Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater

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1.1.2. Dramatisches und postdramatisches Theater: ein Nebeneinander

Es ist notwendig, auf den ersten Seiten dieser Arbeit das Verhältnis zwischen dem textzentriert-dramatischen und dem körperzentriert-postdramatischen Theater erneut zu verdeutlichen. Bereits ab dem 19. Jahrhundert werden kennzeichnende Merkmale des Dramas ins Wanken gebracht und abgelehnt. In der Theorie des modernen Dramas: 1880–1950 schreibt Peter Szondi 1954, dass die thematische Wandlung für die Krise des Dramas gegen Ende des 19. Jahrhunderts verantwortlich sei und dass die alte dramatische Form mit entsprechenden Gegenbegriffen ersetzt werden sollte.1 Er führt deshalb das Epische als Gegenmodell ein. Die entscheidende Innovation dabei ist Bertolt Brechts episches Theater, das den traditionellen Bühnendialog ansatzweise in die Form des Diskurses oder Monologs transformierte. Mit Brechts Theorie wird eine Aussage im Theater durch eine gleichwertige Beteiligung von verbalen und kinetischen Elementen vermittelt und ist nicht ausschließlich literarischer Natur.2

Heutzutage bestehen Formen dramatischen und postdramatischen Theaters nebeneinander. Eines der großen Missverständnisse, das es zu überwinden gilt, ist die Annahme, dass postdramatisches Theater Formen der literarisch-dramatischen Theatertradition aufgelöst hat oder aufzulösen versucht. Mit Gegenkultur im Verhältnis zur Institution des klassischen Theaters wird das Augenmerk darauf gelenkt, dass das textzentrierte Theaterverständnis im Sinne von Bettine und Christoph Menke nur eine der Erscheinungsformen des Theaters sei. Die postdramatische Perspektive ist in diesem Kontext als gegenkulturell und institutionskritisch aufzufassen – sie ermöglicht mindestens zwei emanzipatorische Betrachtungsweisen: erstens das stärker gewordene Bewusstsein des erweiterten Theaterbegriffs, der aktionistische, performative, installativ-experimentelle theatrale Ausdrucksformen – inklusive ritueller Bezüge – ins Theater einschließt; zweitens verweist diese Betrachtungsweise auf das antike Theater als voraristotelisch, aber auch auf mittelalterliche und außereuropäische Theaterformen. Beide Ansichten veranschaulichen zugleich, dass das Drama oder das dramatische Theaterverständnis für „eine historisch spezifische, vor allem und zuvor aber als eine strukturell beschränkte Option des Theaters“3 steht. Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater heißen demnach

ganz und gar nicht: Theater ohne oder gar gegen Text. […] Postdramatisch aber heißt die gegenwärtige Theaterlandschaft nicht, weil es darin keinerlei Dramen und keinerlei dramatische Elemente mehr gäbe, sondern weil das Dramatische seine Bedeutung als Norm des theatralen Vorgangs eingebüßt und das in der frühen Neuzeit entwickelte Dispositiv des Theaters der Repräsentation sich aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt wegen der inflationären Fülle von dramatisierenden Repräsentationen im Alltag der Medienkultur, erschöpft hat. Soviel jedenfalls beweist die enorme Ausweitung, die Begriff und Praxis des Theaters im Zeitalter der Medienkultur erfahren haben. Theater ist in keiner Weise mehr auf das dramatische Paradigma festzulegen, das in Europa zwischen Renaissance und dem Aufbruch der historischen Avantgarden in Europa theoretisch und weiterhin praktisch beherrschend gewesen ist.4

Im Folgenden soll nun auf die Verwechslung von postdramatischem Theater mit dem Begriff Postdramatik ausdifferenzierend eingegangen werden.

1.1.3. Postdramatisches Theater oder Postdramatik?

Nachdem veranschaulicht worden ist, dass Formen des dramatischen und postdramatischen Theaters unter sich stetig weiterentwickelnden Ausdrucksformen nebeneinander fortbestehen, möchte die folgende Argumentation auf ein anderes Missverständnis eingehen, das zwischen postdramatischem Theater und Postdramatik besteht. Eingangs ist anzumerken, dass der Begriff Postdramatik nicht direkt auf Lehmann zurückzuführen ist. Jedoch verwendet Lehmann das Adjektiv postdramatisch und fallweise das Substantiv „das Postdramatische“ im Zeitalter der Medienkultur zur Beschreibung der vielfältigen künstlerischen sowie ästhetischen Mittel in der gegenwärtigen Theaterlandschaft, in der das Dramatische nicht mehr als zentrale Norm und führendes Paradigma theatralen Schaffens gilt: Unter postdramatisches Theater fallen für Lehmann nomadische Produktionsstrukturen, Networks, neue Formen flüchtiger Gemeinschaften und gemeinsamer Kreation, intermediale Aktivitäten, welche die elektronische Kommunikation ästhetisch und pragmatisch nutzen, Projekte zwischen Ausstellung, Installation und Performance, Aktions- und Projektformen im urbanen Raum, dokumentarisch interessiertes Theater mit Laien, Verschaltungen von politischen und ästhetischen, künstlerischen und didaktischen Prozessen (lecture performance) in und mit unterschiedlichen Institutionen. All diese Formen scheinen Indizien für eine Verschiebung im traditionellen Verständnis der performativen Künste zu sein.1

In seinem Artikel „Nach der Postdramatik“ (2008) und Buch Kritik des Theaters (2013) kritisiert der Dramaturg und Professor für Schauspielgeschichte Bernd Stegemann mit Rückgriff auf Lehmanns Buch Postdramatisches Theater die Spielformen im Gegenwartstheater, das großteils von Formen postdramatischen Theaters dominiert zu sein scheint. Bereits im Jahr 2008 verwendet Stegemann in seinem in der Theaterzeitschrift Theater heute veröffentlichten Artikel „Nach der Postdramatik“ den Begriff Posdramatik u.a. mit folgenden kritischen Auslegungen:

Vor knapp zehn Jahren erschien das „Postdramatische Theater“ von Hans-Thies Lehmann und wurde in kurzer Zeit zum Standardwerk. […] Der Reiz des Titels, der zum Schlagwort einer ästhetischen Position geworden ist, ist offensichtlich. Das Buch verspricht ein neues ästhetisches Paradigma und liefert gleich eine ganze Anzahl neuer Beschreibungsvokabeln. Zugleich verspricht es die lang ersehnte Befreiung des Theaters aus der Vorherrschaft des Dramas. Was heute mit Postdramatik gemeint ist, glaubt jeder Zuschauer oder Theatermacher zu wissen. Für die einen ist es das ästhetische Experiment, ohne nachvollziehbare Geschichte einen Theaterabend erfinden und inszenieren zu können. Für den anderen ist es die Aufforderung zur Mitarbeit am theatralischen Geschehen: Erzähl´ Dir Deine eigene Geschichte, wenn Du denn unbedingt eine brauchst! Und für den dritten, den Theaterwissenschaftler, ist es die Erfüllung eines Traums vom Theater, das sich endlich mit dem Vokabular der eigenen Profession beschreiben lässt. Doch was meint „postdramatisch“ und welche theatralischen Ereignisse lassen sich damit beschreiben?2

Fünf Jahre später bemängelt er in seinem Buch Kritik des Theaters – indem er neben der Bezeichnung „postdramatisches Theater“ immer noch den Begriff Postdramatik gebraucht –, dass Performance, Präsenz und Selbstreferenz die Tradition von Mimesis, Schauspiel und Bedeutung ersetzt haben. Alle Ereignisse seien selbstreferenziell und würden eine Authentizität beanspruchen; außerdem bezeichne – ihm zufolge – der Begriff Postdramatik von seiner Bedeutung her zuerst eine Theaterform nach dem Drama.3

Angeregt durch die 2013 an der Universität Wien gegründete Forschungsplattform „Elfriede Jelinek: Texte – Kontexte – Rezeption“ wurde aber im Zeitraum von Oktober 2013 bis März 2014 die Postdramatik, unter deren Gesichtspunkt mittlerweile zunehmend Theatertexte von Elfriede Jelinek analysiert werden, kritisch hinterfragt. In dieser Zeit konnten die Pro- und Antagonisten (ausschließlich aus Europa) des postdramatischen Theaters und der Postdramatik über die Problematik und die Implikationen der jeweiligen Begrifflichkeiten in unterschiedlichen interdisziplinären Arbeitsgruppen mit verschiedenen Themenschwerpunkten zunächst per E-Mail sowie anhand von Videokonferenzen miteinander kommunizieren. Mitglieder der verschiedenen Arbeitsgruppen und Themenschwerpunkte trafen dann vom 14. bis 18. Mai 2014 im Rahmen des Symposiums „Sinn egal. Körper zwecklos“. Postdramatik – Reflexion & Revision in der Kunsthalle Wien im Museumsquartier zusammen.4 Als Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen kam überwiegend zum Vorschein, dass Postdramatik5 ein problematischer Begriff ist, weil der Begriff – abgesehen davon, dass er nicht dasselbe bezeichnet, was Lehmann unter postdramatischem Theater subsumiert hat – etwas besonders Problematisches konnotiert: An der Postdramatik findet selbst Lehmann die gedankliche Querverbindung störend, dass es einst Dramatik gegeben habe und dass danach etwas anderes gekommen sei, das nichts mehr damit zu tun habe. „Ich habe den Begriff postdramatisches Theater aber gerade gewählt“, so Lehmann, „um zu zeigen, dass es eine Situation vor dem Hintergrund und Echoraum der dramatischen Tradition gibt. Ich betone das deshalb, um den Verdacht der Text- und Dramafeindlichkeit zurückzuweisen.“6 Obgleich Carl Hegemann kein Befürworter des postdramatischen Theaters ist, findet er den Begriff Postdramatik ebenfalls problematisch, da dieser seiner Meinung nach „etwas völlig anderes als ‚postdramatisches‘ Theater“7 bezeichnet. Für Patrick Primavesi stiftet Postdramatik Verwirrungen.8 Außerdem tauchen bei diesem Begriff im Sinne von Alexandra Millner drei Hauptprobleme auf: 1) Während Lehmanns Begriff des Postdramatischen eine Kategorie zur Beschreibung der Vielfalt zeige, erscheine Postdramatik nicht als deskriptiv, sondern als normativ. Dadurch werde gefragt, ob die Aufführung postdramatisch sei, anstatt zu fragen, ob sie postdramatische Züge aufweise. Millner zufolge erfasst eine solche Kategorisierung ein bestimmtes Phänomen in seiner Reinkultur, während aber das, was beschrieben werden solle, nur in Hybridform existiere. 2) Millner findet das Verstehen des Präfixes „Post“ in Postdramatik als eine chronologische Abfolge aus den gleichen Gründen problematisch, die bereits Lehmann angesprochen hat. 3) Dem Begriff Postdramatik hafte ein Paradox an, weil seine Aspekte anhand der Theaterstücke von Elfriede Jelinek entwickelt worden seien und nun auf ihre neueren Stücke mit der Frage projiziert werden, ob diese denn postdramatisch genannt werden könnten. Dieses Verfahren sei nach Millner nicht nur hermetisch-selbstreferenziell, sondern bilde zugleich einen unproduktiven Teufelskreis, weil dadurch die Individualität und „Idiosynkrasie“ – als wortwörtlich je eigenständige bzw. eigenartige Zusammensetzung oder Mischung – jedes einzelnen Kunstwerks missachtet werde.9

 

Das Interesse der vorliegenden Arbeit gilt demnach dem Begriff postdramatisches Theater als eine Beschreibungskategorie vielfältiger Erscheinungsformen des Theaters mit transkulturellen und synkretischen Zügen, die in einer Zeit ästhetisch-koexistierender Elemente und Formen aus verschiedenen zeiträumlichen Kulturen der Welt Interferenzfiguren hervorbringen.

1.2. Forschungsgegenstand

Im Zentrum dieser Arbeit stehen Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“. Beide Theaterformen weisen rituelle, kunstreligiöse, synkretistische, performative, politische und künstlerisch grenzüberschreitende Vorgehensweisen auf. Bevor im zweiten Teil dieser Arbeit darauf detaillierter eingegangen wird, erfolgt eine Kurzzusammenfassung des gesamten Forschungsgegenstands.

In Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater geht es um die Begegnung von antiken griechischen bzw. dionysischen Kultpraxen und katholisch-christlichem Ritual. Das angestrebte Ziel ist eine psychologische und spirituell-seelische Transformation, die über Abreaktion und Katharsis hinausgeht. Auch Christoph Schlingensief geht es in seiner Aktion 18, „tötet Politik!“ um eine Transformation bzw. um eine Reinigung der sozialen und politischen Begebenheiten mit Rückgriff auf afrikanische Voodoo-Rituale. Diesbezüglich macht er sich z.B. auf eine symbolische Deutschlandtour durch das Rheinland und das Ruhrgebiet. Währenddessen operiert er im Grenzbereich ästhetischer und realpolitischer Wirklichkeit: Dadurch kann er in der Rolle eines Voodoo-Priesters auftreten und die politische Lage in Bezug auf die politischen Tätigkeiten des damaligen FDP-Landesvorsitzenden Jürgen W. Möllemann enthüllen – mit Beteiligung unterschiedlicher Menschen unter anderem aus den Medien, der Staatsanwaltschaft und der Polizei. Wie in einem authentischen rituellen Prozess fungiert diese Aktion als eine liminale Phase, in deren Folge eine ästhetische „Neugeburt“ der Politik stattfinden soll. Somit weisen beide – das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik!“ – sozial-, institutions- und zivilisationskritische Merkmale auf, indem sie besondere ästhetische Störstrategien einsetzen, um die Zuschauer_innen im Brechtschen Sinne zu aktivieren und als Mitwirkende in die Inszenierung mit einzubeziehen.

Darüber hinaus liefern das strukturelle und das funktionelle Ritualmotiv praktische Beispiele für einen kulturellen Synkretismus im postdramatischen Theater, der antike griechische und außereuropäische bzw. afrikanische Kulturelemente einschließt. So lässt sich in dieser Studie zu analysierenden Theaterformen Folgendes beobachten: Sie operieren im Zwischenbereich von Ritual-(Theater-)Kunst-Realität. Insofern geht diese Studie über das postdramatische Theater hinaus, um aufzuzeigen, wie bei Nitsch und Schlingensief Theater als Kunst und Bereich des kulturellen Synkretismus fungiert, wo Elemente unterschiedlicher kultureller Epochen und Räume ineinander greifen bzw. interferieren. Die in dieser Arbeit infrage kommenden Interferenzelemente beziehen sich folglich auf antike griechische, mittelalterliche, außereuropäische bzw. afrikanische Theaterformen sowie auf solche Theaterpraxen, die explizite und/oder implizite Ähnlichkeiten mit Nitschs und Schlingensiefs Theateransätzen aufweisen: beispielsweise Antonin Artauds Theaterkonzept, mittelalterliche geistliche Spiele, Opferrituale und Dionysos-Kult in der griechischen Antike, Kote-tlon der Bamana im alten Mali und Alarinjo der Yoruba in Nigeria.

Einer der Vorläufer der postdramatischen Theaterästhetik mit rituellen Bezügen ist Antonin Artaud. David Willes bemerkt: „Artaud expressed more passionately and forcefully than anyone else in the twentieth century the idea that psychological theatre is physically inert and spiritually sterile.“1 Das Interesse dieser Arbeit liegt an Artauds Theaterkonzept in Bezug auf die Verwendung der Sprache als Beschwörungsformel, um mit Lautmalerei, Assonanzen und Dissonanzen auf die Emotionen und das Unbewusste der Zuschauer_innen einzuwirken. Nach Artaud soll die Sensibilität gesteigert, betäubt, bestrickt und abgeschaltet werden, um Schockwirkung zu erreichen. Die Entdeckung von Theaterformen anderer Kulturen bzw. des balinesischen Theaters – im Jahr 1931 während der kolonialen Ausstellung in Paris – hat Artaud in seiner Theaterreformidee der Loslösung vom dramatischen Text bekräftigt: Artauds Konzept markiert den nicht zu übersehenden Entwicklungsschnitt im Theater, das sich vom eurozentrischen bzw. textzentrierten Maßstab emanzipiert. Die Aufmerksamkeit wird damit zunehmend auf körperzentrierte und rituelle Rollendarstellungen gerichtet. Mit dem performative turn lässt sich das internationale Theaterverständnis aus postdramatischer und transkultureller Betrachtungsweise auf einen gemeinsamen kulturellen Nenner bringen: auf die körperzentrierte Aufführung. Die aufgelöste (ehemals klare) Trennung in Handelnde und Zuschauende ist ein anderer gewichtiger Aspekt des Verhältnisses zwischen dem Theater und allen anderen Lebensbereichen im postdramatischen Kontext. In vielen Formen internationalen Theaters im erweiterten Sinn2 kommt dies klar zum Ausdruck – bei performativen Akten, bei körperlichen Handlungen oder bei der Leibzentriertheit der kulturellen Rollendarstellungen, wie etwa die Opferrituale und der Dionysos-Kult in der griechischen Antike (etwa 500 bzw. 300 vor Chr.) zeigen.

Die Opferrituale und der Dionysos-Kult haben eine sehr wichtige Rolle für die Entwicklung des europäischen Theaters gespielt. Heute sind Begriffe wie Theater oder Performance mit anderen Bedeutungen beladen, als dies der Fall in der griechischen Antike war. Blut, Tod und Opferrituale sind der Bindestrich zwischen antiker Traditions- und Kulturtätigkeit von Theater – vor allem im Rahmen des Dionysos-Kults, wo körperzentrierte Rollendarstellungen entscheidend sind. In der griechischen Antike „rühren die Opferriten an die Grundlagen der menschlichen Existenz“3 im Rahmen theatral-performativer Rollendarstellung – ohne eine Textvorlage im Sinne des klassischen Theaterverständnisses. Das Interesse hierfür liegt in der zeiträumlichen Kontextualisierung, in der Gestaltungsform, den Kommunikationsmitteln sowie den ästhetischen Strategien dieser theatralen Rollendarstellungen, die außerdem auf afrikanische bzw. vorkoloniale Theaterformen explizit hindeuten: z.B. Kote-tlon der Bamana im alten Mali4 und Alarinjo der Yoruba in Nigeria.5

Das Kote-tlon war eine Theaterform aus dem 14./15. Jahrhundert im Königreich des Bamana-Stammes im alten Mali. Eine der Besonderheiten des Kote-tlon-Theaters besteht darin, dass die theatralen Performances und die anderen soziokulturellen sowie ökonomischen Tätigkeiten in einem engen Wechselwirkungsverhältnis zueinander stehen. Das Kote-tlon-Theater ist eine vorkoloniale Theaterform, die eine kontrollierende sowie kritische Struktur aufweist und einen soziokulturellen ebenso wie einen politischen Wandel katalysierte. Die Performer_innen dieser Theaterform beanspruchten wie Christoph Schlingensief ein künstlerisches Recht auf Kritik und spielten eine nonkonformistische sowie sozialkritische Rolle in der Gesellschaft. In diesem Sinn behauptet David Kerr: „it is not very surprising to find a sceptical attitude and implicit resistance among performers of Kote-tlon.“6 Diese Theaterform wird in Relation zu Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ gesetzt. Da Schlingensief ein Voodoo-Ritual in seiner Aktion vollzieht, wird ein zweites Beispiel einer Theaterform aus dem vorkolonialen afrikanischen Kontext zum Vergleich eingeführt: Es geht um Alarinjo der Yoruba in Nigeria.

Alarinjo war eine spezialisierte und professionelle Theaterform, die ihre Ursprünge im Voodoo-Kult Egungun hatte. Es war zudem eine satirische Maskerade, die sich stets unterschiedlichen sozialen und politischen Kontexten anpasste. Manchmal gerieten die Satiren zur scharfen Kritik gegen die feudalen Führer.

Da Theater im weitesten Sinn des Begriffes ein Kulturphänomen ist, das wiederum je nach den zeiträumlichen Bedingungen auf unterschiedlichen kulturellen Symbolen beruht, wird Aby Warburgs Pathosformel in diese Arbeit eingeführt. Unter diesem Gesichtspunkt werden Ähnlichkeiten zwischen Theaterformen aus verschiedenen Zeiten und Kulturkreisen veranschaulicht: „bei Pathosformeln, so Warburg, handelt es sich um kulturelle ‚Engramme‘ oder ‚Dynamogramme‘, die ‚mnemische Energie‘ speichern und unter veränderten historischen Umständen oder an weit entfernten Orten wieder zu entladen vermögen.“7

1.3. Forschungsstand

Zu Nitschs Orgien-Mysterien-Theater wurde und wird noch vieles publiziert – entweder als wissenschaftliche, als künstlerische oder als ausstellungs- bzw. kritikorientierte Analysearbeiten; im Rahmen dieses Forschungsstands wird die Aufmerksamkeit auf einige Forschungsarbeiten fokussiert: Es handelt sich nämlich um diejenigen wissenschaftlichen Arbeiten, die das Orgien-Mysterien-Theater mit dem kultisch-rituellen Theater in der griechischen Antike oder den Opferritualen im Dionysos-Kult, dem Wiener Aktionismus und dem Konzept des Gesamtkunstwerks analytisch in Verbindung bringen.

Die Monografie Hermann Nitsch – Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters1 ist 2015 erschienen. Herausgeber Michael Karrer bezeichnet dieses 968-seitige Buch, das in enger Zusammenarbeit mit Hermann Nitsch entstanden ist, als ein Nachschlagewerk zu allen Bereichen des Orgien-Mysterien-Theaters als Gesamtkunstwerk. Dieses Buch thematisiert analytisch in klar gegliederten Kapiteln mit Textbeiträgen jeweils folgende Bereiche: Philosophie, Aktionen, Relikte, Malerei, Architektur, Musik, Inszenierungen, Frühwerk des Orgien-Mysterien-Theaters sowie das Schloss Prinzendorf. Außerdem behandelt das Buch in einem Exkurs Hermann Nitsch in Verbindung mit dem Wiener Aktionismus.

In ihrem Beitrag „Das Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch“2 verschafft Eva Badura-Triska einen panoramaartigen Blick auf das Grundkonzept und den chronologischen Werdegang des Orgien-Mysterien-Theaters: sie dokumentiert bzw. veranschaulicht vor allem die Verbindung, die zwischen Nitschs Orgien-Mysterien-Theater als Kult des Seins und der ursprünglichen, kultischen, mythischen sowie therapeutischen Funktion der Kunst besteht, die nicht von der Lebenswelt abgehoben wurde.

Brigitte Marschall thematisiert in ihrem Beitrag „Das Orgien Mysterien Theater und die europäische Theatergeschichte“,3 wie dieses Theater in die Geschichte des europäischen Theaters eingeschrieben ist. Sie zeigt auf, wie das Orgien-Mysterien-Theater klare Rückgriffe auf die Tragödie der griechischen Antike, auf Richard Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks, auf Friedrich Nietzsche und Antonin Artaud aufweist. Sie ist der Meinung, dass sich Nitschs Theaterkonzept in die Tradition der theatralen Ausdrucksformen einordnen lässt, die den Körper, das physische Handeln und den materiellen Prozess in den Mittelpunkt stellen und dem Theater ein auf das gesellschaftliche Kollektiv gerichtetes, meist utopisches Veränderungspotential zuschreiben.

In dem Beitrag „Baptism of Blood: Bodies Performing for the Law“4 untersucht Aspasia Stephanou die Performancekunst sowie die Blutrituale von Ron Athey und Hermann Nitsch. Dabei geht sie zunächst davon aus, dass beide Künstler aufgrund ihrer radikalen Kunstform als eine Herausforderung für die moderne Kunst und die Gesellschaft fungieren. Dann argumentiert sie, dass die Verwendung von Blut, das bei den beiden Künstlern im Zentrum steht, die Wirksamkeit besitzt, das patriarchalische System der sozialen Autoritäten anzugreifen und zu destabilisieren. Sie zeigt außerdem auf, dass derartige blutige Performancepraxen popularisiert werden, womit Blut Eingang in den Mainstream der Popkultur findet. In diesem Zusammenhang zeigt sie am Beispiel der Verwendung von Blut in einigen Auftritten der Popkünstlerin Lady Gaga auf, dass Blut seine symbolischen Bedeutungen eingebüßt hat und zu einem kommodifizierten Produkt geworden ist. Anhand ihres Vergleichs (Performancekünstler mit einer Popkünstlerin) veranschaulicht Stephano, wie Blut in unterschiedlicher Art und Weise benutzt wird, um die jeweiligen Projekte der genannten Künstler_innen zu ermöglichen: Während Atheys Performances das Blut als die Realitätsstelle des schmerzempfindenden Körpers unterstreichen und bei Nitsch Blut für das Zelebrieren von Eros und Thanatos steht, trennt Lady Gaga, indem sie künstliches Blut verwendet, das Blut vom Körper und seiner Bedeutung.5

 

Der von Aaron Levy herausgegebene Sammelband Blood Orgies: Hermann Nitsch in America6 ist eine Zusammenstellung von Aufsätzen mit Bezug auf ein 2008 in Philadelphias „Slought Foundation“ durchgeführtes Projekt über Nitschs Orgien-Mysterien-Theater. Dieser Sammelband, der einen Beitrag zur kritischen englischsprachigen Literatur über Hermann Nitsch darstellt, geht vom gegenkulturellen Charakter von Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, von seiner provokativen Verwendung von Blut, Fleisch und Innereien als künstlerischem Material sowie von seiner obsessiven Verwendung der Metaphorik der Kreuzigung Christi im Rahmen eines neopaganen Opferrituals aus. Er beschäftigt sich außerdem mit den emotionalen Reflexen der Rezipient_innen und mit deren kritischer Reaktion auf Nitschs Werk: Dieter Ronte untersucht z.B. die einschränkende „sekundäre“ Funktion von Fotografie im Verhältnis zu den auf multiple Sinneswahrnehmung abzielenden Performances, denen die unmittelbare Präsenz der Teilnehmer_innen zugrunde liegt, damit die erwartete Wirksamkeit erreicht wird. Ronte ist der Meinung, dass im Vergleich zu Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, welches sich nicht auf Dokumentationen reduzieren lässt, die Fotografie Nitschs Kunst unverzüglich abbildet und sie zugleich entstellt. Adrian Daub verfolgt die klangliche Dimension des Orgien-Mysterien-Theaters. Er analysiert die Beziehung zwischen der Performance und den musikalischen, klanglichen und stimmlichen Elementen. Jean-Michel Rabaté befasst sich analytisch mit dem Orgien-Mysterien-Theater als Gesamtkunstwerk und zeigt auf, dass die Gemälde durch den Kontakt von Stoffen mit verschüttetem Blut und anderen Flüssigkeiten entstehen. Er schlussfolgert, dass gerade diese Blutmengen und Flüssigkeiten das wahrhaft Dionysische in Nitschs Kunstfertigkeit konstituieren. Michèle Richman verfolgt den ethnografischen Faden von Nitschs Kunstpraxis in Bezug auf die umfangreichen theoretischen Diskurse im 20. Jahrhundert über Festivals, Rituale und Mythen. Indem sie Nitschs Ikonografie und mit jener von Matthias Grünewalds „Isenheimer Altar“ aus dem 16. Jahrhundert vergleicht, erkennt Susan Jarosi in beiden Kunstwerken komplementäre psychische Ausdrücke geschichtlicher Traumata.

Im Gegensatz zu Nitschs Orgien-Mysterien-Theater liegt zurzeit der Entstehung dieser Arbeit noch nicht zahlreiche wissenschaftliche Forschungsarbeiten über Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ vor. Abgesehen von Dokumentations- und Materialquellen, die zudem künstlerisch oder ausstellungs- bzw. kritikorientiert sind und aus Aktionstagebuch, Presseberichten bzw. Pressereportagen, Fotografien, Interviews sowie Videoausschnitten bestehen, fehlt es an einer wissenschaftlich umfangreichen Analyse dieser Aktion. Jedoch gibt es eine Reihe von Forschungen und Publikationen, die Schlingensiefs künstlerisches Schaffen unter verschiedenen Vorzeichen untersuchen und in denen sich Abschnitte zu dieser Aktion finden. Im Folgenden kann ein Beispiel angeführt werden:

Eva Behrendt bezeichnet in ihrem Aufsatz „Politische Performances zwischen Irritation und Aufklärung“ die Aktion 18, „tötet Politik!“ als einen Klassiker der politischen Performance und betont, dass diesem im Kontrast zum klassischen Theater keine dramatische Textvorlage für die theatrale Aufführung im Sinne von Schauspiel zugrunde liegt. In Analogie zum religiösen Ritual merkt sie an, dass die Handlung, die vom Darsteller – in diesem Fall Schlingensief – performiert wird, mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Behrendt konzentriert ihre Argumentation auf das zehnminütige Voodoo-Ritual vor Möllemanns Firma Web/Tech. Außerdem erinnert dies an eine von Joseph Beuys in einer New Yorker Galerie abgehaltene Coyote Performance I like America, and America likes me (1974), die aber mehr als eine esoterische Kunstübung gewesen sei: Behrendt zufolge sei die Performance ein politisches Statement von Beuys gewesen, da er sich mit dem Kojoten so beschäftigt habe, dass eine Verbindung mit Amerikas Ureinwohner_innen versinnbildlicht wurde. Ähnlich habe Schlingensief, so Behrendt, Bezug auf die parteipolitische Realität der Bundesrepublik genommen, indem auch antisemitisch konnotierte Vorgänge wie die Bücherverbrennung aufgegriffen wurden. Solche fast tagesaktuelle Unmittelbarkeit und die Treffsicherheit, mit der Schlingensief anhand seiner Performances in die Schlagzeilen geraten ist, ist nach Behrendt derzeit im Bereich des deutschsprachigen Theaters unerreicht, obschon heute immer noch politisches Theater und politische Performancekunst bestehen.7

Nitsch und Schlingensief zeichnen sich durch ihre verwandten künstlerischen Störpraktiken und ihre jeweiligen tabubrechenden Theateransätze aus. Die vorliegende Arbeit unterscheidet sich von den erwähnten Studien. Das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik!“ werden dann als zwei Beispiele von Theater als Ästhetik und Bereich des kulturellen Synkretismus bzw. des postdramatischen Theatersynkretismus8 veranschaulicht, in dem verschiedene Interferenzelemente bestehen. Außerdem fungieren sie als Theateraktionen, die kulturelle Selbstveränderungen durch die Hereinnahme des Fremden katalysieren. Somit ermöglichen beide Theateraktionen einen verkehrten, transkulturellen bzw. synkretistischen Blick auf die jeweils kulturspezifischen Theater- oder Rollendarstellungsformen, die über das Eigene weit hinausgehen und stark auf das Fremde (im Eigenen) verweisen. Denn mit der Konzeptualisierung des postdramatischen Theaters als reale Erfahrung von Zeit, Raum, Körper rücken im Zeitalter der weltweiten Migrationsbewegungen die Fremdheitserfahrungen gravierend vorwärts. Dabei geht die Fremdheitserfahrung nicht nur von Fremden (z.B. Ausländer_innen, Migrant_innen) bzw. von sogenannten Flüchtlingen aus, sondern auch von dem durch Vergeistigung und Zivilisationsprozesse verdrängten Fremden im Eigenen: z.B. von den blutigen Opferritualen. Aus dieser komplexen Konstellation des Fremden, das im Eigenen verwurzelt ist, soll das Fremde nicht mehr bzw. nicht nur in den fernen Kulturen, sondern (auch) im Inneren des synkretistischen sowie unterdrückten Eigenen gesucht werden. Anders formuliert: Zeichnet sich die gegenwärtige Kulturauffassung durch vielfältige kulturelle Interferenzelemente aus und distanziert sie sich folglich von einem Containermodell der Kultur, so ist die Suche nach dem, „was als kulturell fremd gilt, nicht mehr unbedingt an einen fremden Ort gebunden“9, sondern bei sich im Eigenen auffindbar. Der transkulturelle bzw. synkretistische Ansatz in dieser Arbeit richtet das Augenmerk auf den kulturellen Synkretismus, den Nitsch und Schlingensief in ihren jeweiligen Theateraktionen über den ästhetischen Funktionsmodus des kulturellen Zelebrierens zum Vorschein bringen. An diesem Punkt geht die Arbeit über das postdramatische Theater hinaus und schlägt die Brücke zu antiken griechischen, mittelalterlichen und außereuropäischen bzw. afrikanischen Theaterformen. Konkret geht diese Arbeit von der Annahme aus, dass Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ als Inbegriff einer Radikalisierung gegenkultureller sowie institutionskritischer Erscheinungsformen von Kunst – wie z.B. Fluxus, Happening, Installations-, Interventions- sowie Aktionskunst – fungieren.