühlt, dass er aus dieser Anziehungskraft „die Grundrisse seines inwendigen Schlosses“6 gezeichnet hat. Allein in der konzeptionell zeichnerischen Darstellung der Architektur spielen sich die performativen Vorgänge des Orgien-Mysterien-Theaters ab, das eine radikal anatomische Behandlung des menschlichen Körpers in seinem Sosein präsentiert. Wieland Schmied schreibt, dass die Architektur bei Nitsch zweifach in Erscheinung trete: in realer Gestalt des Schlosses Prinzendorf mit seinen weit verzweigten Anlagen und als Entwurf, als Zeichnung, Lithografie, Radierung, als grafischer Zusammendruck. Ihm zufolge haben diese Entwürfe einen doppelten Charakter. Zum einen gäben sie in allen labyrinthischen Verschlingungen einen Plan der sechs oder sieben Stockwerke, die sich unter dem Gelände des Schlosses nach Nitschs Konzept einmal erstrecken sollen. Zum anderen berücksichtigen sie stets die Dimension der Zeit und deuten auf das Spiel hin, das dereinst in diesen sieben Labyrinthen unter der Erde stattfinden solle. In diesem Sinn seien sie als provisorische Skizze jenes Theaterablaufs zu lesen. Dieser Doppelcharakter der grafischen Blätter stehe nach Schmied u. a. für die Grundrisse sowie für die Struktur kommender ritueller Handlungen und Ereignisse.7 Bereits aus diesen Zusammenhängen wird ersichtlich, dass Nitschs Theaterbau die konventionelle Infrastruktur eines klassischen modernen Theatergebäudes sprengt. Hinzu kommen alle regelbrechenden Gestaltungsformen direkter Wirklichkeit.