Klaus Mann - Das literarische Werk

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Er verstummte, und sein Oberkörper zuckte besorgniserregend. Dann – mit der edlen Geisterhand flüchtig durch die Luft fahrend, als gäbe es dort etwas wegzuwischen: »Die jüdischen Exilierten sind für den politisch, den revolutionär Denkenden nur interessant, wenn wir von ihnen wissen oder doch annehmen dürfen: sie würden die Feinde dieses Regimes auch bleiben, wenn das Regime auf einen seiner schandbaren Tricks verzichtete, auf den Antisemitismus. – Nun ist freilich festzustellen, daß aus manch deutschem Juden, der zunächst keineswegs aus Gesinnungsgründen, vielmehr unter dem Druck der Umstände ins Exil gegangen ist, allmählich ein bewußter und aktiver Antifaschist werden kann. In vielen Fällen hat dieser bedeutsame Verwandlungsprozeß wohl schon begonnen … Denn natürlich sind in den jüdischen Traditionen, in der jüdischen Geistigkeit die Widerstände gegen den militanten Barbarismus, das aggressive Neuheidentum besonders stark; stärker oft, wollen wir hoffen, als ein Klasseninteresse, das es dem Wohlhabenden ratsam scheinen ließ, mit den Unterdrückern gegen die Unterdrückten zu stehen. Eine jahrtausendelange Leidensgeschichte hat unser Volk doch wohl den Wert einiger Begriffe und Ideale sehr tief begreifen lassen – etwa die Begriffe und Ideale der Toleranz; der Gerechtigkeit. – Und wenn sie es noch nicht begriffen haben«, fügte er hinzu, plötzlich in einem leichteren, verärgerten Ton, so als ginge das Ganze ihn nicht sehr viel an, »tant pis pour eux; dann werden sie es eben noch lernen müssen. Es ist doch so klar, so selbstverständlich« – er sagte es ungeduldig, als langweilte und enervierte es ihn, begriffsstutzigen Schülern die gleichen einfachen Dinge gar zu oft wiederholen zu müssen – »es liegt doch so auf der Hand: Wir Juden gehören auf die Seite der Unterdrückten, einfach, weil wir selbst Unterdrückte sind. Es ist ungemein in unserem Interesse, daß die Menschen etwas aufgeklärter, zivilisierter, etwas menschlicher werden; während der Faschismus es doch gerade darauf anlegt, sie immer mehr zu entmenschlichen. – Aber entschuldigen Sie, daß ich Sie mit diesen Banalitäten ennuyiere«, wendete er sich – ein pedantischer, aber doch gefallsüchtiger Dozent – an das unsichtbare Auditorium.

Überraschenderweise ließ an dieser Stelle des Vortrages die Proskauer das verständige Murmeln ihrer Stimme hören. »Man muß heute wieder den Mut zu gewissen Banalitäten haben«, bemerkte sie und blickte freundlich an ihrer Nase vorbei. »Übrigens ist es noch sehr die Frage, ob man das Selbstverständliche weiter als banal bezeichnen darf. Es stößt überall in der Welt – nicht nur in Deutschland – auf einen derartigen Widerspruch, daß es beinah den Reiz des Neuartigen und Gewagten bekommt.«

David schien ein wenig erstaunt darüber, daß sein Publikum es sich plötzlich herausnahm, das Kolleg durch Zwischenbemerkungen zu unterbrechen. Sein Gesicht verfinsterte und verzog sich nervös. Er beherrschte sich aber, lächelte verzeihend, winkte beinah fröhlich mit der gewichtslosen Hand – als wollte er sagen: Ein wenig keck, meine Liebe! Aber lassen wir’s gut sein – und fuhr, unbeirrbar, fort:

»Wir tun also gut daran, innerhalb der jüdischen Emigration jene Typengruppe, die in der Tat nur aus geschäftlichen Gründen das Land verlassen hat und in keinerlei politischer oder moralischer Opposition zum Regime steht, scharf von den anderen zu trennen, die entweder von vorneherein auch Gesinnungsemigranten waren oder sich doch zu Gesinnungsemigranten entwickeln.«

»Was hat Davidchen denn da eigentlich zu erzählen?« wollte die Schwalben-Wirtin, etwas mißtrauisch, wissen. Sie trat, die Zigarre im Mund, Arme in die Hüften gestemmt, neugierig näher, um dem temperamentvoll Dozierenden zu lauschen.

Auch andere wurden aufmerksam. Marion, die an einem Tisch mit dem Mediziner Dr. Mathes, dem ährenblonden »Meisje« und der kleinen Germaine Rubinstein saß, brach ihr Gespräch ab. »David ist groß in Form«, sagte sie lachend. Und während die Schwalben-Wirtin sich mit leisem Ächzen zwischen der Proskauer und David Deutsch auf einem Stuhl niederließ, der viel zu schmächtig schien, um ihre Leibesfülle zu tragen, bemerkte das »Meisje«, den leuchtend veilchenblauen Blick sinnend auf den Redenden, Gestikulierenden gerichtet: »Ich weiß nicht … für mich hat er etwas Ergreifendes … Er leidet soviel, und er denkt soviel nach … Sieht er nicht aus wie ein junger Priester?« fragte sie schüchtern und wurde ein wenig rot, als hätte sie sich zu weit vorgewagt. Sie paßte nicht ganz in den Kreis; in Berlin war sie Gärtnerin gewesen, sie hatte Kakteen gezüchtet. Weil ihre Mutter Holländerin war, nannte man sie »Meisje«, was das niederländische Wort für Mädchen ist. – »Es klingt ja etwas verstiegen«, fügte sie nun geschwind hinzu. »Aber sieht er nicht wirklich wie ein Priester aus?« – Marion, ohne sich nach Meisje umzudrehen, den Oberkörper nach der Richtung, wo David Deutsch saß, gewendet; den Arm um die Stuhllehne geschlungen; die Beine übereinandergeschlagen, nickte ernst und freundlich: »Du hast ganz recht, Meisje. In anderen Zeiten wäre er wohl ein frommer Schriftgelehrter geworden.« Und auch die ernste kleine Germaine, Anna Nikolajewnas etwas widerspenstige Tochter, bestätigte: »Elle a tout à fait raison.« – Herr Nathan-Morelli aber, der an einem anderen Tisch, ganz im Hintergrund des Raumes, mit Fräulein Sirowitsch speiste, schnitt eine gequälte Grimasse: »Der junge Herr dort drüben scheint mir zur Abwechslung über Deutschland und die Emigration zu plaudern. Ich wußte gleich, daß wir besser in ein anderes Restaurant gegangen wären. Deutschland – Deutschland – Deutschland … wenn ich nur das Wort nicht mehr hören müßte!!« Sein Gesicht hatte den starren, blasierten Ausdruck plötzlich verloren; der Mund verzerrte sich, und auf der Stirne ließen sich die Spuren ausgestandener Leiden erkennen. Er nahm sogar die Zigarette aus dem Mund, während er sich weit zu seiner Dame vorneigte und mit ganz leiser, gepreßter Stimme sagte: »Dieses Wort, dieser Begriff, dieses Schicksal, das ›Deutschland‹ heißt, hat mir mehr zu schaffen gemacht als irgend etwas anderes auf der Welt. Was glauben Sie, das ich durchmachen mußte, ehe ich bis zu der kühlen Verachtung gegenüber allem Deutschen gekommen bin?! Aber einmal muß man sich frei machen können! Man geht zugrunde, wenn es nicht gelingt! Ich habe mich frei gemacht! Oder glauben Sie mir nicht …?« fragte er mit einer jähen Gereiztheit. Die Sirowitsch betrachtete den erregten Nathan-Morelli und lächelte zärtlich, mütterlich und etwas spöttisch.

David, der endlich etwas wie ein Publikum hatte und sofort befangen wurde, stellte sich, als ob er gar nicht merkte, daß man auf ihn aufmerksam war, und richtete nun, zum ersten Mal, seitdem sie hier beisammensaßen, seine Worte wirklich an die Proskauer. »Es würde ebenso komplizierte wie fesselnde Statistiken geben«, sagte er, »wenn man versuchen wollte, auszurechnen, wie viele unter den jüdischen Emigranten auch Gesinnungsemigranten sind. Außerdem wäre festzustellen, ein wie großer Prozentsatz der jüdischen oder nichtjüdischen Gesinnungsemigranten aus rein politischen Gründen gegen die Nazidiktatur opponiert. Dieses dürfte vor allem bei den berufsmäßigen Politikern, Parteiführern, Funktionären, politischen Journalisten und bei den proletarischen Exilierten der Fall sein. Aber wie viele proletarische Exilierte gibt es? Auch dies sollte errechnet werden! Über alles müßte unsere Statistik Auskunft geben: welche Berufe in der Emigration am häufigsten vorkommen; welche Lebensalter; ob es unter den Christen mehr Katholiken oder mehr Protestanten gibt …

Unsere Statistik hat viele Rubriken; das Werk, welches ich plane, wird viele Kapitel haben. Die religiöse Opposition wird zu behandeln sein, und es ist darzustellen, wie der christliche Glaube, mit dem atavistischen Neuheidentum konfrontiert, in sich selber seine humanitären, sozialen, ja sozialistischen Elemente wiederentdeckt oder doch wiederentdecken könnte. Darzustellen ist, wie das liberale Pathos angesichts der Greuel, zu denen eben die Schwäche eines falsch verstandenen, heimlich reaktionären Liberalismus geführt hat, sich radikalisiert, kämpferisch aggressiv wird; wie die Stellung der wirklichen Demokraten zum Problem der Gewaltanwendung, ja zu einer – unter bestimmten Prämissen notwendigen – Intoleranz sich allmählich verändert. Darzustellen ist andererseits, wie die Anhänger einer linken, sozialistischen Diktatur – von der Katastrophe erschüttert, die nun eine Parteityrannis für unsere Heimat bedeutet – ihre Stellungnahme zu dem gesamten Themenkomplex ›Diktatur‹ zu revidieren beginnen; in harter Schule den Wert der Freiheit neu, und diesmal hoffentlich gründlich, begreifen lernen.«

David warf, in einer Art von trockener, intellektueller Begeisterung, das leuchtend bleiche Gesicht in den Nacken. ›Wie sieht er denn aus?‹ dachte Marion, die immer noch in ihrer ziemlich unbequemen Haltung saß, den Körper im Sitzen seitlich gewendet; die Arme um die Stuhllehne geschlungen. ›Wem gleicht er denn …? Sein Gesicht müßte gerahmt sein von einem dunklen und harten Bart. Ganz entschieden: ein nachtschwarzer Bart, steif wie Holz, wäre stilvoll um diese Miene. Er würde unserem David ganz das Aussehen des Jochanaan geben. Ich sehe sein Haupt auf der Silberschüssel der sündigen Prinzessin Salomé kredenzt …‹

»Wieviel Typen!« rief David mit merkwürdig fliegenden Gesten. »Wie diese moralischen, politischen, artistischen Konzeptionen dialektisch gegeneinander stehen; sich ergänzen, begegnen, überschneiden; sich widersprechen, gegenseitig aufzuheben scheinen – und doch alle zusammen in eine Synthese, zu der wir erst allmählich vordringen werden, einmünden; in das wahrhaft Neue, die Zukunftsform des Humanismus … Jeder trägt sein Teil dazu bei; jede Rubrik in unserer komplizierten Statistik hat ihre besondere, wesentliche Funktion.

Um nur irgendeinen Fall herauszugreifen: mein alter Professor Abel, bei dem ich in Bonn Kollegs über den Faust und die deutsche Romantik hörte; bourgeoiser Intellektueller, gutmütiger Liberaler, ausgesprochen historisch-konservativ orientiert; der unpolitische, antirevolutionäre Deutsche par excellence: wer hätte gedacht, daß er jemals mit der Macht in akuten Konflikt kommen würde? Mein alter Abel – die Harmlosigkeit in Person – wird ins Exil getrieben. Als Exilierter entwickelt er sich vielleicht zum Repräsentanten klassischer deutscher Traditionen – gegen jene Verfälschung und Verfratzung deutschen Wesens, die Nietzsche schon in Bismarcks Reich seherisch erkannte, anprangerte, bekämpfte …«

 

Mutter Schwalbe stand seufzend auf. Es wurde ihr zu gebildet.

Marion erkundigte sich – das Gesicht in die Hand geschmiegt, die auf der Stuhllehne ruhte: »Wo ist dieser Abel jetzt?«

Ihre Stimme, leuchtend zugleich und dunkel, hatte die Macht, sofort die gespannte Aufmerksamkeit aller im Raum wie durch einen Zaubertrick zu gewinnen. David, schreckhaft von Natur, warf, in jäher Drehung zuckend, den Oberkörper herum. Statt zu antworten, bedeckte er die Augen mit der Hand, als hätte zu starkes Licht ihn geblendet. Marion wiederholte: »Wohin ist denn dieser Abel verschlagen worden?«

3

Professor Benjamin Abel war dreiundvierzig Jahre alt und gehörte zu den angesehensten jüngeren Literaturhistorikern der deutschen Universität. Er war Privatdozent in Heidelberg gewesen und hatte im Jahre 1929 einen Ruf als ordentlicher Professor an die Universität Bonn erhalten, was für einen jüdischen Gelehrten und gerade für einen Germanisten nichtarischer Abkunft damals schon eine besondere Ehrung bedeutete; denn der Antisemitismus an den deutschen Hochschulen war penetrant, noch ehe er zur Staatsreligion erhoben wurde.

In Bonn hatte sich Professor Abel einer großen Beliebtheit bei den Studenten erfreut; sein Kolleg über die deutsche Romantik war stärker frequentiert worden als die Vorlesungen über »Friedrich Schiller und die nationale Idee«, die sein Kollege, der alte Geheimrat von Besenkolb, im gleichen Semester hielt. Geheimrat Besenkolb war früher Alldeutscher, dann Deutschnationaler gewesen; am Tage nach dem ersten bedeutenden Wahlsieg der Nazis erschien er vor seinem Auditorium mit einem kleinen, jedoch nicht zu übersehenden Hakenkreuz im Knopfloch seines Jackettaufschlages.

Besenkolb, ein aufrechter Greis mit bösen, stahlblauen Augen, weißem Knebelbart und stark hervortretenden bläulichen Adern auf den Handrücken und auf der mehrfach gebuckelten, hohen, kalkweißen Stirn – Geheimer Rat Maximilian Freiherr von Besenkolb – hatte eine vernichtende Art, mit knapp andeutendem Kopfnicken den etwas ironisch-devoten Gruß seines Kollegen Abel zu erwidern. Seit dem Herbst 1930 erschien der Geheimrat in keiner Gesellschaft mehr, wenn die Hausfrau ihm nicht vorher die Zusicherung gegeben hatte, daß Professor Abel nicht zugegen sein würde.

Als die Nazis zur Herrschaft kamen, war Professor Abel einer der ersten unter den Dozenten der Universität Bonn, die ihrer Stellung enthoben wurden. Man ersparte ihm die Überlegung, ob er seinerseits, sofort und freiwillig, um seinen Abschied ersuchen oder ob er abwarten sollte, bis man ihn vor die Türe setzte. Wer weiß, wie Herr Abel – eine eher weiche, sensitiv-zurückhaltende, keineswegs heroische Natur – sich angesichts solcher Alternative entschieden hätte. Er mußte gehen, man ließ ihm keine Wahl; Geheimrat von Besenkolb, eifersüchtig wegen des erfolgreichen Romantikerkollegs und von germanischer Unversöhnlichkeit durch und durch, hatte höchstpersönlich die Entlassung des fatalen Konkurrenten beim Kultusministerium sofort beantragt. Es entsprach der ritterlichen Art des deutschen Forschers – zu dessen berühmtesten Arbeiten eine umfängliche Analyse des Nibelungenliedes gehörte – dem gefallenen, für den Augenblick total erledigten Feinde auch noch einen Fußtritt zu versetzen. Dieser bestand in einem langen und ungeheuer beleidigenden Feuilleton, das über den weggeschickten Professor in einem der führenden rheinischen Naziblätter erschien und überschrieben war: »Schluß mit der Schändung deutschen Kulturgutes!« Der enorm gehässige Aufsatz war mit Initialen gezeichnet, und man nahm allgemein an, daß er von Geheimrat Besenkolb verfaßt, mindestens inspiriert worden war: er hatte alle Charakteristika seines zugleich markigen und tückischen Stils.

Benjamin Abel war sehr ratlos und betrübt. Er wußte gar nicht, wohin er sich nun wenden und was aus ihm werden sollte. Sowohl die Würde als der Selbsterhaltungstrieb verboten es ihm, noch länger in Deutschland zu leben, das lag auf der Hand. Andererseits war ihm eine Existenz im Ausland fast unvorstellbar. Abgesehen von den obligaten Italienreisen der Studentenzeit, von ein paar Touren in den Schweizer Bergen und etlichen Besuchen in Wien und Paris, die vor allem den Wiener Breughels und den Schätzen des Louvre gegolten hatten, war er niemals außerhalb der Reichsgrenzen gewesen. Für fremde Sprachen war er keineswegs besonders begabt. Er kannte sich selbst als gehemmt und belastet mit einer fatalen Neigung zu Minderwertigkeitskomplexen, die mit Erfolg zu bekämpfen ihm nicht immer gelang. Es fiel ihm schwer, sich an Menschen anzuschließen, die meisten langweilten ihn, und wenn er seinerseits zu einer Person sich hingezogen fühlte – sei es aus welchen Gründen und unter was für Umständen auch immer – plagte ihn der Argwohn, er könnte lästig fallen oder den Eindruck eines Aufdringlichen machen. Seine alte Mutter lebte in Worms – der Geburtsstadt Benjamins – wo er sie jedes Vierteljahr mindestens einmal zu besuchen pflegte; übrigens verbrachte er seine Sommerferien regelmäßig mit der alten Frau in einem kleinen deutschen Kurort. Von der Mutter würde er sich trennen müssen, wenn er Deutschland verließ; denn natürlich war nicht daran zu denken, daß die beinahe Siebzigjährige das Wormser Haus aufgab, in dem sie an die fünfzig Jahre verbracht hatte, und wo ihr Gatte, Benjamins Vater, gestorben war. Auch die Freundin würde Abel verlieren; nun bereute er, daß er sich, vor zehn Jahren, nicht dazu entschlossen hatte, sie zu heiraten. »Ich eigne mich ganz und gar nicht zum Ehemann«, hatte er damals gesagt, und Fräulein Annette Lehmann eröffnete resigniert eine kleine Antiquitätenhandlung in Köln, die übrigens recht gut florierte. Obwohl Benjamin, aus Ängstlichkeit und eigensinnigem Spleen, das liebe Fräulein Annette nicht zur Frau Professor gemacht hatte, waren die beiden während all der Jahre ein Paar und wurden von ihrem Bekanntenkreis durchaus wie Eheleute behandelt.

Wie viele gute Dinge des Lebens würde man in der Fremde vermissen: die gemütlichen Kammermusikabende zum Beispiel, die Benjamin in seinem Häuschen zu Marienburg, zwischen Bonn und Köln, gepflegt hatte. Professor Abel leistete Achtbares auf dem Cello, und er hatte einen guten Freund von der medizinischen Fakultät, der als wackerer Pianist gelten durfte. Zu diesen beiden fand sich dann wohl noch ein musikbeflissener Kollege oder Student, und so war denn in der Marienburger Miniaturvilla manch Beethoven- oder Brahms-Quartett, nicht eben meisterlich, aber doch mit innigem Verständnis und halbwegs hinreichender Technik exekutiert worden. Fräulein Annette hatte Tee und Brötchen gereicht, und in den Lehnstühlen hatten die Professorengattinnen mit Handarbeiten gesessen und sich Universitätsklatsch erzählt, wenn Schubert oder Bach verklungen war. Wie traulich war dies gewesen! Nun, da es so ganz vorüber sein sollte, in der Erinnerung, nahm es sich geradezu zauberhaft traulich aus. Übrigens gehörte der Klavierkünstler von der medizinischen Fakultät derselben Pariarasse an wie Abel. Am 30. Januar 1933 teilte er Benjamin mit, daß er nach England zu verziehen gedenke.

Nein, nach England wollte Benjamin doch wohl nicht; ihm schien, in einer so ungeheuer großen und fremden Stadt wie London würde er gar nicht atmen können. Nach langen Beratungen, die er mit sich selbst und mit Annette Lehmann anstellte, entschied er sich für die Niederlande. »Dorthin wolltest du doch ohnedies immer einmal«, erinnerte ihn das intelligente Fräulein. Der Professor nickte wehmütig: »Ja, um die Rembrandts zu sehen.« – »Nun, und jetzt wirst du Zeit haben, dir die Rembrandts und die Frans Hals und die Jan Steens einmal gründlich anzuschauen.« Annette versuchte eine Munterkeit zu zeigen, deren Künstlichkeit der gequälte Blick ihrer Augen nur zu deutlich verriet. Die Sache mit den Niederlanden leuchtete dem Professor halbwegs ein. Er hatte sich viel mit holländischer und flämischer Literatur beschäftigt und eine ausführliche Studie über den »Ulenspiegel« publiziert. »Von Holland aus wird man dann weiter sehen«, sprach die wackere Freundin ihm Mut zu. »Es ist sicher der geeignete Platz, um sich ans Ausland, an die Fremde zu gewöhnen. Die Niederlande sind nicht mehr deutsches Sprachgebiet und gehören doch noch zum kulturellen deutschen Raum. Man befindet sich dort im Bannkreis unserer großen Überlieferungen. Ich hatte einmal drei sehr schöne und anregende Wochen mit meiner armen Mama im Haag und in Amsterdam.«

Von Annettes schönen und anregenden Wochen mit ihrer armen Mama im Haag und in Amsterdam hatte Benjamin schon früher gehört. Aber wie geschickt sie zu reden verstand! Ganz entschieden: eine vorzügliche Frau – das bewies sich in so ernsten Situationen, wie Abels gegenwärtige eine war. Freilich, die Wendung vom »kulturellen deutschen Raum« hatte ein wenig verdächtig geklungen, etwas nach der üblen neuen Terminologie. Sollte die brave Annette schon ein klein bißchen angesteckt sein? Ach, wie würde sie sich entwickeln, wenn man sie den vehementen und unangenehmen Einflüssen überließ, die sich nun hierzulande der Menschen wie eine Seuche bemächtigten und sie boshaft verdarben …

»Sicher«, bestätigte Benjamin, etwas müde. »Du hast sicherlich recht.«

»Und vielleicht«, rief Fräulein Lehmann fast flehend, »vielleicht findest du gar eine Möglichkeit zur Beschäftigung in Holland selbst und kannst auf die Dauer dort bleiben – das wäre doch wundervoll. Ich würde dich dann manchmal besuchen …« Es lag ihr viel daran, ihn davon zu überzeugen, daß er in Holland glänzend aufgehoben sein würde und daß dort nur das Beste ihn erwarte; denn er mußte doch weg, mußte doch Deutschland schleunigst verlassen, es war ja seiner selbst unwürdig, wenn er blieb, und außerdem – diesen Gedanken wagte Fräulein Lehmann kaum sich selber zuzugeben – kompromittierte seine Anwesenheit auch sie, Annette. Sie wollte es ihm so gerne ersparen, daß sie sich von ihm zurückzog, sich nicht mehr öffentlich mit ihm zeigte. Aber andererseits: sie stand alleine in der Welt, sie konnte es nicht riskieren, aufzufallen, Skandal zu erregen – und skandalös war es doch nun einmal, wenn heute eine »Arierin« – Fräulein Lehmann war »Arierin« – mit einem »Nichtarier« Umgang hatte. Seitdem Geheimrat Besenkolbs gräßlicher Artikel erschienen war, wurde Benjamin Abel von allen, die in Bonn auf sich hielten, peinlich gemieden. Hatte Annette denn Lust, auch über sich selber noch einen Artikel solcher Art zu lesen? Die Nazizeitungen waren wachsam, wenn es »Rassenschande« betraf. Und wie schnell konnten die Fensterscheiben an einem kleinen Antiquitätenladen zerschmissen werden …

»Ich würde dich jedes Jahr ein paarmal besuchen können«, versicherte Annette Lehmann noch einmal. Sie gab sich Mühe, dem alten Freund den Abschied so erträglich wie möglich zu machen.

Also die Niederlande – Abel versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Die Niederlande gehören noch zum kulturellen deutschen Raum. Man will uns in Deutschland nicht mehr – grübelte Benjamin; aber wir klammern uns an den »deutschen Kulturraum …«

Der Entschluß ist gefaßt, er wird schnell in die Tat umgesetzt. Eilige Auflösung des Marienburger Haushaltes: es findet sich ein junges Ehepaar, welches die kleine Villa samt der Einrichtung sofort zu übernehmen bereit ist. Hastiger und ungünstiger Verkauf der Bibliothek; Abel entschließt sich, nur zwei Kisten – ein paar hundert ihm besonders lieber Bände – mit ins Exil zu nehmen. (Ja, es ist das Exil: dies wird ihm von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde klarer: er spürt es mit immer grausamerer Deutlichkeit, während er sich losmacht von allem, was nun so lange sein Leben gewesen ist.)

Annette kann ihm, bei soviel komplizierten und quälenden Erledigungen, kaum behilflich sein: Ein dummer Zufall, sie muß gerade jetzt nach Frankfurt reisen, »ein paar wichtige Auktionen, weißt du; so viele reiche Leute ziehen doch jetzt weg von Deutschland, und da kommen Dinge auf den Markt, die sonst gar nicht zu kriegen gewesen sind …« Ja, natürlich, viele reiche Leute ziehen weg von Deutschland, auch arme übrigens – warum ziehen sie eigentlich alle weg? Der Kunstmarkt jedenfalls profitiert davon; bald werden sich auch neue Käufer finden für all die schönen Sachen, an die man sonst nicht herangekommen ist, eine neue Käuferschicht ist im Begriff, sich zu bilden, Annette hat wohl alle Hände voll zu tun, es ist ja schade, daß sie gerade während der letzten Wochen, die Benjamin noch in Deutschland hat, auf Reisen sein muß …

 

Abschiedsbesuch bei der Mutter in Worms; Tränen, Umarmungen ohne Ende. »Du kommst bald mal zu mir nach Holland, Mama, die Badeorte da drüben sollen ja wundervoll sein, Scheveningen zum Beispiel, und übrigens, wie lange wird diese Naziherrlichkeit schon dauern, alle sagen, Hugenberg und seine Leute werden Hitler davonjagen …« – »Sicher, mein Liebling, sicher, aber ob ich das noch erleben werde, ich bin doch schon alt, und in Scheveningen war ich mal mit deinem Vater, ein prächtiger Ort, feine Hotels, aber ich vertrage den starken Wind an der Nordsee nicht, er macht mir Atembeschwerden, Kopfschmerzen auch, hast du denn alle deine warmen Sachen eingepackt, in Holland mußt du vorsichtig sein mit dem Essen, sie haben dort eine schwere Küche, der Aal ist delikat, aber unverdaulich, du weißt doch, dein empfindlicher Magen.«

Noch einmal Bonn; nun wohnt Professor Abel schon im Hotel, sein Marienburger Haus wird für das junge Ehepaar zurechtgemacht. Annette ist aus Frankfurt zurückgekommen; sie erscheint spätabends, merkwürdigerweise trägt sie einen ziemlich dichten Schleier vorm Gesicht, sie hat doch früher nie einen Schleier getragen, und nun gleich einen so fest gewebten, hinter dem man ihr Gesicht kaum erkennt. Sie berichtet: in Frankfurt hat sie einige seltene und kostbare Dinge erstanden, ein Stück gotischen Samt, wundervoll und beinahe geschenkt, ich kann tüchtig Geld dran verdienen, wenn ich den richtigen Käufer finde, deutsche Gotik wird vermutlich sehr im Preise steigen, das hängt mit allgemeinen Zeitströmungen zusammen. Leb wohl, meine Liebe! Zehn Jahre unseres Lebens sind wir beieinander gewesen, vergiß das doch bitte nie! Vergiß zum Beispiel bitte nie die so sehr gemütlichen Kammermusikabende in Marienburg! Adieu, Geliebte! Was wäre denn nun, wenn ich dich geheiratet hätte, damals, als wir beide jung gewesen sind? Sähe dann alles besser aus, oder noch komplizierter? Leb wohl! »Holland ist ja so nahe!« sagt Annette – wie vernünftig Annette ist. Ja, Holland ist nah, eine lächerlich geringe Entfernung. Und trotzdem, was für eine große, einschneidende und bedeutsame Trennung. Laß mich noch einmal dein Gesicht küssen, du bist immer noch schön, ich finde dich immer noch schön, wir sind doch ein Paar gewesen, Gott sei Dank, daß du nun endlich diesen störenden Schleier abgenommen hast …

Professor Abel kannte in Amsterdam keinen Menschen. Annette Lehmann hatte ihm einen Brief an einen großen Kunsthändler mitgegeben; aber Benjamin entschloß sich nicht dazu, von dem Empfehlungsschreiben Gebrauch zu machen. ›Die Leute werden wahrscheinlich mehr, als ihnen lieb ist, von deutschen Emigranten behelligt‹; dieses war des Professors entmutigende Überlegung. Der gleiche Gedanke bestimmte ihn dazu, bei einem Kollegen in Leiden, den er aus Heidelberg, und bei einem anderen im Haag, den er aus Bonn kannte, sich vorläufig nicht zu melden.

Benjamin Abel war ganz allein.

Er ging herum wie in einem schlimmen Traum, und was er dachte, war immer nur: ›Was soll ich hier? Warum bin ich eigentlich in dieser fremden Stadt? Leider bin ich doch gar kein Holländer – warum gehe ich also in den Straßen von Amsterdam spazieren? Freilich, freilich‹ – erinnerte er sich, wirr und betrübt – ›man hat mich aus Deutschland hinausgeschmissen, ich durfte dort nicht mehr bleiben, Geheimrat von Besenkolb hat mich als einen »geistigen Vaterlandsverräter«, als einen »Schädling an der deutschen Kultur« gebrandmarkt …‹

Er saß im Freien, vor einem Café am Leidsche Plein. Es war angenehm, draußen zu sitzen; nach einem Junitag, der hochsommerlich heiß gewesen war, brachte die abendliche Stunde willkommene Kühle. Von seinem Platz aus konnte Abel sehen, wie vor der »Stadsschouwburg« die schweren Automobile hielten und wie die Damen in Abendmänteln, die Herren mit den gestärkten weißen Hemdbrüsten sich am Portal drängten. Es gab eine festliche Opernaufführung, Mozart, Abel hatte Lust gehabt, hinzugehen. ›Es wäre hübsch gewesen, den »Figaro« einmal wieder zu hören, warum habe ich mir eigentlich kein Billet besorgt‹ – dachte er. Aber dann: ›Nein, ich muß sparen; Galaabende in der Oper zu frequentieren, das entspricht keineswegs meinen Verhältnissen.‹ – Es lag ihm daran, sich selber glauben zu machen, daß er nur aus Gründen der Ökonomie auf den Mozart verzichtet habe. In Wirklichkeit hinderten ihn andere Gefühle an einem Theaterbesuch wie an jeder geselligen Veranstaltung. Er wagte sich nicht unter Menschen. Die Idee, sich unter festlich geputzten Leuten bewegen zu müssen, war ihm unerträglich. ›Ich passe nicht in diese Gesellschaft, die reich, fröhlich und sorglos ist‹, empfand er gramvoll. ›Ich bin gezeichnet, ich trage das Mal. Man hat mich nicht haben wollen in meiner Heimat, hat mich zum Paria degradiert. Ich bin kein Vergnügungsreisender, sondern ein Flüchtling. Es wäre taktlos, eine grobe Taktlosigkeit wäre es, in meiner Situation an Festlichkeiten der Fremden teilzunehmen.‹

Vor der »Stadsschouwburg« war es still geworden: drinnen hatte wohl die Ouvertüre begonnen. Wie gerne wäre Abel dabei. »Figaro« war seine Lieblingsoper …

Der einsame Professor bestellte sich noch einen Bols – anfangs hatte er den klaren, scharfen holländischen Schnaps nicht ausstehen können; jetzt aber fand er schon, daß er eigentlich ganz gut schmeckte, besonders, wenn man ihn mit ein paar Tropfen von brauner Essenz würzte. Einen Augenblick lang überlegte Benjamin sich sogar, ob er dem Mädchen, das mit bunten Tulpen zwischen den Tischen umherging, ein paar Blumen abkaufen sollte, eine rote, eine gelbe und eine weiße Tulpe; er könnte sie vor sich hin in sein Wasserglas stellen, sie würden ein schönes Leuchten haben im milden Dämmerlicht der frühen Abendstunde. Aber dann fand er, daß dies doch wohl zu extravagant und übermütig wäre. Er beschloß, daß er, nach dem Genuß dieses zweiten Bols, bezahlen, aufstehen und den Leidsche Plein überqueren wollte. Gegenüber von dem Hotel, auf dessen Caféterrasse er saß, gab es ein Blumengeschäft, das stets bemerkenswert schöne Orchideen, zart getönte, lieblich und überraschend geformte Blüten, sowie die ausgewähltesten Rosen, Nelken und Tulpen in seinem Schaufenster zeigte. Abel vergnügte sich oft mehrere Minuten damit, vor dieser Etalage zu stehen und sich die bizarren, beinah unzüchtigen Bildungen der kostbaren Treibhauspflanzen zu betrachten. Er fand es merkwürdig und sehr auffallend, welchen Luxus diese ernste und gediegene Stadt Amsterdam mit Blumen sich leistete. Oft kam es vor, daß nachts in einem Lokal Orchideen angeboten wurden wie in den Lokalen anderer Städte Veilchen oder Maiglöckchen. Und die Blumengeschäfte mußten das Ungewöhnlichste bieten, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen.

Über den Leidsche Plein wimmelten die Radfahrer: junge Mädchen, Greise, pfeifende Burschen, alles durcheinander, alles eifrig die Pedale tretend. Abel wunderte sich jeden Tag aufs neue darüber, wieviel Fahrräder es in dieser Stadt gab; das öffentliche wie das private Leben schien sich hier zum großen Teile auf dem Zweirad abzuspielen. Benjamin argwöhnte oft, daß auch der Austausch von Zärtlichkeiten zwischen jungen Paaren auf diesen wendigen kleinen Fortbewegungsmaschinen erledigt wurde. Übrigens fürchtete Professor Abel sich sehr vor diesen »Fietsern«, wie sie hier hießen; durch ihre massenhafte Existenz wurde jede Überquerung einer Straße zum riskanten Abenteuer.