Leben ohne Maske

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

19. Kapitel

Durch Zufall fiel Wolfgang eine Woche später die September-Ausgabe der Zeitschrift „Theater der Zeit“ in die Hände, und als er las, dass die Theater in Meiningen und Nordhausen einen Dramaturgen suchten, fragte er Heidi, an welchem der Theater er sich bewerben solle.

„Am besten an beiden“, sagte Heidi, von der sich Wolfgang in den Herbstferien beim Abfassen der Bewerbung bereitwillig helfen ließ. Denn offizielle Schreiben waren für Wolfgang immer ein Gräuel. Heidi hingegen machte es nichts aus, Briefe zu schreiben, die nach bestimmten, formalen Regeln aufgebaut sein mussten.

„Zuerst einmal müssen wir schreiben, warum du überhaupt am Theater arbeiten willst“, sagte Heidi zu Wolfgang, der alles ziemlich nervig fand, und sie schrieb: „Da ich mich beruflich verändern möchte, um meine persönlichen Pläne auf künstlerischem Gebiet verwirklichen zu können, frage ich an, ob Sie für die Spielzeit 1971/72 einen Regieassistenten oder Dramaturgen suchen. Wenn das der Fall sein sollte, bitte ich Sie, mir bis Ende November davon Mitteilung zu machen, weil ich bis Dezember meine Kündigung einreichen muss.“

„Nachdem wir gesagt haben, warum du zum Theater willst, müssten wir jetzt all das aufzählen, was Eindruck auf einen Intendanten machen könnte“, sagte Heidi. Es gelte, die interessantesten Dinge aus Wolfgangs Lebenslauf herauszufiltern, meinte Heidi und sie forderte Wolfgang auf, ihr zu erzählen, wie sich seine Theaterleidenschaft von Kindesbeinen an entwickelt habe.

„Da muss ich aber verdammt weit ausholen“, sagte Wolfgang. „Als Oberschüler habe ich mit selbstgeschriebenen Gedichten Rezitationswettbewerbe gewonnen. Während meiner Lehrzeit war ich Mitglied der Jugendbühne in Erfurt, und als ich meine Lehre beendet hatte, ging ich als Motorenschlosser nach Schwedt und spielte in dem Stück ‚Menschen in Bewährung‘ mit, das bei den Arbeiterfestspielen in Frankfurt/Oder mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde.“

„Goldmedaille hin, Goldmedaille her“, sagte Heidi. „Auf deine dramaturgischen Fähigkeiten kommt es an, und die müssen wir mehr in den Blickpunkt rücken.“

Fähigkeiten als Dramaturg habe er sich während seiner Studentenbühnenzeit beim Umarbeiten des Stücks „Der weite Weg“ und beim Erarbeiten von Lesungen und literarischen Programmen erworben, führte Wolfgang an. „Auch habe ich meine Staatsexamensarbeit über die epischen und dramatischen Elemente in ,Morgen kommt der Schornsteinfeger‘ von Claus Hammel geschrieben. Diese Arbeit, die mit ,Sehr gut‘ bewertet wurde, würde ich als wissenschaftliche Untermauerung meiner dramaturgischen Fähigkeiten ansehen.“

Heidi brachte zu Papier, was Wolfgang ihr über seine Schauspiel- und Schreibversuche gesagt hatte, und das, was Heidi gekonnt niedergeschrieben hatte, hörte sich recht dramatisch und schlüssig an.

„Jetzt musst du die Bewerbung nur noch abschreiben und wegschicken“, sagte Heidi zu Wolfgang. „Mal sehen, wer zuerst anbeißt.“

Schon eine Woche später erhielt Wolfgang Antwort aus Meiningen und Nordhausen. „Ich danke Ihnen für die Bewerbung. Da sich erst im Laufe der nächsten Tage entscheiden wird, ob bei uns die Position des Schauspieldramaturgen vakant ist, bitte ich Sie um Geduld. Auf jeden Fall sollen Sie wissen, dass ich an Ihrer Bewerbung interessiert bin und Sie unverzüglich zu Vertragsverhandlungen einladen werde, wenn sich die Situation bei uns geklärt hat“, schrieb der Meininger Intendant.

Da sich aber in den nächsten vierzehn Tagen in Meiningen nichts geklärt hatte, nahm Wolfgang das Angebot des Nordhäuser Intendanten an, der an einem Kennenlernen Wolfgangs sehr interessiert war und ihn für Anfang November zu einem persönlichen Gespräch einlud.

Am ersten Sonnabend im November fuhr Wolfgang für einen Tag nach Nordhausen, saß einen Vormittag lang auf dem breiten Sofa in der Intendanz und unterhielt sich mit Mühlheim, der erst vor kurzem Intendant geworden und von Haus aus Opernsänger (sprich: Heldentenor) war.

„Was wissen Sie eigentlich über diese Stadt und unser Theater?“, fragte Mühlheim provozierend und grinsend.

„Ich weiß nur, dass in Nordhausen der berühmte Doppelkorn gebrannt wird und dass dieses Theater ein Dreisparten-Theater ist, mit Oper, Operette, Ballett und Schauspiel“, sagte Wolfgang. „Aber mehr weiß ich nicht.“

„Das wird sich ganz bestimmt ändern“, sagte der Intendant und begann, Wolfgang über die Aufgaben und die Besonderheiten des Nordhäuser Theaters zu unterrichten.

Die wichtigste Aufgabe des Theaters sei es, auf die Bedürfnisse des Publikums einzugehen, dozierte er. „Da muss man sich schon genau überlegen, wie man das Publikum auf eine Schauspielinszenierung vorbereitet und im Programmheft für das Stück wirbt.“

In der jüngsten Vergangenheit habe man es einfach nicht fertig gebracht, mit dem Programmheft Interesse für wichtige Stücke zu wecken, erboste sich der Intendant. Er griff in die Schublade seines ausladend großen Mahagoni-Schreibtischs und förderte zwei solcher Programmhefte zutage.

In dem Programmheft zu Shakespeares „Maß für Maß“ stand: „Shakespeare zeigt ein Stück der Entwicklung der antagonistischen Klassengesellschaft, deren Inhumanität und Missachtung des Individuums.“

Und Mühlheim schäumte regelrecht, als er Wolfgang die Ankündigung des Stücks „Die Ausgezeichneten“ zu lesen gab: „ ... indem der Autor die verschiedenartigsten Haltungen der Frauen beleuchtet, kommt es zu einer echten Auseinandersetzung um Fragen der Ehrlichkeit im Sozialismus.“

„Wer möchte schon ein Stück sehen, das so angekündigt wird?“, fragte der Intendant.

„Ich jedenfalls nicht“, entgegnete Wolfgang und war sich mit Mühlheim einig, dass Programmhefte verständlich, locker-flockig und unterhaltsam geschrieben sein müssten.

„Um der Rolle als kulturelles Zentrum im Territorium gerecht zu werden, müssen wir neue Wege gehen“, sagte Mühlheim. Es sei daran gedacht, noch im nächsten Jahr, eine zweite Spielstätte zu schaffen. „Für dieses ,Theater unterm Dach‘, das zu einem Treffpunkt junger Leute werden soll, sind Sie der richtige Mann“, er beugte sich über den Schreibtisch. „Denn in Ihrer Bewerbung habe ich gelesen, dass Sie Mitglied der Studentenbühne waren und mit Lesungen und literarischen Programmen, teils mit eigener Lyrik, das Publikum im Studentenkeller begeistert haben.“

Auch müsse in Zukunft mehr Augenmerk auf Uraufführungen und die Zusammenarbeit mit jungen Autoren bei der Entwicklung von neuen Stücken gelegt werden. Nur so könne das Nordhäuser Theater für Berliner Rezensenten interessant werden und sich republikweit einen Namen machen.

Mühlheim gab unumwunden zu, dass es ihn ungeheuer schmerze, wenn interessante Aufführungen seines Theaters überregional kaum zur Kenntnis genommen würden, und er wetterte gegen die arroganten Rezensenten vom „Theater der Zeit“, für die das Nordhäuser Theater hinter den sieben Bergen liege und mit dem abschätzigen Etikett „Provinztheater“ versehen werde.

Und dass nach den Premieren lediglich in der Bezirkspresse eine wohlwollende Empfehlung erschien, die von einem Oberlehrer verfasst wurde, ärgerte Mühlheim ungemein. Nur fundierte Rezensionen könnten die Theaterarbeit weiterbringen.

„Sie wissen also, auf was Sie sich einlassen?“

„Ich denke schon.“

„Wir saufen nicht nur Doppelkorn“, sagte der Intendant. „Wir versuchen auch, gutes Theater zu machen.“ Er brauche einen Mann, der fürs Theater brenne, erklärte er Wolfgang, der schriftstellerische Erfahrungen habe und mit Jugendlichen umgehen könne. „Ein Seiteneinsteiger wie Sie tut uns gut, denke ich. Denn die Gefahr, betriebsblind zu werden und im eigenen Saft zu schmoren, ist an kleinen Theatern besonders groß. Deshalb habe ich mich bei der Vergabe der Dramaturgenstelle bewusst für einen Deutschlehrer und nicht für einen Absolventen der Theaterhochschule Leipzig entschieden.“

Ein Studium der Germanistik und Geschichte sei ein ebenso gutes Rüstzeug für einen Dramaturgen. Mühlheim erhob sich hinter seinem schweren Schreibtisch, ging feierlich und ernst auf Wolfgang zu, der sich ebenfalls vom schweren Ledersofa erhoben hatte, und in der Mitte des großen, hellen Zimmers kam es zwischen Wolfgang und dem Intendanten zu einem, unter Theaterleuten üblichen Handschlagvertrag.

Mitte Januar fuhr Wolfgang ein zweites Mal nach Nordhausen, und zum ersten Mal traf er mit dem künftigen Oberspielleiter zusammen. Felber und Wolfgang übernachteten im selben Hotel. Während des Frühstücks am Samstagmorgen machten sie sich miteinander bekannt, und Felber entschuldigte sich dafür, dass er Wolfgang den Spielplan, über den zu reden war, erst vor einer Woche zugeschickt hatte.

Als sie mit dem Frühstück fertig waren, schlug Felber vor, im Hotel zu bleiben, um sich über den Spielplan auszutauschen. Die Theaterkantine sei dazu ungeeignet, da es zu viele gäbe, die mithören könnten, meinte Felber.

Um unnötigen Theaterklatsch zu vermeiden, suchten sie ein kleines Vereinszimmer auf, das gleich neben dem Frühstücksraum lag. „Hier können wir uns in aller Ruhe unterhalten.“ Felber schickte voraus, dass er sich beim Aufstellen des Spielplans an die Faustregel gehalten habe, nach der sich die meisten der DDR-Theater richten würden: eine klassische Tragödie, ein sowjetisches Stück, ein DDR-Gegenwartsstück, eine Komödie jedweder Art, eine Märchenproduktion für Kinder und Erwachsene zu Weihnachten und ein Kinderstück. Zu bestimmten Anlässen werde auch auf die bürgerliche Dramatik des 19. und 20. Jahrhunderts zurückgegriffen, erklärte er. Aber meist bleibe die siebente Spielplan-Position Werken des sozialistischen Realismus vorbehalten.

„So habe ich folgende Stückauswahl vorgenommen“, sagte Felber: „Maria Stuart“ von Schiller, „Der Schatten“ von Jewgeni Schwarz, „Der Aufstieg der Edith Eiserbeck“ von Rolf Gozell, Brechts „Happy End“ oder „Die Falle“ von Robert Thomas, „Die Weihnachtsgeschichte“ nach Dickens und das Kinderstück „Nein, diese Hanne“.

 

Als Wolfgang bemängelte, dass moderne Autoren wie Osborne im Spielplan fehlen würden, bekam er von Felber zur Antwort: Ein kleines Theater wie Nordhausen sei nicht in der Lage, die nötigen Tantiemen aufzubringen, um Stücke von Osborne und Pinter, Anouilh oder Ionesco aufführen zu können.

„Schade“, sagte Wolfgang, der in diesem Moment erst begriff, wie schwierig es war, einen attraktiven und zuschauerträchtigen Spielplan auf die Beine zu stellen. Da waren finanzielle Gegebenheiten und ideologische Kriterien zu erfüllen, an die Wolfgang nicht im Entferntesten gedacht hatte.

Als sie wenig später, auf dem Weg in die Intendanz, durchs Theater gingen, sagte Felber: „Bevor wir zum Alten gehen, sollten wir mal einen kurzen Blick auf die Bühne werfen.“

Der Regisseur Ruppert, der gerade Grabbes „Napoleon und die hundert Tage“ inszenierte, hatte nichts dagegen, dass der neu verpflichtete Oberspielleiter und der zukünftige Schauspieldramaturg im Zuschauerraum saßen und sich die Probe ansahen.

Ruppert ging in der fünften Reihe wie ein Dompteur auf und ab, das Stück im Kopf, sprach er den Schauspielern die Sätze so vor, wie er sie von ihnen hören wollte, und er verfuhr wie ein Choreograf. „Zwei Schritte vor. Und jetzt ihren Satz ...“, sagte Ruppert. „Einen Schritt nach hinten. Und dann ihren Satz ...“

Wie willige Werkzeuge benutzte Ruppert die Schauspieler, die nicht wussten, warum sie welchen Schritt nach welchem Satz tun sollten. Aber sie machten es, weil Ruppert es von ihnen verlangte. Er war ein unduldsamer Despot, und jeder hatte sich zu fügen.

Nach einer halben Stunde flüsterte Felber Wolfgang zu: „Ich glaube, wir haben genug gesehen“, und sie verließen leise und unauffällig den dunklen Zuschauerraum.

Als sie die Treppe zur Intendanz hochgingen, fragte Felber: „Was meinen Sie zur Probe?“

„Ich finde es unmenschlich, wie Ruppert mit den Schauspielern verfährt.“

„Das mag sein“, sagte Felber. „Aber Ruppert macht gutes Theater und hat sich unter der Regisseuren in der DDR einen Namen gemacht. Er ist da, wo ich hin will.“

„Aber hoffentlich nicht mit dieser Methode.“

„Keine Bange“, sagte Felber. „Beim Inszenieren geht jeder anders vor.“ Hoffentlich, dachte Wolfgang, der für kaltschnäuzige Intellektuelle, die über Leichen gingen, nichts übrig hatte.

„Habt ihr mal unten reingeguckt?“, fragte der Intendant.

„Ja“, sagte Felber.

„Und?“, fragte der Intendant.

„Herr Bruckner hält Rupperts Regiestil für menschenverachtend“, antwortete Felber.

„Menschenverachtend“, wiederholte Mühlheim. „Da haben Sie noch nicht miterlebt, wie er im Jargon der Fäkalienabfuhr klassische Stücke inszeniert“, sagte er zu Wolfgang. „Aber wir sollten uns nicht länger bei einem Regisseur aufhalten, der uns mit Ende der Spielzeit sowieso verlässt. Wenden wir uns der Zukunft zu.“

Der Intendant hatte die Stückliste vor sich liegen und fragte Felber, weshalb hinter Brechts „Happy End“ ein großes Fragezeichen stehe.

„Im Moment ist noch nicht geklärt, ob wir eine Musik bekommen“, sagte Felber. Auch liege das schon lange angeforderte Material für „Happy End“ noch nicht vor.

„Da keine Planungssicherheit gegeben ist, sollten wir diese Spielplan-Position gleich streichen“, sagte der Intendant zu Felber, und zu Wolfgang gewandt fragte er: „Und warum sollten wir das Stück ,Maria Stuart‘ gerade jetzt in Nordhausen spielen?“. Es schien, als wolle er Wolfgang ein bisschen auf den Zahn fühlen.

Aber Wolfgang, der mit dieser Frage nicht in Verlegenheit zu bringen war, konterte geschickt: „In diesen revolutionären Zeiten, in denen wir leben, gehört ein klassisches Stück über Revolutionszeiten einfach auf die Bühne.“ Das Thema „Macht und Menschlichkeit“ habe an Aktualität nichts eingebüßt, erklärte er. „Zwei geschichtliche Prinzipien stehen sich in den beiden Frauen gegenüber, von denen die eine das Überlebte vertritt und dem zukunftsweisenden Neuen weichen muss.“

Wolfgang erinnerte sich an das Seminar „Klassisches Drama“ bei Frau Professor Wertheim und setzte das Gelernte gekonnt ein. „Was Elisabeth an politischer Wirksamkeit gewinnt, verliert sie an menschlicher Würde“, führte Wolfgang aus. „Und in dem Augenblick, in dem Maria Stuart auf ihre Machtposition verzichtet, gewinnt sie ihre menschliche Würde zurück. Damit zieht Maria die Sympathien auf sich, obwohl der Dichter über ihre historisch reaktionäre Rolle keinen Zweifel lässt.“

„Ende des Seminars“, sagte Mühlheim zufrieden lächelnd und fragte Felber, wer das Stück inszenieren werde.

„Ich“, sagte Felber. Und Wolfgang, zum Intendanten blickend, frotzelte: „Hoffentlich gehört er nicht zu jenen Regisseuren, die beim Inszenieren der ,Maria Stuart‘ partout nicht auf den Koitus auf dem Thron verzichten können.“

Mühlheim hatte das Gefühl, dass die Chemie zwischen Felber und Wolfgang stimme. „Da ich sehe, dass ihr gut miteinander könnt“, sagte der Intendant, „werde ich Herrn Bruckner auch längerfristig unter Vertrag nehmen“, und er drückte Wolfgang einen Dreijahresvertrag in die Hand. „Sie brauchen nur noch zu unterschreiben“, sagte Mühlheim, und Felber musste lachen, als er Wolfgangs ungläubiges, verdutztes Gesicht sah.

„Ich kann ihn aber erst unterschreiben, wenn meine Kündigung durch ist“, sagte Wolfgang. „Das kann noch einige Wochen dauern.“

„Wir haben Zeit“, sagte der Intendant und erklärte das Gespräch für beendet.

Drei Tage später erhielt Heidi vom Kreisschulrat in Nordhausen einen Brief, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass ihr Einsatz an einer der Stadtschulen möglich sein werde. Bei der Beschaffung des Krippenplatzes werde man ihr behilflich sein. „Die Wohnungsfrage wird, nach unserer Kenntnis, vom Theater in Nordhausen geregelt“, erklärte der Kreisschulrat in seinem Schreiben. „Sobald der Arbeitsplatzwechsel Ihres Mannes nach Nordhausen besiegelt ist, reichen Sie bitte beim Kreisschulrat Erfurt-Land ihren Versetzungsantrag ein.“

Als Wolfgang am Mittag aus der Schule kam, fiel ihm Heidi freudetrunken um den Hals. „Ein Geschenk des Himmels ist das“, sagte sie und wedelte aufgeregt mit dem Brief des Kreisschulrates vor Wolfgangs Gesicht herum. „Ein knappes halbes Jahr und wir sind raus aus dem Schlamassel, und dieses Leben hier in Oberneusitz hat ein Ende für uns“, Heidi konnte ihr Glück kaum fassen.

„Ein Krippenplatz, Vollbeschäftigung für mich, eine Arbeit für dich und eine Wohnung, um die sich das Theater kümmern will. Was wollen wir mehr?“

20. Kapitel

Acht Wochen später jedoch, Wolfgang wartete darauf, dass seine Kündigung angenommen wurde, schrieb ihm der Intendant einen Brief, der einem K.-o.-Schlag gleichkam. „Ich bin eigentlich etwas verwundert, dass Sie in letzter Zeit überhaupt nichts mehr von sich hören ließen und dass ich gezwungen bin, mir meine Auskünfte bei ihrer vorgesetzten Dienststelle einzuholen“, monierte Mühlheim. „Wie mir der Rat des Kreises Erfurt heute mitteilt, sind Sie einer Aufforderung zu einem Gespräch am gestrigen Tag nicht nachgekommen, weil Sie verreist sind. Es wurde nun angenommen, dass Sie nach Nordhausen gefahren sind, um Ihre Sache zu klären. Ihr Direktor hat Ihnen – soweit ich erfuhr – mitgeteilt, dass Sie mit Ihrer Einberufung zur Armee im Herbst rechnen müssen. Unter diesem Aspekt sind doch nun alle Schritte, die Sie unternehmen, zu sehen. Es scheint doch völlig unangebracht, vor Ableistung Ihres Wehrdienstes den Beruf zu wechseln, zumal unsererseits ein Antrag auf Freistellung nicht erfolgen kann. Da ich hier nicht noch ein weiteres Jahr ohne Schauspieldramaturg arbeiten kann, bitte ich Sie, mir den Dreijahresvertrag zurückzuschicken.“

Wolfgang war erschüttert darüber, wie die Volksbildung ihn zu linken versuchte, und erboste sich. „Diese Schweine“, sagte er. „Ich werde ihn zur Rede stellen, diesen miesen Kreisschulrat.“

Aber der Kreisschulrat wollte mit Wolfgang nicht sprechen, er ließ sich verleugnen oder hatte einfach keinen Termin in nächster Zeit frei. Er ließ Wolfgang lediglich durch Sandruschek ausrichten, dass seine Kündigung nicht genehmigt werde und er im Herbst zur Armee komme. Also bestätigte sich, was Mühlheim ihm geschrieben hatte.

Wolfgang jedoch schwor sich, gegen diese Verfahrensweise der Volksbildung vorzugehen, und er entschloss sich, seinen Vater, dessen Operation unmittelbar bevorstand, im Krankenhaus zu besuchen.

Die Stationsschwester war freundlich. Sie nannte Wolfgang die Zimmernummer, und er ging den braun gebohnerten Gang entlang: links hohe, weiße Türen und rechts hohe, weiße Fenster. Er klopfte. Betrat das Zimmer. Es war leer. Die Armbanduhr seines Vaters lag verloren auf dem Nachttisch. Die Bettdecke war zurückgeschlagen und das Betttuch verrutscht. Sein Vater hatte offenbar vergessen, es glatt zu ziehen. Selbst die Jacke überm Stuhl und das Kofferradio, von dem sich sein Vater nicht trennen konnte, deuteten auf Ruhelosigkeit hin.

Wolfgang verließ das Zimmer, er lief den Gang weiter und fand seinen Vater mit anderen Patienten auf einem Balkon. Wolfgang gab jedem reihum die Hand, und sein Vater, erstaunt über Wolfgangs plötzlichen Besuch, sagte: „Das ist mein Sohn.“

„Der Lehrer?“, fragte einer.

Wolfgangs Vater nickte und sah auf die gegenüberliegende Fensterfront, und er kam auf Patienten zu sprechen, die schon operiert waren und dort drüben lagen.

Erwin Bruckner hatte Lungenkrebs. Ein Lungenflügel sollte ihm entfernt werden „Der Professor wird’s schon machen“, sagte er. Aber er konnte Wolfgang dabei nicht ansehen.

Schließlich sagte er: „Gehen wir runter.“

In Trainingsanzug und Pullover wollte Erwin Bruckner aber nicht in den Park. Er zog sich den Anzug an, stand unendlich lange vorm Spiegel und kämmte sich.

„Lass gut sein“, sagte Wolfgang, und sein Vater, der sich unheimlich viel Zeit zum Anziehen nahm, sagte: „Es muss ja sehr eilig sein, was du mir zu sagen hast.“

„Ich bin in argen Schwierigkeiten“, sagte Wolfgang. „Ich habe Zoff mit der Volksbildung und du als erfahrener Kaderleiter und langjähriges Mitglied der Konfliktkommission kennst dich bestens in arbeitsrechtlichen Fragen aus und kannst mir ganz sicher helfen.“

Es war das erste und letzte Mal, dass Wolfgang seinen Vater um Rat fragte.

Sie gingen in den Park, setzten sich auf eine schattige Bank, und sein Vater hörte Wolfgang aufmerksam zu, als er ihm von der Entscheidung des Kreisschulrats berichtete.

„Arbeitsrechtlich ist dagegen nichts zu machen“, sagte sein Vater. „Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann.“

Ein ausgiebiges Gespräch mit letzten Wahrheiten kam nicht mehr auf zwischen ihnen. Wolfgangs Vater saß einsilbig neben ihm auf der Bank, und Wolfgang dachte nur noch an den Bus, den er erreichen musste.

„Wann musst du gehen?“

„Halb sechs.“

Zehn Minuten blieben ihnen noch, und sie schwiegen vor sich hin. Dann ließ Wolfgang seinen Vater auf der Parkbank zurück.

Unterwegs zum Bus dachte Wolfgang an das Krankenzimmer, an die Unordnung darin, und er dachte daran, wie sein Vater gezögert hatte, bevor er ihm die Hand gab und sagte: „Mach’s gut.“

„Du auch“, hatte Wolfgang erwidert und dabei an den verdammten Sechs-Uhr-Bus gedacht.

Als er nach Hause kam, fragte ihn Heidi, wie es seinem Vater gehe. „Er wird morgen operiert“, sagte Wolfgang. „Er lässt dich grüßen.“

„Und was hat er zur Ablehnung deiner Kündigung gesagt?“

„Es ist alles rechtens, hat er gesagt.“ Gegen die Volksbildung komme man nicht an.

„Wir werden nicht klein beigeben“, sagte Heidi. „Diesem Gesocks von Funktionären werden wir’s zeigen.“ Sie wollte sich nicht damit abfinden, dass Wolfgangs Kündigung von der Volksbildung so mir nichts, dir nichts abgeschmettert worden war.

„Wir werden uns beschweren“, sagte sie kämpferisch.

„Wo?“

„Beim Staatsrat! Eine Staatsratseingabe werden wir machen, die sich gewaschen hat“, verkündete Heidi siegesgewiss.

„Es gibt gesetzliche Bestimmungen, gegen die kommst du nicht an“, sagte Wolfgang resigniert.

„Aber einen dritten Winter halte ich das nicht durch. Schon gar nicht mit dem Kind!“

„Musst du auch nicht.“

„Und wie soll das gehen?“

„Wir werden diese Wohnung aufgeben“, erklärte Wolfgang. „Wir werden einen Versetzungsantrag stellen und zu deinen Eltern in die Mansardenwohnung ziehen, die seit dem Tod deines Großvaters leer steht.“

 

„Das wäre schön“, sagte Heidi. Von dieser Art Ausweg war sie überrascht.

Und mit einem Umzug nach Arnsbach konnte sie sich sofort anfreunden.

„In der Zeit, in der du anderthalb Jahre bei der Armee bist, wäre ich unter“, meinte sie hocherfreut. „Ich könnte arbeiten gehen, und meine Mutter und ich könnten uns in die Betreuung des Kleinen teilen. Denn meine Mutter geht ja sowieso nur halbtags auf Arbeit.“

Heidi hatte plötzlich Hoffnung, dass sich die verfahrene Situation doch noch zum Besseren hin klären könnte, und Wolfgang hatte nur ein Ziel: das Schuljahr ohne weitere Komplikationen zu Ende zu bringen.

Als die Sommerferien begannen, packten Heidi und Wolfgang ihre Sachen und zogen Anfang Juli mit Henry nach Arnsbach. Für Heidi ging es zurück ins elterliche Haus. Sie kehrte zurück in die Berge und das Dorf, das ihr von Kindesbeinen an vertraut war, und sie kehrte zurück in ihr Lieblingszimmer, in dem sie ihre Aufsätze geschrieben und während des Erledigens der Hausaufgaben ihrem Großvater auf der benachbarten Wiese beim Mähen zugesehen hatte.

Seit ihr Großvater im Februar 1971 nach einem Treppensturz gestorben war, stand die gesamte obere Etage des Hauses leer. Deshalb freuten sich Lisbeth und August Stillmark, als Heidi und Wolfgang die Mansardenwohnung im Stillmarkschen Haus bezogen. Durch den Umzug hatte es bei Heidi auf Anhieb mit einer Teilzeitstelle an einer Polytechnischen Oberschule in Birkenhall geklappt. So stand fest, dass Heidi ab September wöchentlich 16 Stunden unterrichten und neben Deutsch vorrangig Englisch geben würde.

Während Heidis berufliche Zukunft vorerst im Groben abgesteckt war, wusste Wolfgang Anfang August noch immer nicht, wie es mit ihm weitergehen würde.

Unruhig und gereizt wartete er Tag für Tag auf Post vom Wehrkreiskommando Erfurt. Denn er wollte so schnell wie möglich wissen, wo und bei welcher Einheit der Nationalen Volksarmee er seinen Grundwehrdienst ableisten sollte.

Obwohl das Wehrkreiskommando Birkenhall inzwischen für ihn zuständig war, bestand das Wehrkreiskommando in Erfurt darauf, dass Wolfgang in Erfurt gemustert wurde. Die Musterungskommission befürchtete nämlich, dass Wolfgang ihr durch seinen Umzug nach Arnsbach durch die Lappen gehen könnte. Für sie war er als feste Größe eingeplant und sollte bei der Infanterie in Prenzlau Dienst tun.

Aber im Wehrkreiskommando hatte man die Rechnung ohne den Musterungsarzt gemacht. Als Wolfgang endlich gemustert wurde, kam ihm der Arzt bekannt vor. Zwar wusste er nicht, wo er diesem schwarzhaarigen, rundgesichtigen jungen Mann im weißen Kittel schon einmal begegnet war.

Der junge Arzt, der in Jena studiert hatte, hatte Wolfgang aber auf Anhieb erkannt. Er hatte ihn als Heine und mit eigenen Gedichten im Studentenkeller erlebt, und als er Wolfgang fragte, ob er noch Gedichte schreibe, stutzte Wolfgang kurz. Aber dann fiel bei ihm der Groschen, und er sagte: „Sie also gehörten zu den Medizinern, die auf der Treppe im Studentenkeller saßen und von meinen unanständigen Liebesgedichten, für die ich viel Kritik einstecken musste, hellauf begeistert waren.“

„Genau“, sagte der junge Musterungsarzt und fing an, Wolfgang in die Augen und den Hals zu sehen. Er hörte ihn routinemäßig ab, und zum Schluss prüfte er mit seinem Hämmerchen, ob Wolfgangs Reflexe in Ordnung waren. Nach einem kurzen Schlag unters Knie schnellte Wolfgangs Bein extrem nach vorn.

„Die Reflexe sind in Ordnung“, sagte der junge Musterungsarzt lachend, und als er sich angehört hatte, welche Umstände dazu geführt hatten, dass Wolfgang in Erfurt und nicht in Birkenhall gemustert wurde, schien es, als wolle er Wolfgang unter allen Umständen etwas Gutes tun. Er begann Wolfgang lang und breit, nach allen möglichen Beschwerden und Operationen auszufragen.

„Als ich mit dem linken Meniskus Beschwerden bekam, hörte ich mit dem Fußballspielen auf. Denn ich hatte keine Lust, mich operieren zu lassen“, erzählte Wolfgang. „Der rechte Meniskus macht Ihnen sicherlich auch große Beschwerden“, sagte der Arzt und schrieb in den Musterungsbogen, dass der Meniskus beidseitig schwer beschädigt sei. Dann fragte er Wolfgang, ob er schon mal operiert worden sei. Von der Art und Schwere einer Operation hinge es nämlich ab, ob jemand zum aktiven Wehrdienst eingezogen werden könne oder nicht.

Im ersten Moment fiel Wolfgang nur die Blinddarm-Operation ein. „Hatten Sie wirklich keine anderen Operationen“, fragte der Musterungsarzt voller Nachdruck. „Doch“, sagte Wolfgang. „Ich hatte zwei Fisteloperationen am Steiß.“

„Na, also“, sagte der junge Musterungsarzt erleichtert und erfreut. „Das sind Operationen, mit denen wir was anfangen können“, und nachdem er sich noch einmal im Musterungskatalog vergewissert hatte, sagte er: „Es tut mir leid. Aber mit dieser Krankengeschichte muss ich Sie ,untauglich‘ für den aktiven Wehrdienst schreiben.“ Am Grinsen des Musterungsarztes sah Wolfgang, dass er sich über die Überraschung freute, die er Wolfgang beschert hatte.

„Danke“, stammelte Wolfgang. Und als er wie benommen das Zimmer verließ, rief ihm der Arzt nach: „Mit Gedichten kann man manchmal auch spät Erfolg haben.“

Obwohl Wolfgang ausgemustert worden war, gab es für ihn keinen Anlass, Luftsprünge zu machen. Denn die Theaterchance war verspielt und ein Verklagen der Volksbildung zwecklos.

Obwohl er mit Heidi und Henry nach Arnsbach gezogen war, befand sich Wolfgang nach wie vor in einer sehr unangenehmen Situation: Eine Handvoll guter Gedichte und ein Stück, an dessen Uraufführung selbst Wolfgang nicht mehr glaubte, reichten nicht aus, um freiberuflicher Schriftsteller zu werden. Und so griff Wolfgang nach dem Strohhalm, der sich ihm bot, und biederte sich aus Existenzgründen bei der Abteilung Volksbildung in Birkenhall an.

An der Berufsschule suchte man einen Fachlehrer für Deutsch und Geschichte, hatte Wolfgang gehört, und nach einem kurzen Gespräch mit dem Leiter der Abteilung Berufsbildung bekam er die Stelle. „In Zukunft werden Sie Erwachsene unterrichten. Und das wird Ihnen ganz sicher Spaß machen“, tönte Burkhardt und stellte Wolfgangs Arbeitsvertrag rückwirkend auf den 1. August 1971 aus.

Aber für Wolfgang stand fest: Er würde nur so lange als Lehrer arbeiten, bis er literarisch so weit war und sich den Sprung in die Freiberuflichkeit finanziell leisten konnte.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?