Mephisto

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Mephisto
Mephisto
Hörbuch
Wird gelesen Jens Harzer
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Man hatte Wetten darüber abgeschlossen, in welcher Phantasieuniform der Dicke heute Abend erscheinen würde. Es war eine asketische Koketterie von ihm, nun die Gesellschaft durch den allerschlichtesten Aufzug zu verblüffen. Die flaschengrüne Litewka, die er trug, wirkte fast wie eine streng geschnittene Hausjacke. Auf der Brust blitzte ihm nur ein ganz kleiner silberner Ordensstern. In den grauen Hosen wirkten seine Beine – die er sonst gerne unter langen Mänteln verbarg – besonders umfangreich: es waren Säulen, auf denen er sich langsam dahinbewegte. Die kolossalische Größe und Breite seiner monströsen Figur waren geeignet, Schrecken und Ehrfurcht um sich zu verbreiten – zumal kein Anlass bestand, irgendetwas an ihm komisch zu finden: dem Kühnsten verging das Lachen, wenn er erwog, wie viel Blut schon auf den Wink des Speck- und Fleisch-Riesen geflossen war und wie unermeßlich viel Blut vielleicht noch strömen würde zu seinen Ehren. Auf dem kurzen, wulstigen Hals erschien sein massives Haupt wie übergossen von dem roten Safte: das Haupt eines Cäsars, von dem man die Haut abgezogen hat. An diesem Gesicht war nichts Menschliches mehr: es war aus rohem, ungeformten Fleische ein Klotz.

Der Ministerpräsident schob seinen Bauch, dessen enorme Wölbung in die der Brust überging, majestätisch durch die strahlende Versammlung. Der Ministerpräsident grinste.

Sein Weib Lotte grinste nicht, sondern verschenkte Lächeln, eine Königin Luise in jedem Zoll. Auch ihre Robe, deren Kostbarkeit den Gesprächsstoff der Damen gebildet hatte, war einfach bei allem Pomp: glatt fließend, aus einem schimmernden Silbergewebe, endend in einer königlich langen Schleppe. Das Brillantendiadem aber in der ährenblonden Frisur, die Perlen und Smaragde auf dem Busen übertrafen an Gewicht und Strahlenglanz alles, was es sonst noch zu bewundern gab in dieser üppigen Runde. Das riesenhafte Geschmeide der Provinzschauspielerin repräsentierte Millionenwerte: sie verdankte es der Galanterie eines Gatten, der gerne die Prunksucht und Korrumpiertheit republikanischer Minister und Bürgermeister in öffentlicher Rede geißelte, und der Treue einiger wohlsituierter und bevorzugter Untertanen. Frau Lotte verstand es, Aufmerksamkeiten von solchem Gewicht mit jener anspruchslosen Heiterkeit hinzunehmen, die ihr den Ruf der naiven und mütterlichen, verehrungswürdigen Frau einbrachte. Sie galt als uneigennützig, unantastbar rein. Sie war zur Idealgestalt geworden unter den deutschen Frauen. Sie hatte große, runde, etwas hervortretende Kuhaugen von einem feuchtstrahlenden Blau; schönes blondes Haar und einen schneeweißen Busen. Übrigens war auch sie schon ein wenig zu dick – man speiste gut und reichlich im Präsidentenpalais. Man erzählte sich bewundernd von ihr, daß sie sich gelegentlich bei ihrem Gatten für Juden aus der guten Gesellschaft einsetze – die Juden kamen trotzdem ins Konzentrationslager. Man nannte sie den guten Engel des Ministerpräsidenten; indessen war der Fürchterliche nicht milder geworden, seitdem sie ihn beriet. Eine ihrer berühmtesten Rollen war die Lady Milford in Schillers »Kabale und Liebe« gewesen: jene Mätresse eines Gewaltigen, die den Glanz ihres Geschmeides und die Nähe ihres Fürsten nicht mehr erträgt, da sie erfahren hat, womit man Edelsteine bezahlt. Als sie zum letzten Mal im Staatstheater auftrat, spielte sie die Minna von Barnhelm: so deklamierte sie, ehe sie in den Palast des Fliegergenerals übersiedelte, noch einmal die Sätze eines Dichters, den ihr Gemahl und seine Spießgesellen hetzen und verfolgen lassen würden, lebte er heute und hier. In ihrer Gegenwart wurden die schauerlichen Geheimnisse des totalen Staates besprochen: sie lächelte mütterlich. Morgens, wenn sie ihrem Gatten neckisch über die Schulter lugte, sah sie Todesurteile vor ihm auf dem Renaissanceschreibtisch – und er unterzeichnete sie; abends zeigte sie den weißen Busen und die ährenblonde Kunstfrisur in Opernpremieren oder an den geschmückten Tafeln der Bevorzugten, die ihres Umgangs gewürdigt wurden. Sie war unberührbar, unangreifbar; denn sie war ahnungslos und sentimental. Sie glaubte sich umgeben von der »Liebe ihres Volkes«, weil zweitausend Ehrgeizige, Käufliche und Snobs Lärm machten zu ihren Ehren. Sie schritt durch den Glanz und verschenkte Lächeln – mehr verschenkte sie nie. Sie glaubte allen Ernstes, daß Gott ihr wohlwollte, weil er ihr so viel Geschmeide hatte zukommen lassen. Mangel an Phantasie und an Intelligenz bewahrte sie davor, an eine Zukunft zu denken, die mit dieser schönen Gegenwart vielleicht wenig Ähnlichkeit haben würde. Wie sie dahinschritt, erhobenen Hauptes, übergossen vom Licht und von der allgemeinen Bewunderung, gab es keinen Zweifel in ihrem Herzen an der Haltbarkeit solchen Zaubers. Niemals – so meinte sie zuversichtlich – niemals würde abfallen von ihr dieser Glanz; niemals würden die Gemarterten sich rächen, niemals würde die Finsternis nach ihr greifen.

Immer noch wurde Tusch gespielt, ebenso laut wie ausführlich; immer noch dauerte das huldigende Geschrei. Inzwischen waren Lotte und ihr Dicker beim Propagandaminister und bei Höfgen angekommen. Die drei Herren hoben flüchtig die Arme, die Grußzeremonie lässig andeutend. Dann neigte Hendrik sich mit einem ernsten und innigen Lächeln über die Hand der großen Dame, die er so oft auf der Bühne hatte umarmen dürfen. – Hier standen sie, dargeboten der brennenden Neugier einer gewählten Öffentlichkeit: vier Mächtige in diesem Lande, vier Gewalthaber, vier Komödianten – der Reklamechef, der Spezialist für Todesurteile und Bombenflugzeuge, die geheiratete Sentimentale und der fahle Intrigant. Die gewählte Öffentlichkeit beobachtete, wie der Dicke dem Herrn Intendanten auf die Schulter schlug, daß es krachte, und sich mit einem grunzenden Lachen erkundigte: »Na, wie geht's, Mephisto?«

Vom ästhetischen Gesichtspunkt aus war die Situation für Höfgen vorteilhaft: neben dem gar zu ausladenden Ehepaar wirkte er schlank, und neben dem agilen aber krüppelhaften Reklamezwerg hochgewachsen und stattlich. Übrigens bildete auch sein Gesicht, so fahl und fatal es sein mochte, einen immerhin erfreulichen Gegensatz zu den drei Gesichtern, die es umgaben: mit den empfindlichen Schläfen und dem kräftig geprägten Kinn erschien es doch als das Antlitz eines Menschen, der gelebt und gelitten hat; das Gesicht seines fleischigen Protektors aber war eine verquollene Maske; das der Sentimentalen eine törichte Larve und das des Propagandisten eine verzerrte Fratze.

Die Sentimentale sagte mit seelenvollem Blick zum Intendanten, für den sie eine geheime – jedoch nicht gar zu geheime – Zuneigung im Busen trug: »Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, Hendrik, wie wunderschön ich Ihren Hamlet finde.« Er drückte ihr schweigend die Hand, wobei er einen Schritt näher an sie herantrat und ebenso innig zu blicken versuchte, wie es ihr von der Natur gegeben war. Der Versuch mußte mißglücken: seine fischigen Juwelenaugen gaben so viel sanfte Wärme nicht her. Deshalb machte er ein ernstes, beinah etwas ärgerliches, offizielles Gesicht und murmelte: »Ich muß ein paar Worte sprechen.« Dann erhob er die Stimme.

Sie hatte einen leuchtenden, raffiniert geschulten Metallton und war bis in die entferntesten Winkel des großen Saales hörbar und wirksam, als sie ausrief: »Herr Ministerpräsident! Hoheiten, Exzellenzen, meine Damen und Herren! Wir sind stolz – ja, wir sind stolz und froh, daß wir dieses Fest heute in diesem Hause mit Ihnen, Herr Ministerpräsident, und mit Ihrer wundervollen Gattin begehen dürfen . . .«

Mit dem ersten seiner Worte war das bewegte Gespräch der Zweitausend-Personen-Gesellschaft verstummt. In vollkommener Stille, in devoter Regungslosigkeit lauschte man der langen, pathetischen und platten Glückwunschrede, die der Intendant, Senator und Staatsrat für seinen Ministerpräsidenten hielt. Alle Augen waren auf Hendrik Höfgen gerichtet. Alle bewunderten ihn. Er gehörte zur Macht. Er war ihres Schimmers teilhaftig – so lange der Schimmer hielt. Von ihren Repräsentanten war er einer der Feinsten und Gewandtesten. Seine Stimme brachte, anläßlich des 43. Geburtstages seines Herrn, die überraschendsten Jubeltöne hervor. Er hielt das Kinn hochgereckt, die Augen schimmerten, seine sparsamen und kühnen Gesten hatten den schönsten Schwung. Er vermied es aufs sorgsamste, ein wahres Wort zu sagen. Der skalpierte Cäsar, der Reklamechef und die Kuhäugige schienen darüber zu wachen, daß nur Lügen, nichts als Lügen von seinen Lippen kämen: eine geheime Verabredung verlangte es so, in diesem Saale wie im ganzen Land.

Während er sich dem Ende seiner Ansprache mit bravourös gesteigertem Tempo näherte, flüsterte eine hübsche, kindlich aussehende kleine Dame – die Gattin eines bekannten Filmregisseurs –, die im Hintergrund des Raumes ein bescheidenes Plätzchen hatte, tonlos ihrer Nachbarin zu:

»Wenn er fertig ist, muß ich hingehen und ihm die Hand schütteln. Ist es nicht phantastisch? Ich kenne ihn doch noch von früher – ja, wir sind in Hamburg zusammen engagiert gewesen. Das waren ulkige Zeiten! Und was hat der Mensch seitdem für eine Karriere gemacht!!«

H. K.

In den letzten Jahren des Weltkrieges und in den ersten Jahren nach der Novemberrevolution hatte das literarische Theater in Deutschland eine große Konjunktur. Um diese Zeit erging es auch dem Direktor Oskar H. Kroge glänzend, den schwierigen Wirtschaftsverhältnissen zum Trotz. Er leitete eine Kammerspielbühne in Frankfurt a/M.: in dem engen, stimmungsvoll intimen Kellerraum traf sich die intellektuelle Gesellschaft der Stadt und vor allem eine angeregte, von den Ereignissen aufgewühlte, diskussions- und beifallsfreudige Jugend, wenn es die Neuinszenierung eines Stückes von Wedekind oder Strindberg gab oder eine Uraufführung von Georg Kaiser, Sternheim, Fritz von Unruh, Hasenclever oder Toller. Oskar H. Kroge, der selbst Essays und hymnische Gedichte schrieb, empfand das Theater als die moralische Anstalt: von der Schaubühne sollte eine neue Generation erzogen werden zu den Idealen, von denen man damals glaubte, daß die Stunde ihrer Erfüllung gekommen sei – zu den Idealen der Freiheit, der Gerechtigkeit, des Friedens. Oskar H. Kroge war pathetisch, zuversichtlich und naiv. Am Sonntagvormittag, vor der Aufführung eines Stückes von Tolstoi oder von Rabindranath Tagore, hielt er eine Ansprache an seine Gemeinde. Das Wort »Menschheit« kam häufig vor; den jungen Leuten, die sich im Stehparkett drängten, rief er mit bewegter Stimme zu: »Habet den Mut zu euch selbst, meine Brüder!« – und er erntete Beifallsstürme, da er mit den Schillerworten schloß: »Seid umschlungen, Millionen!«

 

Oskar H. Kroge war sehr beliebt und angesehen in Frankfurt a/M. und überall dort im Lande, wo man an den kühnen Experimenten eines geistigen Theaters Anteil nahm. Sein ausdrucksvolles Gesicht mit der hohen, zerfurchten Stirn, der schütteren, grauen Haarmähne und den gutmütigen, gescheiten Augen hinter der Brille mit schmalem Goldrand war häufig zu sehen in den kleinen Revuen der Avantgarde; zuweilen sogar in den großen Illustrierten. Oskar H. Kroge gehörte zu den aktivsten und erfolgreichsten Vorkämpfern des dramatischen Expressionismus.

Es war ohne Frage ein Fehler von ihm gewesen – nur zu bald sollte es ihm klar werden –, sein stimmungsvolles kleines Haus in Frankfurt aufzugeben. Das Hamburger Künstlertheater, dessen Direktion man ihm im Jahre 1923 anbot, war freilich größer. Deshalb akzeptierte er. Das Hamburger Publikum aber erwies sich als längst nicht so zugänglich dem leidenschaftlichen und anspruchsvollen Experiment, wie jener zugleich routinierte und enthusiastische Kreis, der den Frankfurter Kammerspielen treu gewesen war. Im Hamburger Künstlertheater mußte Kroge, außer den Dingen, die ihm am Herzen lagen, immer noch den »Raub der Sabinerinnen« und »Pension Schöller« zeigen. Darunter litt er. Jeden Freitag, wenn der Spielplan für die kommende Woche festgesetzt wurde, gab es einen kleinen Kampf mit Herrn Schmitz, dem geschäftlichen Leiter des Hauses. Schmitz wollte die Possen und Reißer angesetzt haben, weil sie Zugstücke waren; Kroge aber bestand auf dem literarischen Repertoire. Meistens mußte Schmitz, der übrigens eine herzliche Freundschaft und Bewunderung für Kroge hatte, nachgeben. Das Künstlertheater blieb literarisch – was seinen Einnahmen schädlich war.

Kroge klagte über die Indifferenz der Hamburger Jugend im Besonderen und über die Ungeistigkeit einer Öffentlichkeit im Allgemeinen, die sich allem Höheren entfremdet habe. »Wie schnell es gegangen ist!« stellte er mit Bitterkeit fest. »Im Jahre 1919 lief man noch zu Strindberg und Wedekind; 1926 will man nurmehr Operetten.« Oskar H. Kroge war anspruchsvoll und übrigens ohne prophetischen Geist. Hätte er sich beschwert über das Jahr 1926, wenn er sich hätte vorstellen können, wie das Jahr 1936 aussehen würde? – »Nichts Besseres zieht mehr,« grollte er noch. »Sogar bei den ›Webern‹ gestern ist das Haus halb leer gewesen.«

»Immerhin kommen wir doch zur Not noch auf unsere Rechnung.« Direktor Schmitz bemühte sich, den Freund zu trösten: Die Kummerfalten in Kroges gutmütigem und kindlichen alten Katergesicht taten ihm weh, wenngleich er doch selber allen Grund zur Sorge und auch schon mehrere Falten hatte in seiner feisten, rosigen Miene.

»Aber wie!« Kroge wollte sich durchaus nicht trösten lassen. »Aber wie kommen wir denn auf unsere Rechnung! Berühmte Gäste aus Berlin müssen wir uns einladen – so wie heute Abend –, damit die Hamburger ins Theater gehen.«

Hedda von Herzfeld – Kroges alte Mitarbeiterin und Freundin, die schon in Frankfurt Dramaturgin und Schauspielerin bei ihm gewesen war – bemerkte: »Du siehst wieder mal alles schwarz in schwarz, Oskar H.! Es ist ja schließlich keine Schande, Dora Martin gastieren zu lassen – sie ist wundervoll –, und übrigens kommen unsere Hamburger auch, wenn Höfgen spielt.« Während sie Höfgens Namen aussprach, lächelte Frau von Herzfeld klug und zärtlich. Über ihr großes, matt gepudertes Gesicht mit der fleischigen Nase, den großen, goldbraunen, wehmütig intelligenten Augen ging ein bescheidenes Aufleuchten.

Kroge sagte brummig: »Höfgen wird überzahlt.«

»Die Martin übrigens auch,« fügte Schmitz hinzu. »Ihren ganzen Zauber in Ehren und zugegeben, daß sie ungeheuer zieht: aber tausend Mark Abendgage, das ist doch wohl ein bißchen toll.«

»Berliner Staransprüche,« machte Hedda spöttisch. Sie hatte in Berlin nie zu tun gehabt und behauptete, den Betrieb der Hauptstadt zu verachten.

»Tausend Mark im Monat für Höfgen ist auch übertrieben,« behauptete Kroge, plötzlich gereizt. »Seit wann hat er denn eigentlich tausend?« fragte er herausfordernd Schmitz. »Es sind doch immer nur achthundert gewesen, und das war reichlich genug.«

»Was soll ich machen?« Schmitz entschuldigte sich. »Er ist zu mir ins Büro gesprungen und er hat sich mir auf den Schoß gesetzt.« Frau von Herzfeld konnte mit Belustigung feststellen, daß Schmitz etwas rot wurde, während er dies erzählte. »Er hat mich am Kinn gekitzelt und hat immer wieder gesagt: ›Tausend Mark müssen es sein! Tausend, Direktorchen! Es ist eine so schöne runde Summe!‹ Was sollte ich da machen, Kroge? Sagen Sie selbst!«

Es war Höfgens schlaue Gewohnheit, wie ein nervöser kleiner Sturmwind in Schmitzens Büro zu fahren, wenn er Vorschuss oder Gagenerhöhung wollte. Zu solchen Anlässen spielte er den übermütig Launischen und Kapriziösen, und er wußte, daß der ungeschickte dicke Schmitz verloren war, wenn er ihm die Haare zauste und den Zeigefinger munter in den Bauch stieß. Da es sich um die tausend-Mark-Gage handelte, hatte er sich ihm sogar auf den Schoß gesetzt: Schmitz gestand es unter Erröten.

»Das sind Albernheiten!« Kroge schüttelte ärgerlich das versorgte Haupt. »Überhaupt ist Höfgen ein grundalberner Mensch. Alles an ihm ist falsch, von seinem literarischen Geschmack bis zu seinem sogenannten Kommunismus. Er ist kein Künstler, sondern ein Komödiant.«

»Was hast du gegen unseren Hendrik?« Frau von Herzfeld zwang sich zu einem ironischen Ton; in Wahrheit war ihr keineswegs nach Ironie zumute, wenn sie von Höfgen sprach, für dessen geübte Reize sie nur zu empfänglich war. »Er ist unser bestes Stück. Wir können froh sein, wenn wir ihn nicht an Berlin verlieren.«

»Ich bin gar nicht so besonders stolz auf ihn,« sagte Kroge. »Er ist doch nicht mehr als ein routinierter Provinzschauspieler, und das weiß er übrigens im Grunde selbst ganz genau.«

Schmitz fragte: »Wo steckt er denn heute Abend?« – worauf Frau von Herzfeld leise durch die Nase lachte: »Er hat sich in seiner Garderobe hinter einem Paravent versteckt – der kleine Böck hat es mir erzählt. Er ist immer furchtbar aufgeregt und eifersüchtig, wenn Berliner Gäste da sind. So weit wie die werde er es niemals bringen, sagt er dann – und versteckt sich hinter einem Paravent, vor lauter Hysterie. Die Martin bringt ihn wohl besonders aus der Fassung, das ist so eine Art von Hassliebe bei ihm. Heute Abend soll er schon einen Weinkrampf gehabt haben.«

»Da seht ihr seinen Minderwertigkeitskomplex!« rief Kroge und schaute triumphierend um sich. »Oder vielmehr: daß er im Grunde irgendwo die richtige Einschätzung hat für sich selber.« –

Die Drei saßen in der Theaterkantine, die, nach den Initialen des Hamburger Künstlertheaters kurz »H. K.« genannt wurde. Über den Tischen mit den fleckigen Tüchern gab es eine verstaubte Bildergalerie: die Photographien all jener, die sich im Lauf der Jahrzehnte hier produziert hatten. Frau von Herzfeld lächelte während des Gespräches manchmal hinauf zu den Naiven und Sentimentalen, den komischen Alten, Heldenvätern, jugendlichen Liebhabern, Intriganten und Salondamen, die von Schmitz und Kroge übersehen wurden.

Drunten, im Theater, spielte Dora Martin, die mit ihrer heiseren Stimme, der verführerischen Magerkeit des ephebischen Körpers und den tragisch weiten, kindlichen und unergründlichen Augen das Publikum der großen deutschen Städte verhexte, einen Reißer zu Ende. Die beiden Direktoren und Frau von Herzfeld hatten nach dem zweiten Akt ihre Loge verlassen. Die übrigen Mitglieder des Künstlertheaters waren im Saal geblieben, um der Berliner Kollegin, die sie halb bewunderten und halb haßten, bis zum Schluß zuzusehen.

»Das Ensemble, das sie sich mitgebracht hat, ist ja wirklich unter jeder Kritik,« stellte Kroge verächtlich fest.

»Was wollen Sie?« meinte Schmitz. »Wie soll sie jeden Abend ihre tausend Mark verdienen, wenn sie sich auch noch teure Leute mit auf die Reise nimmt?«

»Aber sie selber wird immer besser,« sagte die kluge Herzfeld. »Sie kann sich jede Manieriertheit leisten. Sie kann wie ein geisteskrankes Baby sprechen: sie bezwingt.«

»Geisteskrankes Baby ist nicht schlecht,« lachte Kroge. »Man scheint unten fertig zu sein,« fügte er hinzu, mit einem Blick durchs Fenster. Die Leute kamen den gepflasterten Weg herauf, der vom Theater, an der Kantine vorbei, zu dem Tor führte, durch das man auf die Straße trat.

Nach und nach füllte sich die Kantine. Die Schauspieler grüßten mit einer respektvoll betonten Herzlichkeit den Direktorentisch und riefen dem Wirt, einem gedrungenen, kräftigen Greise mit weißem Knebelbart und blauroter Nase, kleine Scherze zu. Väterchen Hansemann, der Kantinenbesitzer, war für das Ensemble eine beinah ebenso bedeutungsvolle Persönlichkeit wie Schmitz, der geschäftliche Direktor. Von Schmitz konnte man Vorschuss bekommen, wenn er sich gerade in gnädiger Laune befand; bei Hansemann aber mußte man anschreiben lassen, wenn in der zweiten Monatshälfte die Gage aufgebraucht und ein Vorschuss nicht genehmigt worden war. Alle standen bei ihm in der Kreide; man behauptete, daß Höfgen ihm mehr als hundert Mark schuldig war. Hansemann hatte es also keineswegs nötig, auf die Witze seiner unsoliden Gäste einzugehen; unbewegten Gesichtes, drohenden Ernst auf der Stirne, servierte er Cognac, Bier und kalten Aufschnitt, den niemand bezahlte.

Alle sprachen über Dora Martin, jeder hatte seine eigene Ansicht über den Rang ihrer Leistung; nur darüber, daß sie entschieden zu viel Geld verdiente, waren sich alle einig.

Die Motz erklärte: »An dieser Starwirtschaft geht das deutsche Theater zugrunde« – wozu ihr Freund Petersen grimmig nickte. Petersen war Väterspieler mit dem Ehrgeiz zum Heroischen; er bevorzugte Könige oder adlige alte Haudegen in historischen Stücken. Leider war er etwas zu klein und dick für diese Partien – was er auszugleichen suchte durch eine stramme und kampfeslustige Haltung. Zu seinem Gesicht, das den Ausdruck falscher Biederkeit zeigte, hätte ein grauer Schifferbart gepaßt; da er fehlte, wirkte seine Miene ein wenig kahl, mit der langen, rasierten Oberlippe und den sehr blauen, ausdrucksvoll blitzenden, zu kleinen Augen. Die Motz liebte ihn mehr, als er sie: das wußten alle. Da er genickt hatte, wandte sie sich nun direkt an ihn, um in einem intimen und bedeutungsvollen Ton zu sagen: »Nicht wahr, Petersen: über diese Misswirtschaft haben wir schon häufig miteinander gesprochen?« Er bestätigte treuherzig: »Gewiß doch, Frau!« und blinzelte Rahel Mohrenwitz zu, die aufgemacht war als das perverse und dämonische junge Mädchen: mit schwarzen Ponies bis zu den rasierten Augenbrauen und einem großen, schwarzgerandeten Monokel im Gesicht, das übrigens kindlich, pausbäckig und völlig ungeformt war.

»In Berlin wirken die Martinschen Mätzchen vielleicht,« sprach die Motz resolut. »Aber unsereinem kann sie nichts vormachen, wir sind schließlich lauter alte Theaterhasen.« Sie blickte beifallheischend um sich. Ihr Fach war die komische Alte; zuweilen durfte sie auch reife Salondamen spielen. Sie lachte gern, viel und laut, wobei sie scharfe Falten um den Mund bekam, in dessen Innern Gold funkelte. Im Augenblick freilich zeigte sie eine würdevoll ernste, beinah zornige Miene.

Rahel Mohrenwitz sagte, wobei sie hochmütig mit ihrer langen Zigarettenspitze spielte: »Niemand kann schließlich leugnen, daß die Martin irgendwo eine enorm starke Persönlichkeit ist. Was sie auf der Bühne auch macht: immer ist sie unerhört intensiv da – ihr versteht, was ich meine . . .« Alle verstanden es; die Motz aber schüttelte mißbilligend den Kopf, während die kleine Angelika Siebert mit ihrem hohen, schüchternen Stimmchen erklärte: »Ich bewundere die Martin. Es geht eine zauberhafte Kraft von ihr aus, finde ich . . .« Sie wurde sehr rot, weil sie einen so langen und gewagten Satz vorgebracht hatte. Alle sahen mit einer gewissen Rührung zu ihr hin. Die kleine Siebert war reizend. Ihr Köpfchen mit dem kurzgeschnittenen, links gescheitelten blonden Haar glich dem eines dreizehnjährigen Buben. Ihre hellen und unschuldigen Augen wurden dadurch nicht weniger anziehend, daß sie kurzsichtig waren: manche fanden, daß gerade die Art, auf die Angelika beim Schauen die Augen zusammenkniff, ihren besonderen Charme ausmache.

 

»Unsere Kleine schwärmt wieder einmal,« sagte der schöne Rolf Bonetti und lachte etwas zu laut. Er war jenes Mitglied des Ensembles, das die meisten Liebesbriefe aus dem Publikum erhielt: daher sein stolzer, müder, vor lauter Blasiertheit beinah angewiderter Gesichtsausdruck. Der kleinen Angelika gegenüber jedoch war er der Werbende: schon seit längerem bemühte er sich um sie. Auf der Bühne durfte er sie oft in den Armen halten, das brachte sein Rollenfach mit sich. Im Übrigen aber blieb sie spröde. Mit einer wunderlichen Hartnäckigkeit verschenkte sie ihre Zärtlichkeit nur dorthin, wo nicht die mindeste Aussicht bestand, daß man sie erwiderte oder auch nur wünschte. Rührend und begehrenswert, wie sie war, schien sie ganz dafür gemacht, viel geliebt und sehr verwöhnt zu werden. Der sonderbare Eigensinn ihres Herzens aber ließ sie kühl und spöttisch bleiben vor Rolf Bonettis stürmischen Beteuerungen, und ließ sie bitterlich weinen über die eisige Geringschätzung, die Hendrik Höfgen ihr gegenüber an den Tag legte.

Rolf Bonetti sagte kennerhaft: »Als Frau kommt diese Martin jedenfalls gar nicht in Frage: ein unheimlicher Zwitter – sicher hat sie so etwas wie Fischblut in den Adern.«

»Ich finde sie schön,« sagte Angelika, leise aber entschlossen. »Sie ist die schönste Frau, finde ich.« Schon standen ihr die Augen voll Tränen: Angelika weinte häufig, auch ohne besonderen Anlass. Träumerisch sagte sie noch: »Es ist merkwürdig – ich spüre irgend eine geheimnisvolle Ähnlichkeit zwischen Dora Martin und Hendrik . . .« Dies erregte allgemeine Verwunderung.

»Die Martin ist eine Jüdin.« Es war der junge Hans Miklas, der sich unvermittelt so vernehmen ließ. Alle schauten betroffen und etwas angewidert zu ihm hin. – »Der Miklas ist köstlich,« sprach die Motz in ein betretenes Schweigen hinein und versuchte zu lachen. Kroge runzelte die Stirne, verwundert und degoutiert, während Frau von Herzfeld nur den Kopf schütteln konnte; übrigens war sie blaß geworden. Da die Pause lang und peinlich wurde – der junge Miklas stand bleich und trotzig an die Theke gelehnt – sagte Direktor Kroge schließlich ziemlich scharf: »Was soll denn das?« und machte ein Gesicht, so böse, wie es ihm eben möglich war. Ein anderer junger Schauspieler, der sich bis dahin leise mit Vater Hansemann unterhalten hatte, sagte forsch und versöhnlich: »Hoppla, das ist daneben gegangen! Laß nur, Miklas, sowas kann vorkommen, du bist sonst ein ganz braves Kind!« Dabei klopfte er dem Übeltäter auf die Schulter und lachte so herzlich, daß alle einstimmen konnten; sogar Kroge entschloß sich zu einer Heiterkeit, die freilich krampfhaften Charakter hatte: er schlug sich mit der flachen Hand auf den Schenkel und warf den Oberkörper nach vorne, so heftig schien er sich plötzlich zu amüsieren. Miklas aber blieb ernst; er drehte das verstockte, bleiche Gesicht zur Seite, die Lippen böse aufeinander gepreßt. »Sie ist doch eine Jüdin.« Er sprach so leise, daß fast niemand es hören konnte; nur Otto Ulrichs, der gerade erst durch seine Unbefangenheit die Situation gerettet hatte, hörte es, und nun strafte er ihn mit einem ernsten Blick.

Nachdem Direktor Kroge durch sein Gelächter ausführlich bekundet hatte, daß er die Entgleisung des jungen Miklas durchaus von der komischen Seite nahm, winkte er Ulrichs. »Ach Ulrichs, kommen Sie doch bitte mal einen Augenblick!« Ulrichs setzte sich an den Tisch zu den Direktoren und Frau von Herzfeld.

»Ich will mich nicht in Ihre Angelegenheiten mischen, wirklich nicht.« Kroge ließ es sich anmerken, daß die Sache ihm äußerst peinlich war. »Aber es kommt jetzt immer häufiger vor, daß Sie in kommunistischen Versammlungen auftreten. Gestern haben Sie schon wieder irgendwo mitgemacht. Das schadet Ihnen doch, Ulrichs, und uns schadet es auch.« Kroge sprach leise. »Sie wissen doch, wie die bürgerlichen Zeitungen sind, Ulrichs,« sagte er eindringlich. »Suspekt sind wir den Leuten ohnedies. Wenn eines unserer Mitglieder sich nun politisch exponiert – es kann verhängnisvoll für uns sein, Ulrichs.« Kroge trank sehr hastig seinen Cognac aus, er war sogar etwas rot geworden.

Ulrichs antwortete ruhig. »Es ist mir sehr erwünscht, Herr Direktor, daß Sie von diesen Dingen zu mir sprechen. Natürlich habe ich auch schon über sie nachgedacht. Vielleicht ist es besser, wir trennen uns, Herr Direktor – glauben Sie mir, daß es mir nicht leicht fällt, diesen Vorschlag zu machen. Aber auf meine politische Betätigung kann ich nicht verzichten. Ihr müßte ich sogar mein Engagement opfern, und das wäre ein Opfer; denn ich bin gerne hier.« Er sprach mit einer angenehmen, dunklen und warmen Stimme. Während er redete, schaute Kroge mit einer väterlichen Sympathie auf sein intelligentes, kraftvolles Gesicht. Otto Ulrichs war ein gut aussehender Mann. Seine hohe, freundliche Stirn, von der das schwarze Haar weit zurückwich, und die engen, dunkelbraunen, gescheiten und lustigen Augen flößten Vertrauen ein. Kroge mochte ihn sehr. Deshalb wurde er jetzt beinah zornig.

»Aber Ulrichs!« rief er aus. »Davon kann doch gar keine Rede sein. Sie wissen ganz genau, daß ich Sie niemals fortlassen würde!« »Wir können Sie gar nicht entbehren!« fügte Schmitz hinzu – der dicke Mensch überraschte zuweilen durch eine merkwürdig vibrierende, helle und hübsche Stimme –; wozu die Herzfeld ernst bestätigend nickte. »Es ist doch nur ein klein bißchen Zurückhaltung, worum ich Sie bitte,« versicherte Kroge.

Ulrichs sagte mit Herzlichkeit: »Ihr seid alle sehr nett zu mir – wirklich sehr nett – und ich werde mir Mühe geben, daß ich euch nicht gar zu sehr kompromittiere.« Die Herzfeld lächelte ihm vertraulich zu. »Es ist Ihnen ja wohl nicht ganz unbekannt,« sagte sie leise, »daß wir politisch weitgehend mit Ihnen sympathisieren.« – Der Mann, mit dem sie in Frankfurt verheiratet gewesen war und dessen Namen sie führte, war Kommunist. Er war viel jünger als sie und hatte sie verlassen. Zur Zeit arbeitete er in Moskau als Filmregisseur.

»Weitgehend!« betonte Kroge mit lehrhaft erhobenem Zeigefinger. »Wenngleich nicht ganz, nicht in allen Stücken. Nicht alle unsere Träume haben sich in Moskau erfüllt. Können die Träume, die Forderungen, die Hoffnungen der Geistigen sich erfüllen unter der Diktatur?«

Ulrichs antwortete ernst, wobei seine engen Augen noch schmaler wurden und einen beinah drohenden Blick bekamen: »Nicht nur die Geistigen – oder die, welche sich so nennen – haben ihre Hoffnungen und Forderungen. Noch dringlicher sind die Forderungen des Proletariats. Diese waren, so wie die Welt heute ist, nur zu erfüllen mittels der Diktatur.« Hier zeigte Direktor Schmitz ein bestürztes Gesicht. Ulrichs, um dem Gespräch eine leichtere Wendung zu geben, sagte lächelnd: »Übrigens wäre auf der Versammlung gestern das Künstlertheater beinah durch sein prominentestes Mitglied repräsentiert worden. Hendrik wollte eigentlich auftreten – im letzten Augenblick ist er dann leider verhindert gewesen.«

»Höfgen wird immer im letzten Augenblick verhindert sein, wenn es sich um Angelegenheiten handelt, die bedenklich für seine Karriere werden könnten.« Kroge hatte verächtlich den Mund verzogen, während er dies sagte. Hedda von Herzfeld sah ihn flehend und kummervoll an. Als aber Otto Ulrichs mit Überzeugung äußerte: »Hendrik gehört zu uns,« lächelte sie erlöst. »Hendrik gehört zu uns,« wiederholte Ulrichs. »Und er wird das durch die Tat beweisen. Seine Tat wird das Revolutionäre Theater sein. In diesem Monat soll es eröffnet werden.«