Leben ohne Maske

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7. Kapitel

Wenige Tage vor dem gemeinsamen Ostseeurlaub rief Heidi an. Sie könne nicht mit zum Zelten fahren, ihre Mutter liege mit einer Blinddarmentzündung im Krankenhaus und müsse operiert werden. „In dieser Zeit muss ich mich um den Haushalt kümmern“, sagte Heidi. Ihr Vater und ihr Großvater müssten von ihr bekocht werden. Wenn Wolfgang sich entschließen könnte, nach Arnsbach zu kommen, wäre sie sehr froh, meinte Heidi.

Einen Tag vor Heidis Geburtstag fuhr Wolfgang mit dem 14-Uhr-30-Zug von Erfurt in Richtung Meiningen und stieg nach einer Stunde Bahnfahrt in Zella-Mehlis um. Dann ging es mit einer Dampflokomotive auf einer einspurigen Nebenstrecke bis zur ersten Haltestelle in Birkenhall, und von da aus musste Wolfgang drei Kilometer zu Fuß zurücklegen, bis er das Stillmarksche Haus am Rande von Arnsbach erreicht hatte.

Nichtsahnend trat er durch das Hoftor, das sperrangelweit offen stand. Kaum hatte er den Hof betreten, rannten ihm drei kläffende Dackel entgegen. Angst durchzuckte ihn. Er stand wie angewurzelt und hielt den Atem an, als einer der Dackel an ihm hochzuspringen versuchte.

In diesem Moment ertönte ein Pfiff. Ein Mann um die vierzig kam um die Hausecke herum. Die Dackel rannten zu ihm „Hunde, die bellen, beißen nicht“, sagte er und lachte, als er sah, wie vorsichtig Wolfgang auf ihn und die Hunde zukam.

August Stillmark hatte ein rundes Gesicht und auffallend große, wasserblaue Augen. Seine Kinnpartie schimmerte rosig und glatt wie bei einem Kind. Seine dunkelblonden Haare lagen streng gescheitelt altmodisch nach hinten gekämmt. Er war mittelgroß und etwas übergewichtig.

„Du also bist Heidis neuer Freund“, sagte er. Anscheinend hatte er keine Ahnung, dass seine Tochter wild entschlossen war, diesen schlaksigen Kerl mit dem blässlichen Vogelgesicht und den schulterlangen Haaren zu heiraten.

Heidi kam aus dem Haus, fiel Wolfgang um den Hals, und schien sich riesig zu freuen, dass er gekommen war. Sie nahm ihm den Campingbeutel ab und sagte: „Komm rein!“

Sie führte ihn in eine kleine Kammer, in der nur ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Tisch und ein alter Holzstuhl standen. Es war die frühere Wurstkammer, und Heidi meinte, als sie Wolfgangs missmutigen Blick sah: „Für ein paar Tage geht es schon mal. Und viel wirst du sowieso nicht in diesem Zimmer sein.“

Wenig später rief Heidi durchs Haus: „Opa, wir kommen kurz mal hoch zu dir“. Ihr Großvater saß in einem bequemen Sessel seitlich vorm Fenster. Um sich besser unterhalten zu können, wechselte der alte Mann vom Sessel auf das schmale, kurze Sofa. Am Küchentisch sitzend, hatte er nun Heidi und Wolfgang besser im Blick, die ihm gegenüber auf den alten, weiß gestrichenen Stühlen Platz nahmen.

Louis Stillmark war 80 Jahre alt und sah aus, wie man sich einen Großvater vorstellt, der weißhaarig und weise und immer milde gestimmt seiner geliebten Enkelin Geschichten von früher erzählt.

„Ich kann kaum glauben, dass es, auf den Tag genau, 22 Jahre her sind, dass Karoline und ich deine Mutter, die hoch schwanger war, ins Krankenhaus nach Birkenhall gebracht haben“, sagte er. „Als deine Mutter die ersten Wehen bekam, zogen wir uns in aller Eile an und brachten sie zu Fuß ins Krankenhaus. Denn im Dorf gab es keine Hebamme, nicht mal eine Gemeindeschwester. Und ein Auto war weit und breit nicht verfügbar“, erinnerte er sich. „Wir schlichen also los, hinterm Haus ins Feld, am Waldrand entlang und am Mühlenteich vorbei, wo die Russen ein Zelt stehen hatten. Es war zwar gefährlich. Aber es war der kürzeste Weg, den wir kannten. Unterwegs sprachen wir kaum ein Wort und schafften es in einer guten halben Stunde bis zum Krankenhaus. Mit einer kleinen Tasche gaben wir Lisbeth beim Pförtner ab und eilten, so schnell wir konnten, teils im Dauerlauf, teils schleichender Weise, um nicht aufzufallen, nach Hause. Am nächsten Tag dann wurdest du im Birkenhaller Krankenhaus geboren.“

„Und morgen feiere ich meinen 22. Geburtstag auf der Schneidmühle“, meinte Heidi. Das sei mit Lisa, ihrer Patentante, so abgemacht.

Nach dem Abendbrot sagte Heidi, dass sie sich jetzt ums Mittagessen für morgen kümmern müsse und Wolfgang, der ihr beim Kochen nicht unnütz im Weg herumstehen wollte, wechselte von der Küche in die Wohnstube. Er sah sofort, dass hier ein Musiker und Hundenarr zu Hause sein musste. An der linken Wand, von der Tür aus gesehen, stand ein aufgeklapptes Klavier, und auf dem Wohnzimmerschrank gleich rechts lag, zwischen einem wuchernden Asparagus-Stock und einem Rauhaardackel aus weißglasiertem Porzellan, eine löwenzahngelbe Trompete.

Heidis Vater saß auf dem Sofa. Auf dem Wohnzimmertisch vor ihm türmten sich Ausstellungskataloge und Zuchtbücher. „Setz dich doch“, August Stillmark deutete auf einen Stuhl. „Ich will herausfinden, woher die Junghündin abstammt, die mein Schul- und Dackelfreund Hartfried gekauft hat.“

Der Stammbaum sei entscheidend für die Zucht, sagte August Stillmark zu Wolfgang, der es sich im Polsterstuhl ihm gegenüber bequem gemacht hatte. August Stillmark sprach über das Ausleseprinzip bei Teckel-Welpen und bei Wolfgang, der null Ahnung von Hunden hatte, kam der Gedanke an Herrenrasse und Euthanasie auf. Er fand es ungeheuerlich, dass Welpen mit einem Kehlstrich getötet und Teckel mit Epilepsie ausgemerzt wurden.

Als Wolfgang und August Stillmark wenig später ein Bier miteinander tranken und sich über den Tisch zuprosteten, sagte August Stillmark: „Aus Erfurt also bist du.“

„Ja“, antwortete Wolfgang.

„In Erfurt habe ich meinen ersten Dackel erfolgreich ausgestellt.“ 1941, als Zwanzigjähriger habe er zum ersten Mal an einer Ausstellung für Teckel teilgenommen, und seit gut zwanzig Jahren züchte er erfolgreich Dackel, sagte August Stillmark und fing an, seine bisher größten Erfolge aufzuzählen. Dabei betrachtete er ein Bild, das über dem Wohnzimmerschrank hing. Auf dem DIN-A4-großen Foto war „Bärbel v. d. Loibe“ zu sehen, eine rote Langhaarhündin, mit der August Stillmark bei der Hauptzuchtschau im Jahre 1955 den Siegertitel geholt hatte. „Sie lief in der Gebrauchshundeklasse Hündinnen V1“, sagte August Stillmark. Es sei eine Wucht gewesen, wie sie sich gezeigt habe.

Allerdings war die Aufnahme, an der er sich so sehr ergötzte, Tage nach der Ausstellung im Atelier des Stadtfotografen gemacht worden. „Bärbel v. d. Loibe“ stand auf einem kleinen, mit weißer Seide überzogenem Podest und schien das grelle Licht der Fotolampen zu genießen. August Stillmark beschrieb die rote Langhaarhündin, als handele es sich um eine Frau. „Sie hatte auffallend dunkle, ovale Augen, eine schön verlaufende Brustlinie, einen sehr guten Rücken und vorbildliches Haar“, schwärmte er.

Auch Heidi könne die Schönheit eines Dackels beurteilen, sagte er und erzählte voller Stolz, dass sie als Oberschülerin eine Abhandlung über Hunde geschrieben habe. „Ich habe mir diese Arbeit gut aufgehoben“, er gab seinen Sofaplatz für kurze Zeit auf und kramte im oberen Fach des Wohnzimmerschranks, dessen Aufsatz aus einem schmalen Holzteil und einem breiten Glasteil bestand.

August Stillmark wurde fündig und reichte Wolfgang Heidis Arbeit, die den Titel „Der Hund, ein treuer Freund des Menschen“ trug. Als Fünfzehnjährige hatte Heidi diese reich bebilderte Abhandlung angefertigt, und dass sie nur eine Zwei bekommen hatte, ärgerte August Stillmark noch immer. Dem Lehrer, der die Arbeit bewertet hatte, sprach er jeden Sachverstand ab. Heidi verstehe was von Hunden. Sie könne gut mit ihnen umgehen, meinte er.

Als Wolfgang den Schnellhefter aufschlug, fiel ihm eine Postkarte entgegen, die als Lesezeichen diente. Auf der Vorderseite war der Deutsche Doggenrüde „Ajax von Wieland“ abgebildet, der mit den Worten „Kapitaler Deckrüde mit bester Vererbung, mehrfach mit Vorzüglich und ersten Preisen prämiert“ angepriesen wurde.

Auf der Rückseite stand: „Herrn Kapellmeister August Stillmark, Teckelzucht-Anstalt, Arnsbach.“

„Die ist sicherlich an dich gerichtet“, sagte Wolfgang und schob August Stillmark die Karte über den Tisch. „Von meinem besten Freund Oehring“, sagte der. „Obwohl er Dackel züchtete, hielt er sich einen gefleckten Deutschen Doggenrüden.“

Oehring sei immer zu Späßen aufgelegt gewesen und hätte immer schrullig-lustige Karten geschrieben, die nur Eingeweihte verstehen konnten, erzählte Stillmark und gab den Postkarten-Text zum Besten: „Werter Freund Stillmark! Ich suche einen jungen Langhaar- oder Rauhaarteckel-Rüden mit Zettel, gesund & in Ordnung. Falls Du mir einen Tipp geben kannst, wo ich die Dinge finden kann, dann gib bitte Hals & ich erscheine zur Besichtigung & Abnahme.“

Wolfgang verstand nur Bahnhof. Aber August Stillmark wusste, was gemeint war. „Auf gut Deutsch heißt das: Er sucht einen jungen Teckelrüden, der Stammbaum hat, staupe- und tollwutgeimpft ist, Wesen hat und eine vielversprechende Form besitzt. Sobald ich einen solchen Hund gefunden habe, soll ich ihm Bescheid geben, und er kommt, um sich den Teckel anzusehen und zu kaufen.“

Wolfgang erinnerte sich an Nelly und Fricka, Hunde vom blinden Fendrich, die ihm als Kind furchtbare Angst eingeflößt hatten. Er tippte auf das Bild eines Schäferhundes, der rehbraun war, und sagte: „So sah Hasso aus.“ Hasso, der dem alten Scholl in der Unterstadt gehört habe, sei beim Wildern im Wald erwischt und vom Förster erschossen worden, erzählte er.

„Den Kerl, der meinen Hund erschießt, würde ich umbringen“, sagte August Stillmark und verließ seinen Sofaplatz. Er legte die Ausstellungskataloge und Zuchtbücher zurück in den Wohnzimmerschrank, griff nach seiner Trompete und spielte den ersten Satz des Hummel-Konzerts an. Dann sagte er: „Ich habe in Erfurt zwei Jahre lang das Thüringische Landeskonservatorium besucht und 1950 erfolgreich abgeschlossen.“

 

Als August Stillmark sich für das externe Musikstudium in Erfurt entschieden hatte, war er noch Betriebsschlosser auf der Schneidmühle in Silberberg gewesen. Tagsüber schärfte er Sägen und an manchem Wochenende besserte er seinen Lohn auf, indem er in Kirmeskapellen spielte. Oskar Anschütz verstand zwar, dass August Stillmark sich etwas durchs Musikmachen dazu verdiente, aber völlig unverständlich war ihm, dass sein Schwiegersohn Woche für Woche zum Trompetenunterricht nach Erfurt fuhr.

August Stillmark jedoch nahm die beschwerlichen Bahnfahrten nach Erfurt zwei Jahre lang an jedem Wochenende in Kauf, weil er hauptberuflich Musik machen wollte. Er war 29 Jahre alt und sein Lebenstraum war es, erster Solotrompeter in einem Theaterorchester zu werden.

Oskar Anschütz hatte nichts für die Pläne seines Schwiegersohnes übrig. Er brauchte einen Mann, der fest zupacken konnte und immer verfügbar war, wenn auf der Schneidmühle außer der Reihe Arbeiten zu verrichten waren. Selbst im Stall gab es immer etwas zu tun, und für das ständige Trompetespielen seines Schwiegersohnes, der sich Abend für Abend für den Wochenendkurs am Konservatorium präparierte, hatte er kein Verständnis.

„Nicht zum Aushalten war das“, sagte August Stillmark. Und so sei ihm die Entscheidung, ins elterliche Haus nach Arnsbach zu ziehen, nicht schwergefallen. 1949 sei das gewesen, „Butzkes, eine Umsiedlerfamilie aus Schlesien, gingen zu Verwandten nach Hessen, und die Mansardenwohnung wurde frei. Meine Mutter war zwei Jahre zuvor gestorben, und mein Vater war ganz allein im Haus.“

Gleich nach dem Umzug habe er beim Alten in der Schneidmühle gekündigt und die Stelle als erster Trompeter im Schau- und Tanzorchester Birkenhall angenommen, erzählte August Stillmark. Denn von Kindesbeinen an sei es sein Wunsch gewesen, hauptberuflich Musik zu machen. „Als ich zehn Jahre alt war, nahm ich Privatunterricht im Fach Violine beim Großvater meiner Stiefschwester“, sagte August Stillmark. „Während meiner Lehrzeit ließ ich mich im Fach Trompete unterrichten, und als Lehrausbilder habe ich sogar einen Schülerchor geleitet.“

„Ich habe nie ein Instrument gelernt, und ich habe nie im Schulchor mitgesungen“, sagte Wolfgang. Und er gestand, dass er total unmusikalisch sei. August Stillmark wollte das nicht glauben. „Jeder ist musikalisch“, sagte er und begann sofort, Wolfgangs Rhythmusgefühl zu prüfen.

Auf dem Sofa sitzend, nahm er die Position eines Schlagzeugers ein. Mit seinen ausgestreckten Zeigefingern trommelte er Takte auf die Tischplatte. Wolfgang gelang es kein einziges Mal, den vorgegebenen Rhythmus nachzuklopfen.

Das aber hielt August Stillmark nicht davon ab, Wolfgang einem weiteren Test zu unterziehen. Er stellte sich vors Klavier und schlug einzelne Töne an, die Wolfgang nachsingen sollte. Aber Wolfgang traf keinen der angeschlagenen Töne richtig. Er merkte nicht einmal, wenn er einen halben oder ganzen Ton daneben lag.

Für August Stillmark, der ein absolutes musikalisches Gehör besaß, war das nicht zu begreifen. Aber er ließ nicht locker.

Als er gerade dabei war, Wolfgang zu zeigen, wie er die Trompete ansetzen und halten müsse, um einen vernünftigen Ton aus ihr herauszukriegen, schob Heidi ihren Kopf durch die spaltbreit geöffnete Wohnstubentür und bewahrte Wolfgang vor einer weiteren Blamage.

„Das Mittagessen für morgen ist fertig“, sagte sie. „Es gibt Hühnerfrikassee. Wenn du Lust hast, kannst du schon mal davon probieren.“

August Stillmark hatte immer Lust, wenn es ums Essen ging, und so stand er Augenblicke später vorm Gasherd in der Küche und löffelte aus einem großen Topf das heiße Frikassee. Am genüsslichen Schlürfen hörte man, dass es ihm schmeckte.

Bevor August Stillmark am nächsten Morgen das Haus verließ, über die Wiese hinterm Haus ging und der PGH im Feld zustrebte, legte er ein Briefkuvert mit 50 Mark auf den Küchentisch und blies, im Korridor stehend, „Happy birthday to you“.

Wolfgang, den der frühmorgendliche Auftritt aus dem Schlaf gerissen hatte, hörte, wie Heidi von der Balustrade der oberen Etage herab sagte: „Schönen Dank für das Ständchen.“ August Stillmark rief von unten zurück: „Viel Spaß auf der Schneidmühle.“

8. Kapitel

Die Toreinfahrt zur Schneidmühle in Silberberg war doppelt so breit wie die vorbeiführende Hauptstraße, und über der gesamten Toreinfahrt prangte ein gewaltiges Firmenschild aus Holz, das wie ein Riesen-Transparent wirkte. In großen, schwarzen Lettern war zu lesen. „Emil Anschütz, Sägewerk & Zimmerei“.

Wie ein großes L lagen die Gebäude der Schneidmühle vor ihnen. Die Firma Anschütz, die einst 21 Leute beschäftigt hatte, war in den Jahrzehnten ihres Bestehens zu einem Kleinbetrieb geschrumpft und nannte sich jetzt „Metallwaren Emil Anschütz.“

Exzenter lärmten in der kleinen Werkstatt unter der ehemaligen Kutscherwohnung, in der Pfennigabsätze gefertigt und Kofferscharniere gestanzt wurden.

Von der fünfköpfigen Belegschaft arbeiteten drei in der Produktion: Onkel Fritz, Onkel Rolf und Tante Herta. Lisa, Heidis Patentante, war im Kontor beschäftigt und half in der Werkstatt nur mit, wenn Not am Mann war. Oskar, Heidis Großvater, schaute nur ab und an in die Werkstatt. Ansonsten kümmerte er sich nicht um den Metallbetrieb, in dem zwei seiner Töchter und die beiden Schwiegersöhne arbeiteten.

Als Heidi und Wolfgang an der kleinen Werkstatt vorbeigingen, die sich gleich links an einer der Giebelseiten befand, blieb Heidi stehen und sagte: „Falls jemand aus der Verwandtschaft einen Ferienjob oder kurzfristig Arbeit brauchte, war immer ein Exzenter frei.“

Sie standen vor einem niedrigen Fenster. Sie habe oft in den Ferien hier gearbeitet, Heidi zeigte in die kleine, dunkle Werkstatt und versuchte, sich durch lautes Klopfen ans Fenster bemerkbar zu machen. Aber der Lärm in der Werkstatt war so groß, dass niemand davon etwas mitbekam.

Beim flüchtigen Blick durchs Fenster nahm Wolfgang schemenhaft zwei Männer und eine Frau wahr. Der mit der Latzhose, der an der Bohrmaschine stehe, sei Onkel Fritz, und Onkel Rolf sei der mit dem blauen Kittel, der gerade Draht zerschneide, und Tante Herta sitze mit dem Rücken zu ihnen an einem Exzenter, erklärte Heidi. „Aber die lernst du ja alle noch heute Nachmittag kennen. Spätestens heute Abend.“

Tante Lisa, die auf Heidi und Wolfgang gewartet hatte, nahm sie an der Haustür in Empfang. Sie war eine füllige, vollbusige Frau, die eine gewisse Warmherzigkeit ausstrahlte. Ihr Blick jedoch wirkte etwas kalt, was ihren grün-grauen Augen geschuldet war. Sie trug eine weiße, kurzärmlige Sommerbluse, die ziemlich tief ausgeschnitten war, und ihr cremefarbener Rock, der handbreit über ihren dicken Knien endete, spannte etwas über ihrem Unterbauch.

Lisa war 37 Jahre alt, und ihr vierjähriger Sohn, eines von drei Kindern, hing ihr im wahrsten Sinne des Wortes am Rockzipfel. Scheu und verschämt gab er Heidi und Wolfgang die Hand. Dann hüpfte er ausgelassen durch den dunklen Flur vor ihnen her.

Als Wolfgang und Heidi die große Bauernküche betraten, unterbrach Minna Anschütz ihr Hantieren am Herd.

Heidis Großmutter war klein und zierlich. Ihre grauen Haare, die glatt nach hinten gekämmt waren, wurden durch einen Knoten zusammengehalten. Weil es ihr streng konservativ eingestellter Mann so wollte, trug sie auch an diesem heißen Augusttag eine Alltagstracht, zu der ein langer, schwarzer Rock gehörte.

Minna freute sich über Heidis Besuch, drückte sie fest an sich und gratulierte ihr zum Geburtstag. Dann erkundigte sie sich sofort danach, wie es der Großen gehe. Heidis Mutter Lisbeth, die Älteste ihrer Töchter, war für sie die Große, obwohl sie die Kleinste war, und die jüngste Tochter war für sie die Kleine, obwohl sie die Größte war.

Wolfgang setzte sich unbeachtet auf einen Stuhl in der Ecke.

Heidi sagte, dass ihre Mutter vielleicht schon am nächsten Montag aus dem Krankenhaus entlassen würde.

Minna war erleichtert darüber und setzte die Kartoffeln auf. „Und was macht dein Vater so?“

„Fast jedes Wochenende tritt er auf irgendeinem Sommerfest auf“, sagte Heidi. „Heute Morgen hat er für mich ‚Happy birthday‘ gespielt.“

Während des Mittagessens lernte Wolfgang auch Heidis Großvater kennen, der ihm am Nachmittag sein einstiges Imperium zeigte.

„Vor hundert Jahren wurde der Betrieb gegründet, und vor zehn Jahren musste ich die Zimmerei und das Sägewerk aufgeben“, sagte Oskar Anschütz und schob das schwere Holztor des Sägewerkes, das auf rostigen Metallrollen lief, mit einem Ruck in der Mitte auseinander.

Heidis Großvater war groß und kräftig. Er hatte ein rundes Gesicht, tiefbraune Augen und einen grauen Stoppelbart wie Hemingway, und sein kerzengerader Gang ließ vermuten, dass er einst ein guter Turner gewesen war. Zur Feier des Tages trug er eine schwarze Anzughose, ein langärmliges, weißes Hemd und eine schwarze Weste mit einem grau-glänzenden Rückenteil aus Seide.

Seinen Rundgang durch die kühle, schummrige Dunkelheit der Schneidmühle begann er am Gatter, dem Herzstück des Sägewerks, das nur noch ab und an schlug, wenn Oskar Bamberg für gute Freunde oder Nachbarn aus großen, dicken Stämmen Bohlen schnitt.

Einige Meter hinterm Gatter befand sich ein viereckiger Einstieg, der hinunter in den Spänebunker führte. Der Spänebunker war dunkel und gruselig, denn nur von oben fiel Licht ein. Und Wolfgang, der an Höhenangst litt, war beeindruckt, wie Oskar Anschütz mit seinen 69 Jahren die schmale, lange Holzleiter im Zimmermannsgang hinabstieg. Er war unerschrocken, und Angst vor Ratten, die Wolfgang beim Abstieg in das dunkle Loch befiel, schien er nicht zu haben.

Nachdem der Spänebunker inspiziert worden war, folgte Wolfgang Heidis Großvater in einen nach Hobelspänen riechenden, großen Raum, durch dessen Dielenritzen das Grün der Wiese schimmerte und der Bach, der an der Mühle vorbeifloss, deutlich zu hören war. „Auf dieser Maschine“, sagte Oskar Anschütz, „hoble ich noch heute Fußbodenbretter für die Leute – so nebenbei.“ Anfang der dreißiger Jahre sei diese Spezialhobelmaschine das Modernste gewesen, was es auf diesem Gebiet gegeben habe, wusste er zu berichten. Fürs Hobeln der Fußbodenbretter sei nur noch ein Arbeitsgang nötig gewesen. Unter- und Oberseite wurden erstmals gleichzeitig bearbeitet.

Und dass Oskar Anschütz zur gleichen Zeit zwei Francis-Turbinen in Betrieb genommen habe, erfüllte ihn noch immer mit Stolz. Er habe einen Kunstgraben angelegt, um die Wasserkraft besser nutzen zu können, und mit den zwei Turbinen habe er sich unabhängig von der Stromversorgung gemacht, die während des Krieges und in der Nachkriegszeit oft zusammengebrochen sei.

Oskar Anschütz griff nach einem großen Hebel an der Wand und sagte: „Den brauchte ich nur runterziehen, und Strom für die Maschinen, das Licht im Haus und im Stall war da. Wir waren unabhängig von dem, was geschah. Und durch die Landwirtschaft, die wir hatten, konnten wir uns selbst versorgen. So kamen wir über die schlechten Zeiten, ohne Hunger zu leiden.“

Mit jedem Wort, das dem wortkargen Oskar Anschütz über die Lippen kam, mit jedem Schritt, den Wolfgang in eine ihm unbekannte, nach Harz, Sägespänen und Rinde riechende Welt tat, wurde er in die wechselvolle Geschichte der Schneidmühle hineingezogen, die im Jahre 1867 begonnen hatte. Da nämlich hatte der Dielenschneider Christian Anschütz sich mit seiner zweiten Frau Johanna Regina und sechs Kindern in Silberberg niedergelassen und aus einer alten Ölmühle eine konkurrenzfähige Schneidmühle gemacht.

Der Rundgang durch die schummrige, spinnwebige Dunkelheit der Schneidmühle endete, wo er begonnen hatte: am Gatter, dem Herz des Sägewerks, das kaum noch schlug. Denn 1957, in sozialistischer Zeit, ließen sich Zimmerei und Sägewerk nicht mehr halten. Dem Privateigentum an Produktionsmitteln wurde zu Walter Ulbrichts Zeiten der Garaus gemacht, und Betriebe in der Größenordnung von der Schneidmühle Anschütz wurden verstaatlicht oder kaputtgemacht.

„Um das Unternehmen zu retten, mussten wir die Produktion umstellen und die Beschäftigten-Zahl auf unter zehn herunterfahren“, sagte Oskar Anschütz und trat, zusammen mit Wolfgang, aus dem dunklen Tor der Schneidmühle in das gleißende Sonnenlicht dieses heißen Augusttages.

Sie standen auf dem leeren, kiesgrauen Holzplatz, auf dem sich früher unzählige Holzstapel getürmt hatten, und Heidis Großvater sagte: „Vor zehn Jahren bekam ich nicht mehr die Holzzuteilungen, die ich brauchte, und die Schneidmühle war nicht mehr zu retten.“

 

Er blickte auf die Stallungen, die sich zwischen der Schneidmühle und dem Wohnhaus befanden: „Früher holten wir das Langholz mit eigenen Fuhrwerken aus dem Wald, und neben der Schneidmühle betrieben wir eine große Landwirtschaft. Wir hatten Pferde und Kühe und Schweine. Und Geflügel sowieso. Aber seit der Kollektivierung der Landwirtschaft vor zehn Jahren ist das vorbei.“

Wolfgang hörte Heidi sprechen und während Oskar Anschütz an den Stallungen vorbei auf das Wohnhaus zulief, folgte Wolfgang Heidis Stimme. Er fand Heidi und Tante Lisa auf der Wiese hinterm Haus im Schatten eines alten Apfelbaums. Sie unterhielten sich laut. Theo saß am seichten Wasser des Baches. Er hielt eine Weidenrute in der Hand und tat, als würde er angeln.

Von der Wiese aus sah Wolfgang an der Rückseite der alten Schneidmühle hoch, und ihm kam die Schneidmühle wie eine Arche vor, die Oskar Anschütz über schwierige Zeiten wie Inflation und Weltwirtschaftskrise, Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg, Nachkriegszeit und das erste Jahrzehnt DDR gebracht hatte.

„Hat er dir erzählt, dass er vor der Inflation der reichste Mann im Dorf war?“, fragte Tante Lisa, die schwer im weichen Gras lagerte. „Nein“, sagte Wolfgang. „Er hat nur von einem kleinen, schwarzen Notizbuch gesprochen, in dem er damals genau festhielt, was er den elf Zimmerleuten an Wochenlohn zahlte.“

„Das kann ich dir zeigen!“ Lisa stand auf, zupfte sich die trockenen Grashalme von ihrem Rock, und Wolfgang folgte ihr ins Kontor, in dem Lisbeth Stillmark gearbeitet, Rechnungen geschrieben und vielleicht auch Courths-Mahler gelesen hatte.

Das Kontor war klein. Vorm Fenster zum hinteren Garten stand ein großer, schwerer Schreibtisch. An der Wand links hing ein riesiger Stammbaum, auf dem die Anschützens bis ins sechste Glied lückenlos aufgeführt waren, und in die Wand rechts war ein Tresor eingelassen. Tante Lisa öffnete ihn und gab Wolfgang das kleine, schwarze Notizbuch zu lesen. Ein Wilhelm Möller bekam während der Inflationszeit Anfang Oktober 1923 vier Millionen Reichsmark als Wochenlohn, las Wolfgang. Anfang November waren es bereits 300 Milliarden 300 Millionen, die Oskar an Wilhelm Möller zahlte. Auch eine Ausgabe des Thüringer Hausfreunds vom 7. April 1923 wurde wie ein Heiligtum behandelt und im Tresor aufbewahrt. Im lokalen Anzeigenteil stand, dass der Zimmermeister und Sägewerksbesitzer Emil Anschütz infolge einer schweren Operation im vollendeten 60. Lebensjahr am 6. April 1923 gestorben sei. Und von historischem Wert, wie Wolfgang fand, war die Titelseite, auf der vermeldet wurde: „Eben erhalten wir ein Telegramm aus Moskau, nach dem Lenin an den Folgen eines Herzleidens gestorben ist. Mit ihm barst eine Säule, die das neue Rußland getragen hat. Sein richtiger Name war Wladimir Iljitsch Uljanow.“

Ein Tresor voller historischer Raritäten, dachte Wolfgang und gab Lisa die Zeitung und das schwarze Notizbuch zurück.

Durch das einzige Fenster des Kontors konnte Wolfgang sehen, wie Heidi auf der Wiese hinterm Haus mit Theo Fußball spielte, und Lisa sagte: „Wenn du genau wissen willst, wen du da zur Freundin hast, solltest du mal einen Blick auf diesen Stammbaum werfen.“

Wolfgang bestaunte die weitverzweigte Ahnenreihe, die den Platz einer halben Wand einnahm, und Lisa, die in der Verwandtschaft als die große Bewahrerin angesehen wurde, deutete auf den Namen ihres Ur-Ur-Großvaters Heinrich Anschütz, der am 7. Februar 1784 in Zella-Mehlis geboren und Kohlenbrenner gewesen war.

Sich intensiv mit dem Stammbaum der Anschützens zu beschäftigen hätte bedeutet, der Geschichte von Johann Heinrich Anschütz, seinem Sohn Christian und dessen Sohn Emil und dessen Sohn Oskar und dessen Kindern und Kindeskindern nachzugehen und sich eingehend mit dem Schicksal von Kohlenbrennern und Dielenschneidern, von Schneidmüllern und Zimmermeistern zu befassen. Aber dazu war keine Zeit an diesem Nachmittag. Denn in der grau gestrichenen Gartenlaube, die Oskar Anschütz vor Jahrzehnten selbst gezimmert und aufgestellt hatte, saßen bereits Heidi, Minna, Oskar, Onkel Rolf, Tante Herta, Onkel Fritz und der kleine Theo am Geburtstagstisch.

Als Tante Lisa und Wolfgang sich zu ihnen setzten, pustete Heidi die 22 Kerzen aus, die flackernd auf dem reich gedeckten Tisch standen, und schnitt zur Feier des Tages die Schwarzwälder Kirschtorte an. Bis in den späten Abend hinein wurde gefeiert und getrunken. Man probierte die Erdbeerbowle, die Minna gemacht hatte. Man trank Bier und prostete sich mit Schnaps zu. Man stieß mit Wein an und ließ die Sektkorken knallen.

Als Tante Lisa ihren Sohn, der total übermüdet war, ins Bett brachte, verließ auch Oskar Anschütz die Geburtstagstafel. Auch er ging ins Bett, obwohl es noch hell war. „Er geht zwar mit den Hühnern ins Bett. Aber morgens steht er nicht mit ihnen auf“, kommentierte Onkel Rolf Oskars vorzeitigen Aufbruch.

„Vor neun lässt er sich kaum blicken“, sagte Fritz. Und Rolf, der voller Häme gegen den Alten schien, wollte von Wolfgang unbedingt wissen, was Oskar Anschütz ihm beim großen Rundgang durch die Schneidmühle so erzählt hatte.

„Er hat mir erzählt, dass er noch heute auf der Spezialmaschine, die er Anfang der 30er-Jahre angeschafft hat, für die Leute Fußbodenbretter hobelt.“

„Und hat er dir auch gesagt, was er mit dem Geld macht?“

„Nein.“

„Das trägt er in den Konsum. Dafür kauft er sich Schokolade, die er heimlich isst, und Schnaps“, sagte Tante Herta erbost. Im Gegensatz zu Lisa war sie flachbrüstig, schielte leicht und hatte ein mausgraues Kostüm an, unter dem sie eine herrenhemdartige, hoch geschlossene Bluse trug.

„Vorgestern“, sagte Rolf, „hat sich Oskar den Kopf mit Kampferspiritus eingerieben, weil sein Eiswasser alle war. Und als er merkte, dass seine Kopfhaut zu brennen anfing, hat er geschrien, und ich habe ihm eine ganze Dose Panthenolspray auf den Kopf gesprüht.“

„Wie eine Frau lief Oskar den halben Tag mit seiner Kopfpackung herum“, sagte Onkel Fritz, und alle lachten.

„Er ist eben ein schrulliger, alter Mann“, sagte Lisa, die ihren Vater nicht weiter dem Gespött preisgeben wollte. Wolfgang sagte, dass er den Schneidmüller bewundere. Er besitze Charisma und sei für sein Alter noch unheimlich vital.

„Vital ist er“, sagte Onkel Rolf, „weil er sich geschont hat, seit ich ihn kenne.“

„Wenn wir auf der Wiese standen und Heu machten, lag er auf seinem Sofa, weil er angeblich die Hitze nicht vertrug. Aber wir mussten sie ertragen“, erzählte Onkel Fritz. „Und abends dann, wenn das Heu vom Wagen in die Scheune gegabelt werden musste, spielte er den starken Mann.“ „Komm, Mann“, sagte Tante Herta. „Es ist spät.“ Und Onkel Rolf gehorchte. Bevor er sich jedoch erhob, griff er nach einer dicken, schwarzen Zigarre und steckte sie in die aufgenähte Brusttasche seines kurzärmligen, karierten Campinghemds. „Wegzehrung“, sagte er lächelnd.

„Hast du gesehen, was für ein Nassauer er ist?“, sagte Fritz zu Wolfgang. Die Konkurrenz zwischen den Schwiegersöhnen war spürbar. Jeder der beiden fühlte sich zum Chef berufen. Aber der Alte gab die Zügel nicht aus der Hand.

Nachdem Onkel Rolf und Tante Herta gegangen waren, eröffnete Heidi ihrer Großmutter, ihrer Patentante und ihrem Patenonkel, dass sie sich im nächsten Jahr verloben und in zwei Jahren heiraten wolle.

Daraufhin sagte Lisa: „Mädchen, Mädchen, mach bloß die Augen auf, Heiraten ist kein Pferdekauf.“

„Wenigstens das Mittelstück passt“, meinte Fritz, schenkte Wolfgang Schnaps nach und prostete ihm zu.