Leben ohne Maske

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Strittig für Heidi war auch, dass Wolfgang so viel Augenmerk auf das Formale des Stücks legte. Aber für Wolfgang war die Struktur des Stücks das Wichtigste, weil da der Gewinn für sein eigenes Schreiben am größten sei, meinte er. Und wenn Heidi versuchte, unwissenschaftliche Passagen auszumerzen, zeigte sich Wolfgang oft uneinsichtig und sie gerieten in Streit.

Für das Thema „Die dramatischen und epischen Elemente in ‚Morgen kommt der Schornsteinfeger‘“ hatte sich Wolfgang ja nur entschieden, um ein besserer Theaterdichter zu werden. Zu wenig Dramatik, zu viel Epik hatte man auch seinem Stück angelastet, und so war die Auseinandersetzung mit Claus Hammel eine Art Selbstverständigung. Deshalb verstieg sich Wolfgang oft in Theorien, die unhaltbar waren und mit einer um Objektivität bemühten wissenschaftlichen Abhandlung nichts zu tun hatten.

„Behauptungen ohne stichhaltige Beweise haben in einer literaturwissenschaftlichen Arbeit nichts zu suchen“, sagte Heidi, und wenn sie nicht so sehr auf Logik und Wissenschaftlichkeit geachtet hätte, hätte Wolfgang seine Staatsexamensarbeit im Übereifer vielleicht noch in letzter Minute versemmelt.

„In einem Essay kannst du deinen Gedanken freien Lauf lassen. Aber in einer Staatsexamensarbeit hast du nur nachzuweisen, dass du wissenschaftlich arbeiten kannst und ab und an zu interessanten Aussagen kommst“, sagte Heidi. Nicht der Literat sei gefragt, sondern der Germanist, der mit dem literaturwissenschaftlichen Vokabular umzugehen weiß und ein Thema solide und brav abhandeln kann, meinte sie. „Erst die Pflicht, dann die Kür.“

13. Kapitel

Den ganzen Februar über hatte Wolfgang in Heidis Mansardenzimmer gesessen und an seiner Staatsexamensarbeit geschrieben, und während dieser Zeit hatte er die Gepflogenheiten im Stillmarkschen Haus, Heidis Eltern und Louis Stillmark wieder ein bisschen näher kennengelernt.

Heidis Großvater hatte einen dünnen, etwas faltigen Hals, und man hatte den Eindruck, als sei sein Hemdkragen zwei Nummern zu groß. Louis Stillmark trug meistens ein weißes, langärmliges Hemd mit einer anthrazitfarbenen Wollweste darüber, und in seiner Küche roch es nach frisch gekalkter Wand, Bratkartoffeln und Zigarrenrauch.

Wenn Wolfgang tagsüber Langeweile verspürte oder mit seiner hochwissenschaftlichen Arbeit nicht so recht vorankam, setzte er sich gern zu Louis Stillmark in die kleine, überheizte Küche und hörte sich an, was Heidis Großvater so aus seinem Leben zu erzählen wusste. Als Kind hatte sich Louis Stillmark am liebsten in der Töpferwerkstatt seines Großvaters mütterlicherseits aufgehalten, und während er haarklein berichtete, wie es in der Töpferwerkstatt zugegangen war, hatte Wolfgang Filmszenen aus dem kleinen Muck vor Augen. Der Großvater sei ein kleines Männchen gewesen, der immer zu Scherzen aufgelegt war, berichtete Louis Stillmark. „In der Töpferwerkstatt habe ich mich am wohlsten gefühlt.“

„Gibt es Bilder von ihm?“, fragte Wolfgang.

„Nein“, sagte Louis Stillmark. „Nicht von ihm und nicht von meiner Mutter, die nervenkrank war und in einer Heilanstalt starb.“

Auf der Kommode in Louis‘ Küche standen postkartengroße, holzgerahmte Bilder. Und an der schmucklos geweißten Wand darüber hing ein großer verglaster Bilderrahmen mit einem Sammelsurium unterschiedlichster Fotos, die von unterschiedlicher Größe waren.

„Mein Vater war wesentlich robuster als meine Mutter. Obwohl er als Ringschmied ein Leben lang hart und schwer gearbeitet hat, ist er 89 Jahre alt geworden“, sagte Louis Stillmark. „Ich soll ihm unheimlich ähnlich sein.“

„Das stimmt“, sagte Wolfgang, der an der Wand über der Kommode ein Foto entdeckt hatte, auf dem ein alter, grauhaariger Mann aus einem Fenster lächelte.

Die Ähnlichkeiten zwischen Louis Stillmark und seinem Vater waren verblüffend. Aber so alt wie sein Vater wurde Louis Stillmark nicht. Er war 83 Jahre alt, als er nach einem Treppensturz starb.

Obwohl Louis Stillmark so schlecht sah, dass er sich die Zeitung vorlesen lassen musste und die Leute nur schemenhaft erkannte, konnte er genau sagen, wer auf welchem Bild zu sehen war.

Als Wolfgang auf einem Schulbild, auf dem 71 Schüler mit ihrem Lehrer zu sehen waren, Heidis Großvater nicht finden konnte, sagte Louis Stillmark von seinem Sessel aus: „Ich bin der Dritte von links in der oberen Reihe.“

Wolfgang ging die obere Reihe der Schulanfänger durch und stieß auf einen bleichgesichtigen, blonden Jungen mit auffallend hellen Augen. „Als Junge war ich immer etwas schwächlich“, hörte er Louis Stillmark vom Fenster her zigarrepaffend sagen: „Zum Ringschmied war ich nicht geeignet, und so wurde ich Packer. Denn ich hatte eine schöne geschwungene Schrift.“

Und weil er eine so schöne Handschrift hatte, wurde er später im Turnverein Schriftführer, und seine Protokolle sahen wie gemalt aus. Jahrzehntelang sei er Protokollführer vom „Turnverein 1877“ gewesen, erzählte Louis Stillmark voller Stolz. Und wenn er an den Gewinn der „Deutschen Meisterschaft im Schlagball“ zurückdachte, wurden seine Augen feucht. Denn Louis Stillmark hatte nahe ans Wasser gebaut.

Gleich neben dem Schulbild war an zentraler Stelle hinterm Glas des großen dunkelbraunen Bilderrahmens Louis Stillmark als Soldat zu sehen. Wie einen Großwildjäger in der Savanne hatte man ihn aufgenommen. In der Ausgehuniform eines Kanoniers, mit schmucker Mütze und einem Wollmäntelchen, stand er auf einem Feld im flachen Flandern, die linke Hand in die Hüfte gestützt, den Feldstecher umgehangen und den Blick gen Westen gerichtet. So posierte er vor der Kamera.

Auf das ovale Bild angesprochen, sagte Louis Stillmark: „Das ist im Herbst 1915 gemacht worden, als ich die Grundausbildung an Karabiner und Kanone hinter mir hatte und zum Landsturm kam. Da war ich 28 Jahre alt.“

Seit einer Mittelohrvereiterung, die er im August 1918 nach einem Rückzugsgefecht in Französisch-Flandern bekommen hatte, hörte Louis Stillmark auf dem linken Ohr sehr schlecht. Die kurze Zeit im Feldlazarett habe nicht ausgereicht, um die Sache auszukurieren, erklärte Louis Stillmark, und so sei es zu diesem bleibenden Hörschaden gekommen.

Da Louis Stillmark aber kein Wort verpassen wollte, wenn sich unterhalten wurde, vergrößerte er seine Ohrmuschel mit der linken, hohlen Hand, um besser hören zu können. Denn er war ungemein neugierig auf das, was gesagt wurde. Und wenn er am Sonntagabend für zwei Stunden zum Bier in den „Stern“ ging, wollte er mitreden können, wenn sich über dies und das unterhalten wurde.

Von daher war es unerlässlich, dass er genau wusste, was in der Zeitung stand. Da er aber schon lange nicht mehr die kleinen Buchstaben lesen konnte, musste ihm aus der Zeitung vorgelesen werden.

Sein Augenlicht tue es nicht mehr her, sagte Louis Stillmark.

Da Wolfgang gern bei Louis Stillmark in der kleinen, überheizten Küche saß, wenn er mit seiner Arbeit nicht so recht vorankam, übernahm er gern das Vorlesen.

Louis Stillmark, der jahrzehntelang als Packer in der Birkenhaller Bohrerfabrik gearbeitet hatte und erst mit 75 Jahren in Rente gegangen war, interessierte sich noch immer für die Werkzeugindustrie in Birkenhall.

Und Wolfgang las ihm vor, was unter der Überschrift „Gemeinsam werden wir die Zukunft meistern“ geschrieben stand: „Ende des vorigen Jahres beschloss der Ministerrat der DDR, dass in den Zentren des Maschinenbaus, in Karl-Marx-Stadt, Magdeburg und Birkenhall, Kombinate zu bilden seien. Schnell wurde dieser Beschluss in Birkenhall umgesetzt.

Genosse Kehr, der Direktor des neu gebildeten Werkzeugkombinats, stellte sich mit einigen Mitarbeitern auf einer Belegschaftsversammlung des Stammbetriebes vor. Die sozialistische Industrialisierung müsse in Zukunft auch im Raum Birkenhall vorangetrieben und das Klein-Klein der Werkzeugproduktion schrittweise beseitigt werden, erklärte der Kombinatsdirektor. So sei der Neubau von zwei großen Produktionshallen geplant. ‚Die meisten Grundstücke, die wir für den Neubau brauchen, haben wir bereits erworben‘, meinte er auf Anfrage. Über mögliche Restflächen, die noch benötigt würden, werde bis Juni entschieden. ‚In fünf Jahren werden in den Hallen I und II 4.000 Menschen arbeiten, die mit modernster Technik Ringschlüssel, Mähklingen, Bohrwerkzeuge und Sägen herstellen‘, führte Genosse Kehr weiter aus und schloss seine zukunftsweisende Rede mit den Worten: ‚Ich bin gewiss, dass uns das unter der Führung der Partei der Arbeiterklasse gelingen wird.‘“

Als Louis Stillmark am Abend erzählte, was übers Kombinat in der Zeitung gestanden habe, rastete August Stillmark völlig aus. „Unser Acker und unsere Wiese werden diesem Neubau zum Opfer fallen. Auf unserem Grund und Boden werden sie das Kombinat errichten“, schrie er. „Zuerst nimmt man uns das Land, dann verleibt man sich die Produktionsgenossenschaften ein, und wir verlieren unsere Freiheit.“

„Ganz so schlimm wird es schon nicht werden“, sagte Lisbeth Stillmark. Aber es gelang ihr nicht, ihren Mann zu beruhigen, und Wolfgang, der Zeuge von August Stillmarks cholerischem Anfall war, verstand die Reaktion seines zukünftigen Schwiegervaters nicht. Er verstand nicht, wie man sich so gegen den Fortschritt stellen konnte.

Bis auf den cholerischen Anfall August Stillmarks war während der vier Wochen, die Wolfgang in Arnsbach verbracht hatte, nichts geschehen, was sich grundlegend von seinem ersten Besuch in Arnsbach unterschieden hätte.

Die Gepflogenheiten im Stillmarkschen Haus waren immer dieselben. Der Alltag verlief in festen Bahnen, und die Rollenverteilung war streng geregelt.

August Stillmark lebte seine Hobbys aus. Er war Hundezüchter, Zuchtrichter, Konzert- und Kirmestrompeter. Und er war der Herr im Haus.

 

Lisbeth Stillmark hatte zu gehorchen. Sie hatte für sein leibliches Wohl zu sorgen und jeden Tag ein frisch zubereitetes Essen auf den Tisch zu bringen. Die Speisen, die sie kochte, mussten August Stillmark bekommen und magenverträglich sein.

So konnte Lisbeth Stillmark, die sich um den Haushalt, die Hunde und die Hühner zu kümmern hatte, nur halbe Tage in der Buchhaltung eines kleinen Holzbetriebs arbeiten.

Meistens kam sie halb zwölf nach Hause und kochte das Essen für ihren Mann und ihren Schwiegervater, und halb zwei, wenn sie mit dem Abwasch fertig war, ging sie wieder an die Arbeit, damit sie wenigstens auf sechs Stunden am Tag kam. Es waren widrige Umstände, in die sich Lisbeth Stillmark im Laufe ihrer Ehe gefügt hatte.

Am letzten Freitag im Februar ließ Wolfgang seine Examensarbeit grau einbinden und lud Heidi anschließend zum Kaffeetrinken in den „Hessischen Hof“ ein. Als sie sich zur Feier des Tages am hellen Nachmittag mit Rotwein zuprosteten, sagte Heidi: „Ich freue mich schon auf die Zeit, wenn wir zusammen arbeiten und zu Hause alles ausdiskutieren können.“ Ihr fehle jetzt nämlich immer jemand, mit dem sie sich unterhalten könne, gestand Heidi.

„Du glaubst gar nicht, wie mir die Lehr- und Lernmaschinen, die ich täglich um mich habe, zum Hals heraus hängen“, sagte sie. „Du musst mir unbedingt dabei helfen, damit ich mich nicht zu einem hinterwäldlerischen Dorftrampel entwickle.“

„Ich werde mir Mühe geben“, sagte Wolfgang. Seine Staatsexamensarbeit über Claus Hammels „Morgen kommt der Schornsteinfeger“ hatte er am 1. März 1969 im Germanistischen Institut Jena fristgemäß abgegeben.

Vier Wochen später wurde Wolfgang ins Prorektorat bestellt. Der Prorektor fragte Wolfgang, ob er sich schon Gedanken über seinen zukünftigen Einsatzort gemacht habe.

Wolfgang sagte, dass er an eine Landschule gedacht habe. Dabei sei es ihm egal, ob das oben in Mecklenburg oder hier in der Nähe sei. Hauptsache Dorf. Dafür hätten sich Heidi und er entschieden, erzählte Wolfgang.

Aber nur im Rahmen der Familienzusammenführung hätten Heidi und Wolfgang die Chance, eine Wohnung auf dem Lande zu kriegen und gemeinsam an einer Schule unterrichten zu können, erklärte der Prorektor. Aber das setze voraus, dass Heidi und Wolfgang verheiratet seien.

„Unsere Hochzeit ist am Samstag vor Ostern“, sagte Wolfgang. Bei seinem nächsten Gespräch mit dem Prorektor bekam er den Einweisungsschein für Erfurt-Land ausgehändigt.

14. Kapitel

Wolfgang bedauerte, dass seine Großmutter bei seiner Hochzeit nicht dabei sein konnte. Denn Meta Larsen liebte Feiern und Festlichkeiten, Gemütlichkeit und Spaß. Aber als Wolfgang heiratete, wusste sie schon manchmal nicht mehr, was sie tat, und damit seine Eltern in Ruhe und ohne Gewissensbisse feiern konnten, engagierten sie für diesen Tag eine kleine, etwas dickliche Frau mit einem rosigen Gesicht, die sich auf Pflegefälle verstand.

Wochen später war seine Großmutter jedoch schon so verwirrt, dass sie rundum betreut werden musste, und als das nicht mehr von seiner Mutter und einer Pflegerin, die halbtags kam, zu bewältigen war, wurde seine Großmutter Anfang Juni in ein Heim gebracht. Und an Wolfgang war es gewesen, seine Großmutter zum Einsteigen in den Kleintransporter zu bewegen, als sie abgeholt wurde.

Vor der ersten Prüfung besuchte Wolfgang seine Großmutter im Pflegeheim in Sondershausen. Er stand unbeholfen an ihrem Bett und schaute sie an: ihre eingefallenen Wangen, die trockenen Lippen und die knochig-bleichen Hände. Er beugte sich über sie, und sie erkannte ihn zum Erstaunen der Schwester.

Meta Larsen war noch einmal aus ihrer Apathie erwacht.

Wolfgang schüttelte ihr das Bett auf, dann half er ihr, sich aufzusetzen. Es gab kein großes Gespräch mehr zwischen ihnen. Meta Larsen kämpfte verzweifelt gegen ihre Müdigkeit, sie bäumte sich auf gegen ihre Schmerzen und griff nach ihm. Wolfgang spürte ihre Hände, und das Einzige, was er für seine Großmutter noch tun konnte, war, dass er sich zu ihr beugte und sie umarmte. Er konnte sie nicht ansehen, ohne zu heulen, und die Frau, die das Zimmer mit seiner Großmutter teilte, sah den beiden stumm zu.

Als Wolfgang ging, versprach er seiner Großmutter, sie bald wieder zu besuchen. Aber er ahnte nicht, dass er sie das letzte Mal lebend gesehen haben sollte.

Als er nach Hause kam und seine Eltern ihn fragten, wie es Meta Larsen gehe, sagte Wolfgang, das Eingewöhnen falle ihr schwer, und die Schwester habe gesagt, mit unserem nächsten Besuch sollten wir zwei Wochen warten.

In den nächsten drei Wochen galt es für Wolfgang, sieben Prüfungen an der Uni zu bestehen, und er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, wie es seiner Großmutter im Pflegeheim in Sondershausen erging.

Nach der feierlichen Exmatrikulation lief ihm vor der Eingangstür zum Audimax Birgit Hielscher über den Weg. Sie sagte, Wolfgang solle sich nicht wundern, wenn er in Bälde, so drückte sie sich aus, Post vom Zentralrat der FDJ aus Berlin bekäme. Sie habe sein Stück zum Wettbewerb „Junge Dramatiker gesucht“ eingereicht.

Wolfgang, der mehr als erstaunt darüber war, ging mit Birgit auf einen Sprung in die Kaffeestube, und dort erzählte sie ihm, wie blöd sich Hetzel benommen habe, als er für das Aus von Wolfgangs Stück gesorgt hatte. „Ich habe seine Machenschaften nicht erkannt“, sagte sie, und es tat ihr noch immer leid, dass Wolfgangs Stück von der Studentenbühne nicht aufgeführt worden sei. Und mehr als unglücklich war die Hielschern, dass sie sich Brechts „Kleinbürgerhochzeit“ aufs Auge hatten drücken lassen. Sie ging fest davon aus, dass die Inszenierung ein Flop werden würde. „Wen interessieren schon die paar Zoten, die da gerissen werden“, sagte sie. Selbst wenn man das Stück mit ein paar Liedern aufpeppen würde, wäre es nicht zu retten.

Stunden später hatte Wolfgang mit dem dicken Höhn und Wachsmuth in der „Sonne“ mächtig einen draufgemacht und war erst mit dem 0-Uhr-15-Zug von Jena nach Hause gefahren.

Am nächsten Mittag lag er noch im Bett. Er bekam kaum die Augen auf, als das Telefon, das im Korridor stand, nicht aufhören wollte, zu klingeln. Er hatte mächtige Kopfschmerzen, als er den Hörer abhob. „Endlich“, sagte eine Frauenstimme, und Wolfgang erfuhr, dass seine Großmutter gestorben war.

Wolfgang war völlig aus dem Gleichgewicht. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er war 24 Jahre alt. Er hatte das Staatsexamen in der Tasche und durfte sogar in den elften und zwölften Klassen unterrichten. Er war gewohnt, Prüfungen abzulegen. Aber im Entgegennehmen von Todesnachrichten war er völlig ungeübt.

Er ertrug den Korridor nicht mehr. Erst recht nicht die Wohnung. Er stürmte aus der Tür und sprang das Treppenhaus hinunter. Er rannte durch Straßen, und erst als er hinterm Bahnhof die Steinstufen zum Stadtpark vor sich sah, fiel ihm ein, dass er Vater und Mutter hätte anrufen können. Aber er rannte weiter durch den Park.

Zum ersten Mal seit Jahren dachte er: Vielleicht kann Vater mir helfen? Und zum ersten Mal seit Jahren ging er zu ihm ins Büro, und zum ersten Mal seit Jahren dachte er: Hoffentlich ist Vater da.

Er konnte seinen Vater nicht ansehen, als er sagte: „Oma ist tot.“

Die Trauerfeier fand in einer kleinen Kapelle am Rande des Hauptfriedhofs statt, und der junge, rundgesichtige Pfarrer mit den schwarzen, streng gescheitelten Haaren sagte: „Meta Larsen war neunundsiebzig Jahre alt, als sie starb“, und rhetorisch gekonnt beschrieb er die Lebensfahrt von Wolfgangs Großmutter, die am 30. Januar 1890 begonnen und Ende Juli 1969 im Pflegeheim in Sondershausen zu Ende gegangen war: Meta Larsen wurde als uneheliches Kind in der Kolonie Michelsdorf geboren. Der spätere Stiefvater mochte sie nicht, und so wuchs Meta Larsen bei ihren Großeltern auf, die eine Stellmacherei hatten. Der Stiefvater war Geigenbauer, stammte aus Lampertsdorf und zog, sobald er ein Instrument an den Mann gebracht hatte, oft mit Zigeunern umher, und so hatte ihre Mutter Anna Wrensch, die in Weigelsdorf wohnte, ein schweres Los. Sie war Weberin und lebte von der Heimarbeit, die sie machte.

Meta Larsen ging schon in jungen Jahren in Stellung bei feinen Leuten. Aber mit ihren Ehen hatte sie Pech.

Als sie Franz Paulitschek im Jahre 1913 heiratete, wusste sie nicht, dass sie ein Jahr später – mit vierundzwanzig Jahren – Witwe sein würde. Ihr erster Mann fiel im Ersten Weltkrieg. In Flandern sei er gefallen, hieß es. Mit 27 Jahren heiratete sie Heinrich Larsen, ihren zweiten Mann, und schenkte ihm drei Kinder. 1928 beschlossen sie, ein Haus zu bauen. Sie bezogen es im Herbst 1929. Ein Jahr später kam ihr Mann bei einem Grubenunglück ums Leben.

Meta Larsen war Kranzbinderin, sie hatte drei Kinder, die es durchzubringen galt. Sie waren zwölf, neun und sieben Jahre alt, und die Hypothek auf das Haus galt es abzuzahlen.

Dann kam der Zweite Weltkrieg, und Heinrich, ihr Sohn, fiel am 23.3.1942 in einem Gefecht bei Bossino/Russland, zirka 75 Kilometer südostwärts von Petersburg. Dass ihr Sohn „für die Größe und den Bestand von Reich, Führer und Volk gefallen war“ und in Tschudskoj-Bor bei Bossino in einem Einzelgrab lag, war kein Trost für sie, und sie war nahe daran, sich das Leben zu nehmen.

Der Erste Weltkrieg hatte sie mit vierundzwanzig Jahren zum ersten Mal zur Witwe gemacht, mit 40 Jahren war sie durch das Grubenunglück in Hausdorf zum zweiten Mal Witwe geworden, und der Zweite Weltkrieg nahm ihr den Sohn, auf den sie so große Hoffnungen gesetzt hatte. Er war Theatermaler in Berlin gewesen und hätte ein großer Künstler werden können.

Im Jahre 1943 überwies sie die letzte Monatsrate, und die Hypothek auf das Haus war getilgt. Sie war unheimlich froh. Denn zum ersten Mal seit 15 Jahren war sie schuldenfrei und das Haus gehörte ihr. Aber drei Jahre später, im Oktober 1946, wurden sie aus Schlesien vertrieben, und sie mussten das Haus in Hausdorf verlassen.

Für Meta Larsen, ihren Schwiegersohn, ihre Tochter und ihren Enkel begann auf dem Gleis zwei des Glatzer Hauptbahnhofs eine Odyssee ohne Wiederkehr. In Güterwaggons gepfercht, fuhren sie mit einem Sammeltransport durchs zerstörte Nachkriegsdeutschland.

Das Gepäck bestand aus einem Reisekorb auf Rädern, worin sich alles befand, was Wolfgangs Eltern und seine Großmutter nun besaßen.

Vertreibung, Erster und Zweiter Weltkrieg: Wie ein großes Geschichtsbuch, das er nur ungenügend kannte, kam Wolfgang das Leben seiner Großmutter vor. Ihm wurde bewusst, dass er die Orte, in denen seine Großmutter gelebt hatte, nicht kannte. Schlesische Dörfer wie Michelsdorf oder Weigelsdorf hatten polnische Namen bekommen, und da die deutschen Namen auf polnischen Landkarten fehlten, wusste Wolfgang nicht, wo die Lebenslandschaften seiner Großmutter lagen.

Am Tag ihres Begräbnisses wurde ihm klar, dass er so gut wie nichts über seine Herkunft und seine Vorfahren wusste, und nur in den Geschichten seiner Großmutter spielte sein Geburtsort, den er nicht kannte, eine Rolle. Märchenhaft dunkel und tragisch war, was seine Großmutter ihm über Hausdorf erzählt hatte.

Es war heller Vormittag, als Wolfgang am Grab seiner Großmutter stand und an die letzte Begegnung im Pflegeheim denken musste: Als er zum werweißwievielten Mal seiner Großmutter das Kopfkissen und die Bettdecke umgedreht hatte – es war heiß an diesem Tag – hatte sie „Durst“, gesagt und war sich mit der Zunge über die trockenen Lippen gefahren. Sie sagte: „Bier ..., a Flaschla Bier!“

Daraufhin sagte er: „Mach’s gut. Ich komme gleich wieder.“ Und schrittweise bewegte er sich mit dem Rücken zur Tür. Seine Großmutter winkte, und er winkte zurück. Dann ließ sich Meta Larsen auf das hochgebettete Kopfkissen fallen, und Wolfgang hielt es nicht mehr aus. Er stürmte aus dem Zimmer und an den offenen Türen vorbei. Er hörte seine Großmutter: „A Flaschla Bier, a Flaschla Bier bring‘ mir noch.“ Aber er war unfähig, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, und er ließ sie warten bis an ihr Ende.

Dabei war sie es gewesen, die ihn getröstet hatte, als seine über alles geliebte Katze spurlos verschwand und er sich aufs Sofa warf und furchtbar heulte. Da setzte sich seine Großmutter zu ihm und strich ihm tröstend über seinen Kopf. „Man darf sich nicht unterkriegen lassen“, hörte er seine Großmutter sagen.

Langsam und vorsichtig wurde der Sarg seiner Großmutter an zwei Seilen in die Erde gelassen. Die Trauergemeinde, die sich ums Grab scharte, war klein, und Heidi stand neben Wolfgang. Sie sang mit ihrer hellen, klaren Stimme „Jesu geh‘ voran.“ Und Wolfgang merkte zum ersten Mal, dass Heidi christlich erzogen war und die gängigsten Kirchenlieder kannte, die zu Traueranlässen gesungen wurden.

 

Aufgefordert, ans Grab zu treten, warf er eine Rose und ein Schäufelchen Erde auf den braunen Sarg. Dann trat er zurück in den Kreis der Schwarzgekleideten.