Die klare Sonne bringts doch an den Tag

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Bezirk Hamburg-Nord, Stadtteil Uhlenhorst,

Stammhaus der Reederei Jügesen & Söhne, Entree

Sonntag, 26.08.2001, 9:30 Uhr

Das mitten in einem kleinen Park stehende vierstöckige Geschäftsgebäude mit Flachdach sowie einer Loftwohnung obendrauf beeindruckte Stormann nicht sonderlich, während er auf die massive Eingangstür zusteuerte; deren zwei eingefasste Glasscheiben waren trübe und die Abdichtungen rundum verwittert. Er vermutete, dass die Besitzer schon lange nicht mehr in ihre Residenz investiert hatten, entweder aus Sparsamkeit oder wegen fehlendem Kapital. Oder sie kannten nicht die Redensart: ‚Es gibt keine zweite Chance für den ersten Eindruck‘.

Weder eine Klingel noch eine Gegensprechanlage konnte er entdecken, daher drückte er die Klinke und prüfte, ob die Tür sich öffnen ließ. Das schwere Türblatt gab nach; mit Mühe drückte er es nach innen und betrat den sechs Meter im Geviert messenden Vorraum. Stormann ging auf den Pförtner zu, der hinter seinem halbrunden, weit über einen Meter hohen Tresen saß und unbeirrt auf einen hinter der Blende befindlichen kleinen Monitor blickte.

»Guten Tag, Herr ...« Mit raschem Blick musterte er die Gravur des messingfarbenen Tischaufstellers auf dem Tresen. »... Harters. Mein Name ist Karl Stormann und ich hätte da ein Anliegen. Vielleicht ...«

»Meyer!«

»Hier steht Harters, Herr Meyer.«

»Na so was«, grummelte Lorenz Meyer und mit einer raschen Bewegung drehte er den Tischaufsteller um, sodass sein Name für Besucher sichtbar wurde. »Das hat er natürlich wieder mal vergessen, dieser Blödel.«

Stormann schwieg und lächelte nachsichtig über den Versuch des Pförtners, seinen Dienstvorgänger für seine eigene Vergesslichkeit verantwortlich zu machen.

»Ich helfe Ihnen gerne weiter, wenn ich kann. Worum geht’s denn?«

»Es geht um diesen Zettel mit einem handschriftlichen Text«, sagte Stormann und zog ihn aus dem Buch. »Ich vermute, geschrieben hat ihn ein Kapitänsanwärter, der mit Vornamen Malte heißt, sich jetzt auf eine Prüfung für Seerecht vorbereitet und später hier Chef der Jügesen-Reederei sein könnte. Wohl versehentlich hat er ihn mit diesem Buch hier mitverkauft, vielleicht aber Interesse daran, ihn zu behalten.«

»Der Malte? Jawoll, der könnte Chef werden. Hoffe ich sogar stark. Aber warum sollte ich Ihnen dabei weiterhelfen können?«

»Weil Herr Clemens Brüwer, der ebenso wie ich Kriminalhauptkommissar war, – wir sind beide nun im Ruhestand – mir vorhin erst erzählte, dass er hier eine Zeugenbefragung ...«

»Das war ich.« In das schmale faltige Gesicht von Lorenz Meyer kam Leben. »Da haben‘s doch glatt den Mordkerl überführen können. Wegen mir.«

Dem war nicht so gewesen, aber Stormann lächelte nachsichtig, während er anerkennend nickte.

»Warum sagen‘s denn nicht gleich? Natürlich helfe ich Ihnen weiter.« Er zwinkerte vertraulich. »Könnte ja sein, dass viel mehr dahintersteckt und Sie diesen Wisch nur als Vorwand mithaben.« Er beugte sich weit vor bis zur Blende des Tresens, um flüsternd schon gehört zu werden.

Aus alter Gewohnheit neigte Stormann seinen Kopf nach vorn und zur Seite, um sein rechtes Ohr, mit welchem er etwas besser hörte, näher zum Redner zu bekommen.

»Denen da oben traue ich alles zu«. Meyer wiegte sein ergrautes Haupt und zog ein grimmiges Gesicht. »Aber solange die mich ordentlich bezahlen, mache ich hier meine Arbeit.«

Er blickte prüfend auf den Zettel, welchen Stormann ihm vor die Nase hielt.

»Aha, da haben wir‘s schon, das kann nur der Sohn vom Alten gewesen sein.« Meyer erschrak leicht, beugte sich wieder weit vor und versuchte, Stormann ins Ohr zu flüstern. »Erzählen Sie das aber nicht weiter, das mit dem Alten, das hört er nämlich gar nicht gerne, wissen Sie. Ich danke Ihnen schon mal.«

Dann richtete Meyer sich wieder auf und reckte den rechten Arm, um den Zettel in Empfang zu nehmen. »Na schön, dann geben Sie mal den Zettel her und ich steck ihn dem jungen Burschen zu; übrigens stehe ich mit dem auf du von klein auf. Hoffentlich wird der Malte nicht so lange Kapitän auf See sein, sondern bald hier im Haus das Ruder führen, weil ...« Meyer beugte sich wieder weit vor und hielt die hohle Rechte neben den Mund. »... der Junge mal ordentlich Geld in die Hand nehmen würde, statt wie der Alte darauf sitzen zu bleiben. Erzählen Sie das aber ja nicht weiter.«

Wieder richtete Meyer sich auf und hob den Arm, um endlich den Zettel in Empfang zu nehmen.

»Den möchte ich unbedingt persönlich überreichen.«

Meyer verharrte einige Sekunden und blickte ins Nirgendwo über sich, irgendwo dort wähnte er seinen Arbeitgeber; zögernd legte er dann die Hand auf den grünen Telefonhörer. »Warum nicht, wenn’s so persönlich ist. Der junge Jügesen ist aber die ganze Woche nicht mehr im Haus und immer schwer zu erreichen. Da müßte ich den Alten – hoppla, schon wieder! Erzählen Sie‘s bloß nicht weiter, der hört das nämlich nicht gerne, wissen Sie. Also da müsste ich jetzt mal den Chef anrufen ...«

»Den Vater vom jungen Jügesen? Nun, der soll ja gar nicht wissen, das sein Sohn ...« Stormann überlegte. »Na ja, dann muss ich dem mal ein kleines Märchen erzählen. Gut, dann melden Sie mich doch bitte bei Herrn Jügesen an, Herr Meyer.«

»Von Jügesen senior!« Der Pförtner hob den Telefonhörer ab, wählte die Hausdurchwahl und wartete.

»Was gibt es denn, Herr Meyer?«, tönte es sonor aus der Hörmuschel.

Ein Ruck ging durch den Pförtner und er nahm Haltung an. »Guten Tag nochmals, Herr von Jügesen senior, bei mir befindet sich ein Herr in den allerbesten Jahren, der früher bei der Kripo war. Der hat etwas für Sie. Aber mir gibt er’s nicht. Es wär‘ was Persönliches, sagte er mir, und möchte es Ihnen unbedingt selber geben.«

»Kripo? Wieder eine Befragung wie damals?«

Lorenz Meyer presste den linken Handballen auf die Hörmuschel und wandte den Kopf zu Stormann. »Tschuldigung, Herr Stormann. Das ist jetzt kein Vorwand für eine Befragung? Wirklich nur etwas Persönliches?«

Stormann zog die Brauen hoch, während er nickte.

»Also nicht.« Meyer nahm die Hand vom Hörer und sprach weiter. »Ist zwar ein Kriminaler, äh Pardon, ein Kripobeamter, schon im Ruhestand, aber privat hier, hat er versprochen. Stormann heißt er, Karl.«

»Was will er mir denn unbedingt selber geben?«

»Einen Zettel.«

»Einen Zettel? Wirklich? Nur ein Zettel?«

»Jawoll, Herr von Jügesen.« Der Pförtner versteifte sich noch mehr. »Ein handgeschriebener. Der Herr meint, Ihr Sohn wohl habe ihn verfasst und ...«

»Wollen Sie mir etwa mitteilen, das wäre eine Art Schuldverschreibung oder etwas Ähnliches?«

»Nee, ist nicht«, beschwichtigte Meyer, nachdem er Stormann angeblickt hatte und ein Kopfschütteln als Bestätigung erhalten hatte. »Es geht wohl nur um einen Zettel, der in einem dicken Buch steckte.«

»Um mehr nicht, wirklich? Na ja, ... meinetwegen. Herr Meyer, bitte geleiten Sie ihn bis auf die Terrasse.«

Erst nachdem er fest aufgelegt hatte, wagte der Pförtner es, tief Luft zu holen und kräftig wieder auszustoßen. »Na ja, begeistert war er nicht gerade«, murmelte er, atmete noch einmal durch und sah Stormann mit leichtem Vorwurf im Blick an. »Haben Sie ja gehört. Hoffentlich lohnt es sich wirklich, sonst kriege ich noch einen Riesenanschiss, weil ich Sie ihm nicht vom Leibe gehalten habe.«

Mit einem kleinen orangefarbenen Schild in der Hand ging Meyer um den Tresen herum bis zur Eingangstür. In Augenhöhe hängte er den Hinweis seiner baldigen Rückkehr an den winzigen Metallhaken eines auf der oberen Glasscheibe haftenden transparenten Saugnapfs. Dann versperrte er das Portal mit einem mächtigen Riegel.

»Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen, wo‘s lang geht.« Mit gönnerhaftem Blick winkte er dem Ex-Hauptkommissar, ihm zum Treppenhaus zu folgen, und ging vor, den Oberkörper durchgestreckt, weil seiner Wichtigkeit sich wieder mal bewusst.

*

Freie und Hansestadt Hamburg,

Bezirk Hamburg-Nord, Stadtteil Uhlenhorst,

Stammhaus der Reederei Jügesen & Söhne, Loft

Sonntag, 26.08.2001, 9:45 Uhr

Malte von Jügesen senior empfing Karl Stormann am Ausgang zur Dachterrasse, gab ihm einen kräftigen Händedruck und nickte dem Pförtner vor dessen Abgang kurz zu. Freundlich blickte er seinen Gast an, führte ihn ins Loft und umgehend zu einer Tür, an welcher ein vergoldetes Schild angebracht war mit eingravierten nachgeschwärzten Lettern: ‚Reederei von Jügesen & Söhne – Büro‘.

Der Senior war genauso schlank und fast so hochgewachsen wie sein Sohn, jedoch tadellos gekleidet wie ein Geschäftsmann, obwohl er einen freien Tag haben müsste. Statt zum Schreibtisch dirigierte er seinen Gast zu einer kleinen Sitzecke vor der bis zum Boden reichenden Fensterfront und bot ihm einen der drei weiß bespannten Wippsessel an. Vorsichtig nahm Stormann Platz auf dem luftigen Freischwinger. Obwohl es sich um einen von Ludwig Mies van der Rohe entworfenen Thonet S 533 handelte, schien ihm, dass mehr Wert auf das Design als auf die Stabilität gelegt worden war. Jedoch federte das kalt gebogene Stahlrohr so elastisch wie am ersten Tag, sodass er ihm doch sein Gewicht anvertraute.

Er streckte die Beine aus unter den ovalen Tisch mit der gläsernen Platte und entspannte sich sogar ein wenig, während er sich kurz umblickte. Das gesamte Mobiliar war von auserlesener Qualität und wirkte gepflegt, obwohl dessen Bestand seit Jahrzehnten nicht mehr verändert worden zu sein schien.

»Ich helfe Ihnen gerne weiter, wenn ich kann. Worum geht es denn?«, lautete die Frage des Reedereibesitzers, welcher seinen Freischwinger derart in der Ecke platziert hatte, dass er den Raum überblicken konnte. »Kaffee?«

 

»Nein danke.« Mit einem feinen Lächeln – dieses freundliche Anerbieten hatte er gerade eben erst wortwörtlich gehört, und wer hier wen nachahmte, konnte er sich denken – hob Stormann das Buch ein wenig höher. »Darum bin ich hier. Dieses Buch hat mir Ihr Sohn verkauft, aber wohl übersehen, dass noch etwas Persönliches sich darin befindet.«

»Verkauft? Das Buch?« Empört blickend schüttelte von Jügesen senior heftig den Kopf. »Behalten soll er es gefälligst und selber mal vererben, schließlich gehört dieses seltene Exemplar von ‚Grimm‘s Märchen‘ zum unveräußerlichen Familienbesitz.«

»Sollte, gehörte«, stellte Stormann richtig. Während er das Buch aufschlug, um den Zettel herauszunehmen, sprach er weiter. »Und das Wort leider muss ich wohl an Ihrer Stelle hinzufügen, denn ich habe es immerhin legal erworben und gedenke, es zu behalten. Aber die Notiz darin könnte einen persönlichen Wert haben und war nicht Teil des Handels.«

»Na gut«, murmelte von Jügesen senior und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht können wir ein andermal darüber reden. Jetzt würde mich interessieren, was es mit diesem Zettel auf sich hat.« Er beugte sich vor, um das hinübergereichte Blatt in Empfang nehmen zu können.

Mit beiden Händen hielt er sich den Text dicht vor die Augen; den Aufwand, sich seine Lesebrille zu holen, scheute er. »Also die Handschrift könnte diejenige meines Sohnes sein. Ja, das könnte von ihm in jüngeren Jahren geschrieben worden sein ... hm, die Geschichte, die hier geschildert wird, kommt mir irgendwie bekannt vor ... ja, da dämmert mir etwas ... hm, tatsächlich. Ich erinnere mich an diese Begebenheit. Das stimmt, mein Vater hat sich damals tatsächlich sehr aufgeregt. Aber ich vergaß es bald, denn er verhielt sich wieder normal, das heißt, was wir als normal bei ihm kannten.«

Von Jügesen hielt inne und massierte kurz mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel. »Zeit meines Lebens hatte ich das Gefühl, er leide unter einer seelischen Last, vor allem fürchtete er sich vor seinen beiden jüngeren Stiefbrüdern ...«

»Stiefbrüder?«

»Sieben Stiefgeschwister insgesamt, ja das war wirklich eine verrückte Sache ...«

»Was, sieben Stück ... auf einen Streich etwa?« Unwillkürlich zog Stormann die Beine an, während er sich gestenreich entschuldigte. »Pardon, das ist mir rausgerutscht; das war ein Freudscher Versprecher, weil ich gerade mit Märchen beschäftigt bin und so das tapfere Schneiderlein gedanklich ins Spiel brachte.«

Ein Glucksen entwich von Jügesens Kehle, während er generös abwinkte. »Sie wissen ja gar nicht wie nahe Sie an der Wahrheit dran sind, wenn auch sieben auf einen Streich wirklich des Guten zu viel gewesen wären.« Er zuckte mit den Schultern. »Nun gut, das ist eine alte Familiengeschichte, an die wir ungern zurückdenken und am liebsten nie von erzählen. Mein Sohn zum Beispiel hat, nachdem er seine Herkunft erfuhr, das von aus seinem Namen streichen lassen. Sehr konsequent, zu konsequent meiner Meinung nach, aber auch sehr rechtschaffen, so wie ich. Zumindest versuche ich es.« Sein Lächeln wirkte sardonisch.

»So gesehen geht mich es nichts mehr an. Das lose Blatt ist abgegeben und ich kann mich verabschieden ...«

»Halt, warten Sie. Ich weiß ja noch nicht, wie Sie an diesen Aufsatz gekommen sind. Das möchte ich nun gern wissen.«

»Das erzähle ich Ihnen lieber nicht.« Stormann hob beide Handflächen wie zur Abwehr. »Ich bin sicher, dass Ihr Sohn das ganz bestimmt nicht möchte.«

Mit einer energischen Bewegung beugte von Jügesen sich vor. »Nun will ich es erst recht wissen und darum mache ich Ihnen einen Vorschlag.« Er räusperte sich. »Ich erzähle Ihnen unsere Geschichte mit den sieben Stiefgeschwistern und Sie mir, wie Sie an dieses Blatt gekommen sind. Ich verspreche Ihnen auch, dass ich meinem Sohn auf keinen Fall deswegen Vorhaltungen machen werde. Eigentlich verschafft er mir mit seiner zurückhaltenden Art ohnehin Bestätigung und Genugtuung. Aber er muss endlich lernen, unser Vermögen zusammenzuhalten. Ein Hanseat muss er werden.«

»Wenn es ihm wirklich nicht schadet – abgemacht. Und ehrlich gesagt, ich bin durchaus neugierig geworden.«

Malte von Jügesen senior lehnte sich zurück. »Wir stammen ab von den Banner- und Reichsfreiherren von Jügesen mit Sitz im Billetal. Diese riesige Anlage mit einem wunderbaren Herrenhaus gehört heute noch unserer Familie; sie liegt in Nachbarschaft von Friedrichsruh im Sachsenwald, dem Alterssitz von Fürst Otto von Bismarck, der ja auch Herzog zu Lauenburg war. Der ‚Eiserne Kanzler‘ war sein Leben lang ein guter Kamerad von meinem Ururgroßvater. Dessen Enkel, also mein Großvater Otto, hat als kleines Kind den Fürsten noch erleben können.

Mein Großvater stieg als Juniorchef in die Reederei ein, aber nur formell, denn er musste auf Geheiß seines Vaters zur Kaiserlichen Marine, um die Seeoffizierslaufbahn einzuschlagen. Während des Ersten Weltkrieges vereinbarten die Väter der Familien von Reinern und von Jügesen die Hochzeit zwischen meinem Großvater Otto und der Baronesse Gertrud von Reinern. Gefragt wurde das Brautpaar nicht, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt. Trotzdem schienen sich die beiden zu mögen und alles hätte durchaus gutgehen können.«

Der Hausherr unterbrach seine Erzählung und rang sich ein ironisches Lächeln ab. »Allerdings würde es mich dann nicht geben. Sei‘s drum, die Flitterwochen des Paars waren kurz aber erfolgreich, wenn ich mich mal salopp ausdrücke, denn neun Monate später wurde Hans von Reinern geboren und sofort von seinem Großvater adoptiert, darum der andere Nachname. Allerdings erblickte er das Licht der Welt auf Schloss Lütjenstein, weil seine Mutter Gertrud von Jügesen unser Gut längst auf Nimmerwiedersehen verlassen hatte.«

Für einige Augenblicke schwieg Malte von Jügesen senior, dann hob er ergeben blickend die Schultern und sprach weiter. »Mein Großvater Otto musste drei Monate auf See bleiben, bevor er erstmalig Urlaub bekam. Nach seiner Ankunft auf dem Gut erfuhr er, dass er Vater würde; allerdings war die Freude kurz, denn seine Frau verweigerte ihm deswegen den Beischlaf. Erregt wie er wohl war, konnte er nicht einschlafen und ging in den Keller, um sich etwas Wein zu holen. Dort erwischte er zwei Frauen vom Gesinde, Schwestern, die sich heimlich an den Vorräten ergötzten. Warum er sie nicht maßregelte, sondern sich auf einen Umtrunk mit ihnen einließ, weiß der Kuckuck. Jedenfalls blieb es nicht ohne Folgen, sie gebaren ihm eine Tochter sowie einen Sohn, meinen Vater nämlich.«

Die glatt rasierten Wangen des Reedereibesitzers röteten sich leicht. Er überlegte, dann stand er auf und ging zu einer Vitrine. Nachdem er sie geöffnet hatte, beugte er sich zum untersten Fach und ergriff den Hals einer ungewöhnlich geformten Flasche. Mit ihr kam er zurück und hielt sie schräg nach vorn, damit Stormann das stockfleckige Etikett lesen konnte.

»Stich-pim-pu-li-bock-for-ce-lo-rum.« Diesen Namen sprach Stormann langsam mit Pausen zwischen den einzelnen Silben. »Was für ein seltsamer Begriff. Wofür steht er denn?«

»Für Stichos, Pimpernuss, Pulque, Liebstöckel, Bocksdorn, Forle, Cerealien, Lotus und Rum vor allem. Dieser Mischmasch ist schuld, dass ich jetzt vor Ihnen stehe.« Eher unwillkürlich nahm der Reedereibesitzer eine aufrechte Haltung an.

»Originell, sowas gab‘s also damals ...«

»Gibt es immer noch, diese Flasche jedoch ist aus seiner Zeit, die letzte, die er für sich kaufen ließ. Gehört auch zum Familienerbe, weil er es nicht mehr geschafft hat, sie vor seinem Tod noch zu leeren. Jedoch nicht zum angenehmen Erbteil, welcher mit Sicherheit niemals getrunken werden wird, denn er ist gedacht als Mahnung gegen den Konsum von Alkohol und anderer Drogen. Ich bin deswegen aktives Mitglied in der Gemeinschaft der Guttempler und entscheide mich bewusst, frei von diesen toxischen Substanzen zu leben.«

»Eigentlich löblich«, murmelte Stormann. »Sehr sogar.«

»Mein Sohn hat einen Tag nach seiner Volljährigkeit das ‚von‘ aus seinem Namen streichen lassen, nachdem ich ihn vor seinem achtzehnten Geburtstag darüber aufgeklärt hatte. Einen guten Tropfen schätzt er jedoch sehr, zu sehr zu meinem Bedauern.« Hilflos blickend breitete er die Arme aus. »Er kauft sogar die neuen Flaschen von dieser Marke. Davon habe ich auch eine hier, welche auch nie getrunken werden wird. Ich hole sie mal, damit Sie die sich auch einmal ansehen können.«

»Stichpimpulibockforkelorum, köstlicher Likör«, wiederholte und ergänzte Stormann, dann schüttelte er den Kopf. »Und dieser anstößige Ziegenbock vor der rothaarigen Dame, die wegen ihm ihren kurzen Rock festhält. Das passt ja wirklich wie die Faust aufs Auge.« Spontan legte er den Kopf nach hinten, klatschte die flache Hand auf die Stirn und begann schallend zu lachen. Wenige Augenblicke später jedoch besann er sich und gestikulierte besänftigend. »Bitte entschuldigen Sie vielmals, Herr von Jügesen, ich wollte Sie wirklich nicht brüskieren.«

»Schon gut.« Malte von Jügesen senior trug die Kräuterliköre zurück zu ihrem Aufbewahrungsort und setzte sich wieder. »Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Damit leben wir nun schon sehr lange und glücklicherweise denkt nur noch die Familie daran. Und mir tut es schon leid, dass ich Ihnen das alles erzählt habe.« Er sah Stormann streng an. »Sie werden das für sich behalten.«

»Ich schweige wie ein Grab«, beeilte sich Stormann mit der Antwort, beugte sich geflissentlich vor und hob besänftigend die offenen Handflächen.

»Das hat sehr lange gedauert, bis wir durch untadelige Arbeit diesen Ruf tilgen konnten und unser Unternehmen wieder vergrößert haben, ein Verdienst vor allem von meinem Vater.«

»Entschuldigen Sie bitte, Herr von Jügesen, im Sinn bin ich gerade wieder Kommissar: Bisher habe ich drei Stiefgeschwister mitgezählt, einschließlich dieses Hans von Reinern.«

»Das habe ich von Anfang an schon gemerkt: Der Kommissar treibt sich nach wie vor in Ihrem Oberstübchen herum, derzeit befindet er in der Abteilung Recherche.« Mit mildem Spott im Blick betrachtete der Reeder sein Gegenüber, dann winkte er generös ab. »Ist ja auch zu toll, diese Geschichte, denn mein Großvater hat wohl nach der Devise weitergelebt: ‚Ist der Ruf erst mal ruiniert, lebt’s sich ungeniert‘. Er zeugte noch vier weitere Kinder, einmal Zwillingssöhne mit der älteren und zwei Töchter mit der jüngeren der beiden Schwestern. Eins und drei und drei macht nach Adam Riese sieben.«

»Den Kriminalbeamten in mir werde ich wohl nicht los, über dreißig Jahre war ich bei der Polizei.« Lächelnd steckte Stormann die Spöttelei weg und kam wieder zur Sache. »Das hört sich nach einer größeren Sippschaft an. Heutzutage werden Sie jede Menge Teilhaber in Ihrer Reederei haben.«

»Nein, im Gegenteil, wir sind nur zu dritt.« Von Jügesen senior schüttelte den Kopf. »Vier sind im Krieg und in der Zeit kurz darauf samt ihren Nachfahren gestorben, nur die beiden jüngeren Zwillingssöhne leben jetzt ... leider ..., und das muss ich wirklich und aufrichtig nicht nur einmal sagen, leider immer noch. Wenigstens habe sie keine Nachkommen.«

»Dann ist Ihr Erbhof ja doch nicht übervölkert.« Stormann schmunzelte, dann hob er die Brauen. »Aber wieso leider?«

Von Jügesen senior seufzte, als wäre ihm gerade eine schwere Last aufgebürdet worden. Er zögerte und lehnte sich weit zurück, bevor er weitersprach. »Meine verstockten und absolut unverbesserlichen Onkel sind vor etlichen Jahren ausgewandert.« Wieder zögerte er. »Nach Chile.«

»Wieso haben die denn nicht das Gut als Alterssitz gewählt?«

»Das haben sie nicht!« Die Antwort kam rasch und heftig, der Reeder schluckte kurz, bevor er fortfuhr. »Nur ich und meine Familie genießen dort unsere Freizeit. Ansonsten kümmert sich ein Hausmeister um das Anwesen.« Er hob beide Hände wie zur Abwehr, um das Ende des Themas zu signalisieren. »Was haben Sie denn nun über meinen Sohn zu erzählen?«

Etwas verlegen zuckte Stormann die Achseln und blickte wie jemand, der wesentlich weniger zu bieten hat als der andere. »Meine Geschichte ist schneller erzählt: Ihr Sohn brauchte Geld als Anmeldegebühr für seine Abschlussprüfung in Seerecht. Er wollte Ihnen gegenüber nicht zugeben, dass er seinen Etat gesprengt hatte, und hat mir das Märchenbuch der Brüder Grimm verkauft, wo eben dieser Zettel drin war. Warum sein Geld nicht gereicht hat, hat er mir natürlich nicht gesagt. Aber ich verspreche Ihnen, Ihre Geschichte für mich zu behalten.«

»Bestimmt hat er wieder einmal sein Geld für nichts Gescheites ausgegeben.« Ruckartig erhob sich von Jügesen senior und blickte unwirsch. »Dieser Luftikus!«

 

Auch Stormann stand rasch auf, denn er verstand, dass dieses Gespräch beendet war. »Eine Frage noch, mehr ein Anliegen.« Er zeigte zum Fenster. »Das Fernrohr ist doch auf die Außenalster gerichtet? Ich würde sehr gerne mal kurz hindurchschauen.«

»Bitte sehr. Eigentlich gehört es auf die Brücke eines unserer Schiffe. Es ist für einen auswärtigen guten Kunden als Demon- stration für ein paar Tage hier aufgestellt worden.«

Auf diese Gelegenheit hatte Stormann schon gewartet und beeilte sich, das Beobachtungsgerät einzurichten. Er stellte das System scharf auf den Alster-Anleger und schwenkte das Rohr behutsam nach links, bis er seinen Ex-Kollegen entdeckte. Er zentrierte ihn im Fadenkreuz und verfolgte die stumme Szene, die sich ihm bot: Zwei Hamburger Polizisten auf Fußstreife flankierten den auf seinem Klappstuhl hockenden Brüwer; der eine nahm ihm soeben die Angelrute weg, der andere hob einen enzianblauen 20-Liter-Plastikeimer hoch, trug ihn rasch zur Alster und schüttete, inmitten eines Wasserschwalls, einen klitzekleinen Fisch zurück in sein Element.

Zurückgekommen ermahnte dieser mit erhobenem Zeigefinger den Fischwilderer, der nun, im Bewusstsein seiner Schuld, zu einem Zwerg zusammengeschrumpft schien. Der hochrote tief eingezogene Kopf von Brüwer sowie sein eifriges Nicken schienen die beiden Streifenbeamten jedoch zu besänftigen. Derjenige, welcher ihm die Angelrute fortgenommen hatte, schrieb weiter auf seinem Notizblock, während der andere nun Anstalten machte, den ehemaligen Kriminalhauptkommissar zu ...

»Ahem«, ließ sich der Hausherr vernehmen, lauter nun als beim ersten nicht wahrgenommenen Räuspern. »Dauert es noch lange?«

Ruckartig richtete Stormann sich auf. »Schon gut, Herr von Jügesen.« Bedauernd blickend nahm er die Hände von den Rädern zum Justieren. »Ich habe genug gesehen.« Hastig drehte er das Fernrohr in die Ausgangsposition zurück und arretierte es. »Und vielen Dank, dass Sie mir zu diesem wirklich ergötzlichen Ausblick verholfen haben.«

»Na ja. Wenn es sie ein wenig erfreut hat.« Von Jügesen senior nickte gönnerhaft. »Bitte schön.« Jedoch änderte sich sein Blick und wurde bestimmter. »Aber nun ...«

»Ich habe ohnehin noch etwas Wichtiges zu erledigen.« Stormann wandte sich zum Gehen.

Am Abgang zum Treppenhaus verabschiedete sich der Hausherr von seinem Gast. »Wegen des Rückerwerbs von dem Buch melde ich mich ganz sicher bei Ihnen«, rief er ihm noch nach.

*

Freie und Hansestadt Hamburg, Bezirk Hamburg-Mitte,

Stadtteil Sankt Georg, Tavérna Drákon

Sonntag, 26.08.2001, 20:45 Uhr

»‘N Abend, Kalli. Wo bleibst du denn schon wieder?« Mit vorwurfsvollem Blick sah Brüwer auf und stellte seinen halb vollen und bereits schaumfreien Bierkrug ab. »Wolltest du nicht ausnahmsweise mal pünktlich hier sein?«

»Guten Abend, Klemmi.« Stormann wiegelte ab mit besänftigenden Handbewegungen und schob sich gegenüber auf die hölzerne Sitzbank hinter den am Boden festgeschraubten Tisch mit blauer Marmorplatte. Schon seit vielen Jahren bevorzugten sie diesen Erker, denn hier konnten sie unter sich bleiben. »Ich habe mich sogar beeilt, denn ich hatte nach dem Gespräch mit Malte von Jügesen senior, der Vater heißt wie der Junior, aber mit von – warum, das erkläre ich dir später –, erneut einen Abstecher zum Fischmarkt gemacht. Heute Abend habe ich mich nur verspätet wegen einer überpünktlichen eS-Bahn, die mir vor der Nase weggefahren ist.«

»Kein Wunder bei deinem Schneckentempo.«

»Erstens kann ab und zu etwas schiefgehen und ...«

»Ich weiß: Shit happens!«

»... und zweitens bin ich nun Rentner.« Immer noch gelassen winkte Stormann ab, dann tastete er die Ausbeulung seiner rechten Manteltasche ab und blickte vielsagend. »Aber es scheint sich heute schon zum zweiten Mal gelohnt zu haben.«

»So?« Brüwer hob die Brauen, während er mit der freien Linken abwedelte. »Das muss es auch! Denn mich schon wieder einfach sitzen zu lassen ...«

»Was ist denn schon groß dabei. Du machst doch beim Biertrinken sowieso nichts anderes.«

»Und ob. Man denkt über das Leben, die Welt und den Rest des Universums nach. Man kann sich an einen unserer Mordfälle erinnern, die ja immer in der Zeitung standen. Zum Beispiel an die große Sache im Angelcenter von Schnelsen, wo du auf sämtlichen Fotos der Pressefritzen käseweiß aussiehst. Ich hatte schon Sorge, dass du einen Magenstrahl auf eine der Kameralinsen schießt. Dabei hatten wir bloß eine nackte Leiche gefunden in der mannsgroßen Metallkiste randvoll mit pappsatten Tauwürmern und ...«

»Hör bloß auf!«

»Ja! Jetzt siehst du genauso aus wie damals!« Brüwer lachte bollernd. »Aber die war ja auch zugerichtet wie ...«

»Hör sofort auf, sonst gehe ich wieder.«

»Ja, ja, schon gut. Nur fällt mir nichts anderes ein, wenn ich mal ein Bierchen trinke.«

»Du brauchst nur zu wollen. Zum Beispiel hättest du gerade eine wunderschöne Reise mit deiner Frau planen können.«

»Hör bloß auf!«

»Ja, ja, jetzt schüttelst du dich.« Stormann lachte leise und blickte gönnerhaft. »Zum Beispiel könntest du mit ihr nächstes Wochenende einen Flug nach ...«

»Hör sofort auf, sonst sage ich Georgios, dass er dir Hausverbot erteilt! Meine Frau geht doch noch jahrelang arbeiten und hat nie Zeit für mich, weil sie mich als Rentner nicht mehr für voll nimmt. Das weißt du ganz genau.«

»Und du weißt ganz genau, wovor ich mich ekle. Also, sind wir jetzt endlich mal quitt?«

»Endlich mal? Ausnahmsweise. Geooorgiooos!« Hinter dem Tresen der Bar hantierte der griechische Inhaber des Restaurants. Als dieser nun erfreut aufblickte, schnippte Brüwer mit den Fingern. »Ein großes kühles Blondes für meinen allerbesten Freund. Und für mich auch noch eines.«

So unauffällig wie möglich zog Stormann ein handtellergroßes Bündel aus der rechten Tasche seines Mantels, legte den in einen weißen Lappen gewickelten Gegenstand sacht auf den Tisch und schob ihn langsam hinüber.

»Hoppla!«, murmelte Brüwer und hob wie elektrisiert die buschigen Brauen. »Was schleppst du denn da an?« Er hob rasch die rechte Hand. »Halt!« Dann senkte er sie und tastete mit allen Fingerspitzen das Leinentuch ab. »Das bekomme ich selber heraus, ich kann‘s mir sogar schon denken.«

»Nur zu.«

»Ein kurzer Lauf, ... ein Griff, ... ein Abzugsbügel. Das kann nur eine Faustfeuerwaffe sein, eine Pistole würde ich sagen, denn ich spüre keine Trommel.«

»Treffer: Eine Walther PePeKa, sehr gut erhalten, obwohl aus dem Zweiten Weltkrieg. Mit dieser Waffe wurde bis vor kurzem sogar noch geschossen.«

»Gesichert? Entladen?« Vorsichtig fasste Brüwer einen Zipfel des Leinentuchs.

»Gewiss.«

»Na, dann wollen wir doch mal nachsehen.« Obwohl in dieser Ecke kaum jemand sie beobachten und abhören konnte, reckte Brüwer seinen Hals und vergewisserte sich mit einem unauffälligen Blick rundum, dass wirklich keiner der anderen Gäste etwas mitbekam; dann packte er aus. »Alles blank poliert, wie neu. Nur der Griff ist schon ganz schön abgenutzt, also wurde mit der Waffe viel hantiert.«

»Ertappt«, flüsterte Georgios und grinste dermaßen, dass sein pechschwarzer Vollbart rechtwinklig von den dicken Backen abstand. Er hatte es genossen, sich gelegentlich anzuschleichen und die beiden Kommissare während ihrer zumeist konspirativen Sitzungen ein wenig zu erschrecken. »Dabei dachte ich, ihr seid pensioniert.«

»Sind wir auch.« Nachdem Brüwer sich von seinem Schrecken erholt hatte, nickte er mit Nachdruck und zeigte mit dem rechten Zeigefinger anklagend auf Stormann. »Der da ist schuld.« Danach wies er auf den Wohlstandsbauch des Griechen. »Wie immer hast du weder etwas gesehen noch gehört! Du weißt, du bist und bleibst unser einziger Mitwisser, Vertrauter und Freund in Hamburg, im Norden, in Deutschland, in Europa und dem Rest der Welt.«