Leben ohne Maske

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2. Kapitel

Durch einen dunklen, schweren Windfang betrat Wolfgang die „Weintanne.“ Es war eine geräumige, etwas düster wirkende Kneipe.

Rechts von der Theke war die Gaststube, in der ein paar Stammtisch-Brüder ihr Bier tranken und, vor sich hinpaffend, einen zünftigen Skat droschen. Links von der Theke war die Weinstube, in der an diesem Abend so gut wie niemand saß, und so fiel es Wolfgang nicht schwer, einen Platz zu finden, von dem aus er das ganze Kneipengeschehen gut überblicken konnte.

Auf Ulli wartend, bemerkte er, dass gleich links neben der Theke eine Wendeltreppe mit hellen Holzstufen und einem schwarz gestrichenen Metallgeländer in den ersten Stock ging. Die enge, steile Treppe führte zu den Privaträumen des Gaststättenehepaares und zu Ullis Zimmer, das sich ebenfalls direkt über der Kneipe befand.

Vor der ersten Stufe der Wendeltreppe lag eine gelbe Dogge auf einer kleinen, blauen Kinderdecke. Obwohl sie zu schlafen schien, achtete sie darauf, dass kein Fremder unerlaubt in die Privaträume kam, und Wolfgang, der eine unheimliche Angst vor Hunden hatte, dachte an den blinden Fendrich aus dem Hinterhaus, der an warmen Tagen die Werkstattfenster weit offen hatte und sich jedes Mal furchtbar darüber aufregte, wenn sie als Kinder durch den Vorderhof tobten. Wenn er abends mit seinem Schäferhund den Hinterhof betrat und sie gerade Haschen spielten, übte er Rache: Er hetzte seinen Hund auf sie.

Als Ulli die Wendeltreppe herunter kam, machte er einen großen Schritt über die schlafende Dogge und kam schnurstracks auf Wolfgangs Tisch zu.

Ulli bemerkte gleich, dass in Wolfgang irgendetwas vorging, und er fragte: „Is was?“

„Ich habe deinen Mut bewundert“, sagte Wolfgang.

„Welchen Mut?“

„Wie du über den Hund hinweggestiegen bist.“,

„Der kennt mich doch.“

„Ich hätte trotzdem Angst, über ihn hinwegzusteigen. Auch wenn er mich kennen würde“, erwiderte Wolfgang.

Die Fenster der Weinstube wurden indirekt beleuchtet, und man hatte den Eindruck, dass es draußen heller Tag war. Deshalb und durch den Wein, den Ulli und Wolfgang tranken, verloren sie völlig das Gefühl für die Zeit. Sie entsannen sich ihrer Heldentaten, auf die sie noch immer sehr stolz waren.

„Weißt du noch, in der siebenten Klasse, als wir vor die Schulleitung zitiert und regelrecht verhört wurden?“, sagte Ulli.

„Obwohl uns der Direktor gegenüber saß, gaben wir nicht zu, was Lehrer Hilbich schon lange zugegeben hatte“, sagte Wolfgang. „Drei Tage hielten wir durch, dann sagten wir, was eh schon jedem bekannt war.“

„Weil der Wirt nicht bereit gewesen war, an uns die Zigaretten zu verkaufen, hatte Hilbich Karl vorgegeben, sie seien für ihn, und der Wirt hatte uns daraufhin die gewünschten Zigaretten verkauft“, erinnerte sich Ulli. „Und weil wir versucht hatten, ein moralisch nicht einwandfreies Verhalten eines Lehrers zu decken, bekamen wir einen Verweis.“

„Den Wortlaut des Briefes, der den Eltern per Einschreiben zugestellt wurde, habe ich noch genau im Kopf.“

Wolfgang, der ein phänomenales fotografisches Gedächtnis besaß, kniff die Augen zusammen und sagte den Brieftext, den er vor sich sah, wie ein Gedicht auf: „Ich muss Sie leider von einem Vorfall während des Wandertages der Klasse 7a am Montag, dem 16. September 1957, in Rochsburg in Kenntnis setzen. Ihr Junge hat mit acht anderen Schülern der Klasse im Gasthof zehn Zigaretten und eine Schachtel Streichhölzer gekauft. Jeder gab dazu zehn Pfennige. Ihr Junge und die übrigen Schüler haben dann im Wald eine Zigarette geraucht. Ich bin gezwungen, Ihrem Sohn für dieses Verhalten einen Verweis zu erteilen und diesen in die Schülerpapiere einzutragen. Bitte wirken Sie ebenfalls erzieherisch auf Ihr Kind ein, damit so etwas nicht wieder vorkommt. Reißland. Direktor.“

„Der Verweis war schlimm“, sagte Ulli. „Aber viel schlimmer wäre es gewesen, wenn Reißland von unserem Austritt aus dem Gruppenrat Wind bekommen hätte.“

Wolfgang erinnerte sich noch ganz genau an jenen Morgen, als Ulli ihn auf dem Schulweg gefragt hatte, ob er Radio gehört hätte und wüsste, was in Ungarn los sei.

„Ich hatte mit meinem Vater bis in den späten Abend hinein alle möglichen Nachrichtensender gehört und am nächsten Morgen erzählte ich dir, dass die Russen in Ungarn mit Panzern Leute niederwalzen, und du warst darüber genauso empört wie ich“, sagte Ulli.

„Und als Fräulein Schmalz die Klasse betrat, versuchte sie, einer Ungarn-Diskussion aus dem Weg zu gehen. Man könne nicht viel darüber sagen, meinte die Schmalzen. Aber aus dir sprudelte nur so heraus, was du von den westlichen Nachrichtensendern gehört hattest“, spann Wolfgang die Geschichte weiter. „Und nachdem du Frage auf Frage gestellt hattest, sprach Fräulein Schmalz plötzlich von Konterrevolution. Aber keiner von uns wusste, was unter Konterrevolution zu verstehen war. Denn in Geschichte waren wir erst beim Faustkeil.“

„Als die Schmalzen uns weiszumachen versuchte, dass in Ungarn Feinde am Werk wären, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollten, erklärten wir unseren Austritt aus dem Gruppenrat,und der kleine Herbst, der ‚Eine schöne Ordnung ist das, die Menschen niederwalzt‘ in die Klasse gebrüllt hatte, schloss sich uns an“, sagte Ulli, der damals ihr Wortführer gewesen war.

„Fräulein Schmalz sagte, wir sollten uns das noch einmal gut überlegen. Nächste Woche sei Pioniernachmittag, und da könne man nochmals in Ruhe darüber reden“, erinnerte sich Wolfgang.

„Dass die Schmalzen den Austritt aus dem Gruppenrat nicht an die große Glocke hing, lag vielleicht daran, dass sie eine Woche später in den Westen ging“, sagte Ulli, und süffisant lächelnd fügte er an: „Vielleicht lag es aber auch daran, dass du ihr Lieblingsschüler warst. Sie hielt dich ja für eine poetische Begabung, und ich kann mich noch genau daran erinnern, wie wir uns anhören mussten, was du über einen ‚Nachmittag im Lustgarten‘ geschrieben hattest.“

„Aber mir war es unheimlich peinlich, als die Schmalzen meine Schreibkünste pries und ich meinen Aufsatz als gelungenes Beispiel für eine Schilderung von vorn bis hinten vor der ganzen Klasse vorlesen musste“, sagte Wolfgang.

Auf drei Seiten hatte er beschrieben, was er kurz vor einem Gewitter gesehen und empfunden hatte. Mit der drückenden Schwüle, dem fernen Gewittergrollen, dem aufkommenden Wind, der die Blätter der Büsche und die Zweige der Bäume zauste, hatte sein Aufsatz begonnen, und mit dem Verfinstern des Himmels und dem Tiefflug einer Amsel, die aufgeregt Zuflucht im Gebüsch suchte, hatte er geendet.

„Hatte sie nicht recht, als sie von deiner poetischen Begabung sprach?“

„Mag sein“, wiegelte Wolfgang ab und versuchte, das Thema zu wechseln. Auf einem der bunten Glasfenster war eine üppige Frau mit gelben Weintrauben im Haar zu sehen, und Wolfgang, der eine Vorliebe für vollbusige Frauen mit einem breiten Hintern hatte, fragte neugierig nach der dicken Frau Fendrich aus dem Hinterhaus.

„Die dicke Frau Fendrich ist noch dicker geworden“, sagte Ulli. Er konnte sich denken, warum Wolfgang nach ihr fragte, und als wolle er sich vergewissern, ob seine Annahme richtig sei, sagte er: „Weißt du noch, wie wir zwischen den Bretterstapeln standen und ihr beim Duschen zusahen?“

„Ich habe das Bild noch genau vor Augen“, sagte Wolfgang und erinnerte sich an jenen Abend, als er und Ulli, auf einem Bretterstapel der angrenzenden Tischlerei stehend, aufgeregt zusahen, wie Frau Fendrich das Licht im Badezimmer anmachte und sich in Fensternähe auszuziehen begann.

Wolfgang hockte zwischen den hoch aufgeschichteten Brettern und hoffte, Frau Fendrich möge die Gardine nicht zuziehen. Er sah, wie sie milchfarbig und dickbeinig unter der Dusche stand und das Wasser auf ihren fülligen Körper prasselte, bis die Badezimmerscheiben völlig mit Wasserdampf beschlagen waren.

„Von jenem Moment, da ich die dicke Frau Fendrich unter der Dusche gesehen hatte, kam ich nicht mehr los von ihr, und sie erschien mir sogar im Traum“, sagte Wolfgang. Er hatte ihre schweren Brüste, ihren stark behaarten Unterbauch und ihre dicken, fleischigen Oberarme vor Augen, und in seinen Knabenträumen ergoss er sich in die wuchtigen Schenkel von Frau Fendrich.

Die dicke Frau Fendrich war die erste Frau, die Wolfgang und Ulli nackt gesehen hatten, und nach der dritten Flasche Rotwein legten sie ihre pubertären Kindheitserinnerungen ad acta, und Wolfgang erzählte Ulli, wie es ihm nach seinem Umzug im Februar 1958 in Erfurt ergangen war.

„Als ich nach Erfurt kam, sächselte ich, und ich wurde von meinen Mitschülern ausgelacht, sobald ich den Mund aufmachte“, sagte Wolfgang. „In Muldenburg war ich gewohnt gewesen, unter den besten Schülern zu sein.“

„Der beste Junge“, warf Ulli ein, und Wolfgang sagte: „In Erfurt hingegen gehörte ich plötzlich zu den schlechtesten Schülern der Klasse. Selbst in Lieblingsfächern wie Geschichte, Russisch und Sport versagte ich. Obwohl ich glaubte, in Russisch sehr gut zu sein, bekam ich in der ersten Leistungskontrolle gleich eine Fünf. Ich bekam die erste Fünf in meinem Leben, und das in Russisch, wo ich immer auf Eins gestanden hatte. Frau Segler, so hieß die Russischlehrerin, fand das nicht sonderlich tragisch, denn fast alle Jungen der Klasse standen in Russisch auf Vier. Aber für mich brach eine Welt zusammen. Ich weinte, als ich nach Hause kam, und meine Mutter versuchte, mich zu trösten. Aber sie konnte das Schluchzen und Weinen, das den ganzen Nachmittag lang anhielt, nicht eindämmen.“

„Ich wusste gar nicht, dass du eine solche Memme warst“, warf Ulli ein. „Wenn der alte Burmeister, der zwei Stockwerke unter uns wohnte, nicht gewesen wäre, wäre ich wohl nie auf die Oberschule gekommen“, sagte Wolfgang. „Er war pensionierter Mathematiklehrer und gab mir in einigen Fächern Nachhilfeunterricht.“

 

„Schwierigkeiten, auf die Oberschule zu kommen, hatte ich nicht“, sagte Ulli. „Ich war der beste Junge in der Klasse, und Eichhorn, der gleich neben uns wohnte und Direktor der Erweiterten Oberschule war, ließ sich seine maßgeschneiderten Anzüge, die er brauchte, bei meinem Vater machen. Von daher spielte es keine Rolle, ob ich Arbeiterkind war oder nicht. Wenn du verstehst, was ich meine.“

„Und ob“, sagte Wolfgang. Er war ein Arbeiterkind. Und nur deshalb war er mit seinem mäßigen Notendurchschnitt auf die Oberschule gekommen.

„Das Abitur habe ich mit 1,8 gemacht“, sagte Ulli. Aber seinem Vater und ihm sei klar gewesen, dass es nicht einfach werden würde, einen Studienplatz für Jura zu bekommen.

„Also ließ mein Alter seine Beziehungen spielen und besorgte mir nach dem Abitur eine Arbeit im Archiv der Kreisstaatsanwaltschaft“, erzählte Ulli. „Der Kreisstaatsanwalt, der sich wie Eichhorn all seine Anzüge von meinem Vater schneidern ließ, war der Meinung, durch meine Tätigkeit im Archiv, seine Befürwortung und eine wohlwollende Beurteilung über mich stünden die Chancen für ein Jurastudium nicht schlecht. Und wie er es vorausgesagt hatte, kam es. Jetzt bin ich schon im zweiten Studienjahr. Aber das weißt du ja.“

„Bei mir lief nichts nach Plan“, sagte Wolfgang, „und mit meinem Vater lag ich ständig im Clinch. Besonders nach meinem missglückten Abitur. Meine Prüfung in Geschichte schaffte ich nämlich erst im zweiten Anlauf, und von meinem Vater bekam ich ständig zu hören, was für ein Versager ich doch sei.“

Da er nach dem missglückten Abitur nicht gewusst habe, was er machen sollte, sei er notgedrungen Autoschlosser geworden, meinte Wolfgang. „Als der Berufsberater mir eine anderthalbjährige, verkürzte Lehre als Autoschlosser anbot, dachte ich an die weißen Monteure an den Boxen berühmter Rennstrecken und sagte ‚Ja‘“, erklärte Wolfgang.

„Kann ich verstehen“, sagte Ulli. Denn er entsann sich plötzlich wieder jener Zeit, als sie wie besessen Autogramme von Motorradrennfahrern und Formel-I-Größen gesammelt hatten. Vom kleinen Muldenburg in Sachsen aus schickten sie ihre Wünsche nach Autogrammen in die große Welt. Sie schrieben an Juan Manuel Fangio in Buenos Aires, an Stirling Moss in der Londoner Buckingham Street und an Rudolf Carriciola in Lugano.

„Aber schon nach wenigen Wochen hatte ich die Schnauze gestrichen voll von meiner Autoschlosserlehre, weil mein Traum von den weißen Monteuren an den berühmten Rennstrecken der Welt auf mein Werkstattleben nicht zutraf“, sagte Wolfgang. Auch der Lehrmeister sei ihm mächtig auf die Nerven gegangen. „Wenn ich mal einen dieser beschissenen Bohrer, die nichts taugten, abbrach, sagte er seinen Lieblingssatz zu mir: ‚Jesus musste sterben, und du lebst.‘“

„Ziemlich originell“, sagte Ulli sarkastisch.

„Fand ich nicht“, sagte Wolfgang. „Von Anfang an wollte ich die Lehre schmeißen und ließ mich in der Schule hängen. Als mein Vater mitbekam, dass meine Leistungen in Werkstoffkunde, Fachrechnen und Fachzeichnen mangelhaft waren, tobte er und bestand darauf, dass ich meine Lehre unter allen Umständen zu Ende mache.“

Als er ein halbes Jahr später sein Facharbeiterzeugnis erhalten habe, erzählte Wolfgang, habe er mit einem Mal zu den besten Lehrlingen gehört, und schon während der Feierstunde im festlich geschmückten Rathaussaal habe sein Vater Zukunftspläne für ihn gemacht. Er habe gemeint, Wolfgang müsse unbedingt Kraftfahrzeugingenieur werden.

„Für meinen Vater war das Zeugnis ein Beweis, dass sein Sohn kein Versager war“, sagte Wolfgang. „Für mich jedoch war es weiter nichts als ein notwendiger Abschluss, der es mir erlaubte, eigene Wege zu gehen.“

Auf dem engen Gang zur Toilette ging Ulli hinter Wolfgang her, und als Sohn eines gefragten Maßschneiders fiel ihm sofort auf, dass Wolfgangs Klamotten – die weiche, schwarze Lederjacke, der braune Rollkragenpullover aus Kaschmir und die extra angefertigte Schlaghose aus Glenchek-Stoff – teuer gewesen sein mussten.

Kurze Zeit später, Ulli und Wolfgang saßen wieder an ihrem Tisch in der Weinstube, sagte Ulli: „Tolle Klamotten hast du. Die müssen ganz schön Schmott gekostet haben.“

„Den hab‘ ich in Schwedt gemacht“, sagte Wolfgang. „Pro Monat einen Tausender und mehr.“

„Schwedt klingt gut“, sagte Ulli, „irgendwie aufregend.“

„Klingt nach Großbaustelle des Sozialismus, nicht wahr“, antwortete Wolfgang ironisch.

„Eher nach Knast“, sagte Ulli. „Wenn ich recht informiert bin, kommen alle die nach Schwedt, die während ihrer Armeezeit verknackt werden.

Sie müssen im Stickstoffwerk arbeiten, habe ich gehört.“

„Kann sein“, sagte Wolfgang. „Ich jedenfalls war Motorenschlosser im Erdölverarbeitungswerk. Und auf der Suche nach dem großen Abenteuer war ich in einem ausgefliesten, wohltemperierten Glashaus gelandet, das sich ‚Klopfraum‘ nannte.“

„Erzähl!“ Ulli trank einen Schluck Rotwein und richtete sich auf eine längere Geschichte ein.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, sagte Wolfgang. „Tag für Tag stand ich vor einem lärmenden Einzylinder, dessen Hubraum ich ab und an mit einer Kurbeldrehung veränderte. Ich hatte verbleite und unverbleite Benzinsubstanzen zu prüfen. Stinklangweilig war das.“

Im Theaterspielen habe er den einzigen Ausweg aus diesem Dilemma gesehen, meinte Wolfgang und griff nach seinem Rotwein.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich, auf der Suche nach dem großen Abenteuer, als Kleindarsteller in einem Produktionsstück enden würde, das im Erdölverarbeitungswerk spielt“, sagte Wolfgang zu Ulli. „Ende Juni dann traten wir mit dem Stück ‚Menschen in Bewährung‘ bei den Arbeiterfestspielen auf. Die Uraufführung war im Kleist-Theater Frankfurt/Oder. Und mit großem Pomp bekamen wir beim anschließenden Empfang von Willi Stoph, dem Ministerpräsidenten, die Goldmedaille überreicht. Walter Ulbricht konnte an diesem Tag leider nicht kommen.“

„Hab ich mir gedacht“, witzelte Ulli. Er erhob sein Glas und sagte: „Auf deinen Neubeginn in Jena. Und auf alle Weiber, die wir kennen und lieben.“

Ulli und Wolfgang prosteten sich zu. Aber erst, als der Wirt kam und abkassieren wollte, merkten sie, wie betrunken sie waren.

Als Ulli aufstand und seinen Stuhl laut nach hinten scharrte, sagte er: „Zum Klöße-Essen aber kommst du doch.“ Denn an jedem Wochenende kamen Ullis Eltern nach Jena und aßen mit ihrem Sohn Grüne Klöße, nach dem bewährten Rezept von Ullis Mutter, und irgendeinen Sonntagsbraten.

„Auf jeden Fall“, sagte Wolfgang.

Eine Woche später wurde Ulli geext: Während des Ernteeinsatzes hatte er am Tag der Republik mit drei anderen Jungen seiner Seminargruppe im Suff eine Ulbricht-Briefmarke an den Türrahmen geklebt und sie bespuckt.

Davon aber ahnte Wolfgang nichts, als er volltrunken durchs nachtdunkle Jena lief. Wenn ich es recht bedenke, dachte er, hatte ich während meiner gesamten Schulzeit nur einen einzigen Freund, und das war Ulli. Fast den ganzen Heimweg über sinnierte Wolfgang über das Thema Freundschaft, und er musste unwillkürlich an Melzer Bernd denken.

Bruckners und Melzers wohnten Tür an Tür, und Wolfgang konnte sich noch genau daran erinnern, als Melzer Bernd, der ein Jahr älter war als er, eines Tages bei ihm klingelte und fragte, ob er „Am Fuße der Blauen Berge“ sehen könnte, eine amerikanische Westernserie, die damals im Westfernsehen lief. „Wir sehen kein Westfernsehen“, sagte Wolfgang, obwohl bekannt war, dass auf dem Boden unterm Dach eine Westantenne installiert worden war. Wolfgang log Melzer Bernd an, weil sein Vater das so wollte, denn Westfernsehen war verboten. Also tat Wolfgang, was sich für den braven Sohn eines SED-Funktionärs gehörte: Er wahrte den Schein und log.

Jeder heuchelte sich, so gut es ging, durchs Leben, dachte Wolfgang. Die anbefohlenen Wahrheiten zählten, und die betete er vor, wenn er in der Schule nach irgendwas gefragt wurde. Nur im stillen Kämmerlein legte er den offiziellen Meinungsmantel ab und gehorchte, wie die meisten, seiner Vernunft, um nicht zu verblöden. Er hörte Radio Luxemburg, sah „Panorama“ und las, wenn er Gelegenheit dazu hatte, was verboten war. Auf dem nächtlichen Heimweg in die Mühlenstraße stellte er erschrocken fest, dass er durch die Schule, die Eltern und den Staat zum Lügner erzogen worden war. Das Verleugnen war zu einer Art Gesellschaftsspiel geworden, an dem sich jeder mehr oder weniger beteiligte.

Allein seinem Vater gab er die Schuld, dass er in der Erfurter Zeit keinen Freund wie Ulli mehr gefunden hatte, und er hasste seinen Vater.

Jeden Hausaufsatz, den er schrieb, musste er seinem Vater vorlegen, und es geschah nie, dass sein Vater damit einverstanden war. Wolfgangs Aufsatz war so eine Art Vorlage für seinen Vater, und er arbeitete ihn in seinem Sinne gehörig um.

Es entstand eine „unreine Fassung“, die Wolfgang fein säuberlich abzuschreiben hatte, und während des Abschreibens saß sein Vater neben ihm und achtete streng darauf, dass Wolfgang keine Fehler machte. Aus Angst stellten sich bei Wolfgang Flüchtigkeitsfehler ein, und sein Vater wurde fuchsteufelswild.

Wenn sich Wolfgang verschrieb, musste er den gesamten Text nochmals abschreiben. Wolfgang hatte das Gefühl, alles falsch zu machen und ein Versager zu sein.

Total kaputt kam Wolfgang gegen drei Uhr nachts in seiner Kellerwohnung an. Besoffen, wie er war, schaffte er es gerade noch, sich die Lederjacke und die Schuhe auszuziehen. Er warf sich auf das dicke Federbett und war froh, dass das Karussellfahren in seinem Kopf nach kurzer Zeit nachließ. Aber gegen die Träume, die ihn in seinem Betrunkensein heimsuchten, war er machtlos.

Zuerst zwang ihn Ulli, über die zähnefletschende Dogge zu steigen, dann biss sich der Schäferhund, den der blinde Fendrich nach ihm schickte, an seiner kurzen Lederhose fest, und schließlich kreiste der Traum nur noch um Hasso, einen scharfen bissigen Schäferhund, der dem alten Scholl gehört hatte.

Wolfgang lag im Gras einer Waldlichtung, von großen, dunklen Fichten umgeben. Er war ein kleiner Junge, und seine Großmutter, die Reisig zum Feuermachen sammelte, war im Dickicht verschwunden. Wolfgang hatte Angst, sie könne nicht wiederkommen, und seine Angst nahm zu, als plötzlich Hasso, der wildernde, rotbraune Schäferhund, neben ihm auftauchte. Er jagte, ein Reh hetzend, an Wolfgang vorbei. Dann gab es einen lauten Knall, der ihn in panische Angst versetzte, und Wolfgang schrie nach seiner Großmutter. Aber statt der Großmutter erschien der angsteinflößende Förster, der den Todesschuss auf Hasso abgegeben hatte.

Als Wolfgang erschrocken aufwachte, hatte er noch den Todesschuss und das letzte Aufheulen des Hundes im Ohr und merkte, dass er einen mächtigen Brummschädel hatte. Bei dem Versuch, sich auf die Bettkante zu setzen, wurde ihm speiübel. Aber kotzen musste er nicht. Es war neun Uhr morgens, und für zehn Uhr hatte Hetzel, der Sekretär der FDJ-Grundorganisation, zu einem ersten Treffen eingeladen.

Wolfgang erhob sich ganz langsam, tastete sich an den Stuhl heran, über dessen Lehne seine verknitterte Schlaghose hing. In der Tasche endlich fand er die recht zerknitterte Einladung, auf der stand, was da zwei Stunden lang verhandelt werden sollte. Seine Kopfschmerzen wurden nicht besser, als er las: „Liebe Jugendfreundin, lieber Jugendfreund! Dein Jugendverband wird dich während deines Studiums mit Rat und Tat unterstützen, erwartet jedoch von dir gleichfalls viele Anregungen und eine stetige Bereitschaft zur aktiven Mitgestaltung der Tätigkeit der FDJ an der Universität. Wir sehen unsere Hauptaufgabe darin, dass wir alle Persönlichkeiten werden, die ihre Fähigkeiten und Talente in den Dienst des Sozialismus stellen, die nicht vor Schwierigkeiten zurückschrecken und stets einen parteilichen Standpunkt beziehen.“

Wolfgang, dem der Alk vom Vorabend noch immer ziemlich zusetzte, sagte laut vor sich hin: „Diese Veranstaltung werde ich mir klemmen.“

Da er nicht vorhatte, ein Vorzeige-FDJler oder gar FDJ-Sekretär zu werden, wanderte die Einladung des FDJ-Hochschulsekretärs Hetzel, einem Oberassistenten des Germanistischen Instituts, in den leeren Papierkorb neben dem Schreibtisch.

Wolfgang entschied sich an diesem verkaterten Morgen dafür, sein erstes Studienjahr mit einem Lyrikseminar am Nachmittag und nicht mit einer FDJ-Pflichtveranstaltung am Vormittag zu beginnen.