Klaus Mann - Das literarische Werk

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Mit solchen Erzählungen und Lamentationen endeten die Visiten in Juliettes düsterer Dachkammer. Ehe Hendrik die fünf Mark auf dem Nachttisch deponierte und ging, sagte er seiner Prinzessin, daß er sie viel, viel mehr liebe als Barbara. »Das ist ja gar nicht wahr«, antwortete Juliette mit ihrer ruhigen und tiefen Stimme. »Du lügst ja schon wieder.« Daraufhin zeigte Hendrik ein vieldeutiges, schmerzliches, höhnisches, versonnenes Lächeln. »Lüge ich?« fragte er leise. Und dann – plötzlich mit einer hellen Stimme und das Kinn hochgereckt: »Na, ich muß ins Theater …«

Die Proben zu der neuen Inszenierung des »Sommernachtstraum«, in der Hendrik den Elfenkönig Oberon spielte, und die Vorbereitungen zu einer großen Revue waren wichtiger und erregender als das zugleich komplizierte und müßige Problem, wen er mehr liebe: Barbara oder Juliette. »Unsereiner hat nicht das Recht, sich durch Privatangelegenheiten ablenken zu lassen von der Arbeit«, erklärte er seiner Freundin Hedda. »Schließlich ist man zuerst und vor allem Künstler«, schloß er, und sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, der sowohl stolz und siegesgewiß als auch leidend war.

Barbara, die ihren Tag mit Sport, Lektüre, Zeichnen, Korrespondenz oder in den Hörsälen der Universität verbrachte, erschien manchmal gegen Abend im Theater, um Hendrik von der Probe abzuholen. Zuweilen verbrachte sie auch eine Stunde in den Garderoben oder im H.K. – was übrigens von Hendrik nicht gerne gesehen wurde. Da er argwöhnte, daß seine Frau die Kollegen gegen ihn aufzuhetzen versuchte, wollte er keineswegs, daß der Kontakt zwischen ihr und dem Ensemble des Künstlertheaters ein gar zu enger werde. Vergeblich bemühte Barbara sich darum, für eine der vielen Neuinszenierungen, die im Laufe des Winters herauskamen, die Dekorationen entwerfen zu dürfen. Immer wieder versprach Hendrik ihr, er werde sich bei der Direktion dafür einsetzen, daß sie einen Auftrag erhalte; immer wieder kam er mit dem Bescheid zurück, die Direktoren Schmitz und Kroge wären dieser Idee gar nicht abgeneigt, aber alles scheitere am Widerstand der Frau von Herzfeld.

Diese Behauptung war nicht völlig aus der Luft gegriffen. In der Tat wurde Hedda mißgelaunt und ablehnend, wenn von Barbara die Rede war. Leidvolle Eifersucht machte die kluge Frau böse und ungerecht. Sie konnte es dieser Barbara nicht verzeihen, daß Hendrik sie geheiratet hatte. Sicher war Frau von Herzfeld niemals so verwegen gewesen, sich ihrerseits ernste Hoffnungen auf Höfgen zu machen. Sie wußte um den speziellen Geschmack des geliebten Mannes, in das düstere und peinliche Geheimnis seiner Beziehung zur Prinzessin Tebab war sie eingeweiht. Die Rolle, mit der sie sich zufriedengeben mußte – und jahrelang zufriedengegeben hatte – war die der schwesterlichen Freundin und Vertrauten. Gerade diese Rolle war es, die Barbara ihr nun streitig machte. Für Hedda bedeutete es einen Triumph, daß die Rivalin sie nicht zufriedenstellend auszufüllen schien, ihre höchst beneidenswerte Rolle. Hendrik sagte dies nicht ausdrücklich, aber der geschärfte Instinkt der Eifersüchtigen erriet es. Frau von Herzfeld wußte, woran es lag: Die Geheimratstochter war zu anspruchsvoll. Man mußte verzichten, sich selber ausschalten können, wollte man auskommen mit Hendrik Höfgen. Denn natürlich dachte ein Mann wie dieser vor allem an sich. Barbara aber verlangte und erwartete etwas von ihm. Sie beanspruchte Glück. Hierüber mußte Frau von Herzfeld höhnisch lachen. Begriff die arrogante Barbara nicht? Das einzige Glück, das Männer wie Hendrik Höfgen gewähren konnten, war das ihrer erregenden Gegenwart, ihrer bezaubernden Nähe …

Ähnliches empfand die kleine Siebert. Aber dieses anmutsvolle und zarte Geschöpf hatte, was Hendrik betraf, noch gründlicher resigniert als die alternde Herzfeld. Die kleine Siebert litt, aber sie haßte nicht. Der Gattin Höfgens, Barbara, begegnete sie mit einem scheuen Respekt. Wenn die Beneidete ein Taschentuch fallen ließ, bückte Angelika sich geschwind, um es aufzuheben. Dann bedankte Barbara sich nicht ohne Erstaunen, während die kleine Siebert rot wurde, hilflos lächelte und die kurzsichtigen Augen ängstlich zusammenkniff.

Wenn Barbaras Beziehung zu Frau von Herzfeld und Angelika, den beiden hoffnungslos Liebenden, kompliziert und belastet war, so gestaltete sich um so herzlicher ihr Verhältnis zu den anderen Damen des Ensembles. Mit der Motz pflegte sie ausführlich über Lebensmittelpreise, Schneiderinnen und die Fehler der Männer im allgemeinen und des Charakterspielers Petersen im besonderen zu plaudern. Barbara verstand es so vortrefflich, den Ergüssen der biederen und temperamentvollen Frau zu lauschen, daß die Motz zur Überzeugung kam – welcher sie gerne und laut Ausdruck verlieh – die junge Frau Höfgen sei »eine famose Person«. Dieser Ansicht schloß die Mohrenwitz sich an: Barbara, die sich nicht einmal schminkte, erhob keinen Anspruch darauf, dämonisch zu sein, und konnte also für sie, die verworfene Rahel, niemals eine Konkurrenz bedeuten.

Sowohl Petersen als auch Rolf Bonetti nannten Hendriks junge Gattin einen »feinen Kerl«; Vater Hansemann hatte ein brummiges Wohlwollen für sie, weil sie ihre Konsumationen pünktlich bezahlte; Bühnenportier Knurr begrüßte sie militärisch, da er wußte, daß sie die Tochter eines Geheimrats war; die Direktoren Schmitz und Kroge unterhielten sich gerne mit ihr. Schmitz begnügte sich zunächst mit onkelhaft-koketten Scherzen, bekam aber bald heraus, daß er bei ihr ein sachliches und kluges Interesse für die finanziellen Sorgen des Theaters finden konnte, und zog sie nun in lange Gespräche über dieses immer aktuelle, immer besorgniserregende Thema. Oskar H. Kroge seinerseits entdeckte ihr seinen Kummer über das fragwürdige Repertoire des Künstlertheaters. Der alte Vorkämpfer einer geistigen Bühne mußte es gramvoll mit ansehen, daß in seinem Hause Schwänke und Operetten das ernste Stück zu verdrängen begannen. An so bedauerlicher Entwicklung hatte die Schuld nicht nur Schmitz, welcher die Stücke nach der »Kasse« beurteilen mußte, die sie voraussichtlich machen würden; für diese Senkung des literarischen Niveaus verantwortlich war auch Höfgen – so paradox es erschien. Er sprach vom Revolutionären Theater – und inszenierte alberne Konversationsstücke. Das Revolutionäre Theater – welches nicht eröffnet wurde – mußte als Begründung herhalten für die Annahme der Reißer. Kroge, trotz seiner prinzipiellen Bedenken gegen den Kommunismus, war nun schon soweit, sich die Eröffnung des geplanten Studios, welches nicht nur revolutionären, sondern auch literarischen Geist in sein Theater bringen sollte, dringlich zu wünschen. Hendrik aber behauptete mit schöner Beredsamkeit, es sei absolut notwendig, daß er sich durch die leichteren und gefälligen Darbietungen beim Publikum und bei der Presse zum Liebling mache, ehe er sich mit dem Revolutionären Theater hervorwagen könne. Vielleicht glaubte Otto Ulrichs – ebenso geduldig wie enthusiastisch – diesen Argumenten seines guten Freundes. Skeptischer und nervöser war Barbara.

Sie unterhielt sich gerne mit Ulrichs; die Unbedingtheit und Einfachheit seiner Gesinnung imponierten ihr. Sie selbst blieb zu Zweifeln geneigt; übrigens pflegte sie zu erklären, daß sie von Politik nichts verstehe – was ihr von Hendrik höhnisch bestätigt wurde. »Du hast keine Ahnung von dem wirklichen Ernst dieser Dinge«, sagte er ihr und machte sein tyrannisches Gouvernantengesicht. »An alles gehst du spielerisch und mit kühler Neugier heran. Der revolutionäre Glaube ist für dich ein interessantes psychologisches Phänomen. Für uns aber ist er heiligster Lebensinhalt.« So sprach Hendrik. Otto Ulrichs, der die Hälfte seiner Zeit und seines Einkommens der politischen Arbeit opferte, schien viel weniger streng. Sein Ton Barbara gegenüber war etwas väterlich belehrend, aber voll Sympathie. »Sie werden den Weg zu uns finden, Barbara – das weiß ich«, sagte er, freundlich und zuversichtlich. »Sie wissen ja heute schon, daß bei uns die Wahrheit ist und die Zukunft. Sie haben nur noch ein bißchen Angst, es zuzugeben und alle Konsequenzen zu ziehen.«

»Vielleicht habe ich wirklich nur ein bißchen Angst«, lächelte Barbara.

Indessen konnte sie sich nicht genug wundern über die geduldige Gutmütigkeit, mit der Ulrichs in der Angelegenheit »Revolutionäres Theater« sich von Höfgen hinhalten ließ. Sie ihrerseits drängte – wozu sie übrigens auch noch ihren privaten, egoistischen kleinen Grund hatte: denn sie wollte die Dekorationen für die erste Inszenierung des revolutionären Zyklus entwerfen. »Meine Angelegenheit ist es ja nicht«, sagte sie beinah täglich zu Hendrik, »und nicht ich bin es, für die der Glaube an die Weltrevolution den Lebensinhalt bedeutet. Aber ich schäme mich für dich, Hendrik. Wenn du nicht bald Ernst machst in dieser Sache, wirst du lächerlich.« Daraufhin bekam Hendrik eine fahle, zugeriegelte Miene. Nun schielten seine Augen nicht vor Koketterie, sondern vor Ärger. Er antwortete mit ungeheurem Hochmut: »Das sind dilettantische Redensarten. Deine Ahnungslosigkeit in den Fragen revolutionärer Taktik ist komplett.«

Seine revolutionäre Taktik bestand darin, daß er täglich neue Ausflüchte ersann, um mit den Proben für das Revolutionäre Theater nicht beginnen zu müssen. Damit aber doch irgendeine Tat im Interesse der Weltrevolution geschähe, entschloß er sich plötzlich dazu, einen Vortrag über »Das Zeittheater und seine moralischen Pflichten« zu halten. Kroge, der für dieses Thema eine immer neue Begeisterung aufbrachte, stellte Höfgen für einen Sonntagvormittag das Künstlertheater zur Verfügung. Hendriks Vortrag war teils aus dem Vokabular seines enthusiastischen Direktors, teils aus dem Wortschatz Otto Ulrichs’ recht wirkungsvoll zusammengestellt: eine pathetische und unverbindliche Ansprache, in der sowohl die liberal gesinnten als auch die marxistisch-revolutionären jungen Leute im Parkett viele ihrer Lieblingsschlagworte wiederfanden. Am Schluß klatschten alle Beifall, und beinah alle waren überzeugt von Hendriks redlichem künstlerisch-politischen Willen – der ihm am nächsten Morgen von den Zeitungskritikern ausführlich bestätigt wurde.

 

Auf solche Bestätigung hatte Hendrik Höfgen gewartet. »Nun ist die Situation reif, wir können handeln«, konstatierte er und tauschte Verschwörerblicke mit Ulrichs. Die erste Probe für das Revolutionäre Theater wurde festgesetzt. Freilich war es nicht jenes radikale Stück, welches man im vorigen Jahr ausgesucht hatte, das nun einstudiert werden sollte. Vielmehr hatte sich Hendrik, im letzten Augenblick und aus taktischen Gründen, für eine Kriegstragödie entschlossen, deren drei düstere Akte das Elend des Winters 1917 in einer deutschen Großstadt schilderten und einen allgemein pazifistischen, aber keineswegs deutlich sozialistischen Charakter hatten. Barbara entwarf die Dekorationen: ein finsteres Hinterzimmer, eine graue Gasse, in der die Frauen um Brot anstanden. Otto Ulrichs und Hedda von Herzfeld sollten die Hauptrollen spielen.

Höfgen, der Regisseur, entwickelte großen Elan auf der ersten Probe. Als er mit verhaltenem, schlichtem Pathos die große Anklagerede deklamierte, die Frau von Herzfeld zum Schluß des dritten Aufzuges in ihrer Rolle als tragische Mutter zu halten hatte, mußte Otto Ulrichs sich verstohlen die Augen wischen, und selbst Barbara war beeindruckt. – Auf der zweiten Probe aber litt Hendrik an einer nervösen Heiserkeit; zur dritten erschien er hinkend – sein rechtes Knie sei plötzlich steif geworden, klagte er, er könne es gar nicht mehr biegen. Auf der vierten schließlich zeigte er ein so fahles und böses Gesicht, daß alle sich vor ihm fürchteten – nicht ganz grundlos, wie sich herausstellen sollte, denn er befand sich in entsetzlicher Laune, nannte Frau von Herzfeld eine »dumme Gans« und drohte der Souffleuse Efeu mit fristloser Entlassung. »Sie sabotieren unsere Arbeit«, schrie er sie an. »Meinen Sie vielleicht, ich wüßte nicht, warum. Vermutlich haben die Parteifreunde des Herrn Miklas Ihnen den Auftrag dazu gegeben! Aber wir werden euch das Handwerk legen – Ihnen, Ihrem Herrn Miklas, dem sauberen Herrn Knurr und der ganzen verfluchten Bande – das lassen Sie sich gesagt sein!« Es nutzte der Efeu nichts, bitterlich zu weinen und immer wieder ihre Unschuld zu beschwören.

Nach dieser Probe – die allen, welche an ihr teilgenommen hatten, in sehr häßlicher Erinnerung blieb – legte sich Höfgen zu Bett und bekam Gelbsucht. Vierzehn Tage lang betrat er nicht das Theater. Ulrichs, Bonetti und Hans Miklas durften sich in seine großen Rollen teilen. Nach seiner Genesung erschien er immer noch recht matt und mitgenommen, und seine Edelsteinaugen waren gelblich getrübt. Die Eröffnung des Revolutionären Theaters wurde auf unbestimmte Zeit verschoben: der Arzt hatte es Herrn Höfgen ausdrücklich verboten, sich noch irgendwelche Arbeiten, außer den unvermeidlichen und laufenden, zuzumuten.

Mindestens einen gab es im Ensemble des Künstlertheaters, für den diese Entwicklung der Dinge eine große Freude war: Hans Miklas strahlte und triumphierte. Er habe es ja gleich gewußt, daß die ganze Geschichte mit dem sogenannten Revolutionären Theater ein ausgemachter Schwindel sei – erklärte er laut im H.K., und die strafenden Blicke der Frau von Herzfeld konnten ihn nicht davon abhalten, es mehrfach zu wiederholen. Sein trotziges Gesicht schien erhellt von dem starken Vergnügen, welches ihm das Fiasko des Revolutionären Theaters bereitete; einen ganzen Tag lang war er wohlgelaunt, pfiff und summte, hatte keine schwarzen Löcher in den Wangen, hustete gar nicht und lud sogar die Efeu zu einem Schnaps ein: solches war noch niemals geschehen, die gute Frau sagte: »Junge, Junge, du bist ja heute ganz aus dem Häuschen!«

Natürlich konnte der schöne Zwischenfall die Laune des jungen Miklas nur vorübergehend, nicht auf die Dauer verbessern. Schon am nächsten Tage erschien sein Gesicht wieder böse verschlossen, die schwarzen Höhlen unterhalb der Wangenknochen waren wieder da, und sein Husten klang besorgniserregend. ›Wie er uns alle haßt!‹ dachte Barbara, die ihn beobachtete. Sie war nicht unempfänglich für den finsteren Charme des ungezogenen Buben. Sein Gesicht, mit dem dichten, widerspenstigen Haar über der hellen Stirn, den dunklen Rändern um die trotzigen Augen und den abweisend vorgeschobenen, ungesund leuchtenden Lippen, wirkte auf sie weit anziehender als etwa die vor Eitelkeit ermüdete Miene des schönen Bonetti. An der schmalen und elastischen Figur des jungen Miklas – an diesem trainierten, biegsamen und ehrgeizigen Körper – gab es irgend etwas, was Barbara rührte. Deshalb versuchte sie zuweilen, den jungen Menschen ins Gespräch zu ziehen. Zunächst begegnete er ihr – der Gattin des verhaßten Vorgesetzten – mit verbissenem Mißtrauen. Allmählich gelang es Barbara, ihn freundlicher und vertrauensvoller zu stimmen. Manchmal lud sie ihn zu einem Bier und einem belegten Brot im H.K. ein – Aufmerksamkeiten, die Hans Miklas sehr zu schätzen wußte. Besonders wenn Barbara sich über Hendrik geärgert hatte, machte es ihr Vergnügen, sich mit dem bösen Jungen zu unterhalten. »Wollen wir uns nicht mal wieder einen aufsässigen Abend leisten?« schlug sie ihm dann vor, und er akzeptierte gerne. Für aufsässige Abende war er immer zu haben, und erst recht, wenn ihm auch noch Bier und Fleisch dazu bezahlt wurden.

Mit einem Interesse, in das sich ein wenig Grauen mischte, lauschte Barbara, wenn Hans Miklas von dem, was er liebte, und von dem, was er haßte, sprach. Niemals noch hatte sie mit einem Menschen am gleichen Tisch gesessen, der sich zu Gesinnungen und Ansichten bekannte, die dieser Knabe mit so viel Fanatismus vertrat. Ihr wurde klar, daß er alles mißachtete oder verabscheute, was ihr selber, ihrem Vater oder ihren Freunden teuer und unentbehrlich war. Was meinte er denn, wenn er den »verdammten Liberalismus« heftig anklagte oder »gewisse jüdische und verjudete Kreise« verhöhnte, die – seiner Überzeugung nach – die deutsche Kultur auf den Hund brachten? ›Ja, er meint alles, was ich je geliebt und woran ich geglaubt habe‹, verstand Barbara. ›Er meint den Geist und die Freiheit, wenn er »Judenpack« sagt.‹ Und sie erschrak im tiefsten. Trotzdem reizte es ihre Neugierde, ein Gespräch fortzusetzen, das, für ihren Begriff, durchaus phantastischen Charakter hatte. Es kam ihr vor, als wäre sie plötzlich aus der zivilisierten Sphäre, in der sie zu leben gewohnt war, in eine ganz andere, wildfremde und barbarische versetzt worden …

Wofür begeisterte sich ein so rätselhaftes Geschöpf wie Hans Miklas? Was für Ideen und für Ideale waren es, an denen sein aggressiver Enthusiasmus sich entzündete?

Er schwärmte von einer »judenreinen deutschen Kultur«, und Barbara mußte verwundert den Kopf schütteln. Als ihr sonderbarer Gesprächspartner ihr auseinandersetzte, daß der »Versailler Schandvertrag zerrissen« und die deutsche Nation wieder »wehrhaft« werden müsse, leuchteten seine Augen, und auch von seiner Stirn schien Glanz zu kommen.

»Unser Führer wird dem Volk die Ehre wiedergeben!« rief er aus. Nun klang seine Stimme heiser; er schüttelte siegesgewiß das Haar. »Wir ertragen nicht länger die Schande dieser Republik, die vom Ausland verachtet wird. Wir wollen unsere Ehre zurückhaben – jeder anständige Deutsche verlangt das, und anständige Deutsche gibt es überall, selbst hier, an diesem bolschewistischen Theater. Sie sollten einmal hören, wie Herr Knurr spricht, wenn er nicht fürchten muß, belauscht zu werden! Er hat drei Söhne im Krieg verloren, aber er sagt, das wäre ja nicht so schlimm, viel schlimmer ist, daß Deutschland seine Ehre verloren hat – und eben die kann uns der Führer – nur der Führer – wieder verschaffen!«

Barbara aber dachte: ›Warum erregt er sich so wegen der deutschen Ehre? Was stellt er sich eigentlich vor unter diesem ungenauen Begriff? Ist es für ihn wirklich so enorm wichtig, daß Deutschland wieder Tanks und Unterseeboote bekommt? Er sollte doch erst einmal sehen, seinen schlimmen Husten loszuwerden, in einer netten Rolle Erfolg zu haben und etwas mehr Geld zu verdienen, damit er sich jeden Tag satt essen kann. Sicher ißt er zu wenig und trainiert zuviel – er sieht ja fürchterlich überanstrengt aus.‹

Sie fragte ihn, ob er noch ein Schinkenbrot wolle; er nickte flüchtig, aber dann schwärmte er weiter: »Es kommt der Tag! Unsere Bewegung muß siegen!«

Ähnliche Worte einer begeisterten Zuversicht hatte Barbara erst kürzlich von einem anderen gehört: von Otto Ulrichs. Diesem zu widersprechen, hatte sie nicht gewagt – ihr Verstand wie ihr Gefühl waren ja beinah ganz überzeugt von seinem vernunftvoll-glühenden Glauben; zu Hans Miklas hingegen sagte sie: »Wenn Deutschland wirklich einmal so werden sollte, wie Sie und Ihre Freunde es sich wünschen – dann will ich lieber nichts mehr mit ihm zu tun haben. Dann reise ich ab«, erklärte Barbara und lächelte Miklas nachdenklich, aber nicht unfreundlich zu. Der jedoch strahlte: »Das glaube ich wohl! Es werden verschiedene Herrschaften abreisen – das heißt: wenn wir sie noch abreisen lassen und sie nicht vorher einstecken! Dann sind wir dran! Dann werden endlich wieder die Deutschen in Deutschland etwas zu sagen haben!«

Wie ein begeisterter Sechzehnjähriger sah er jetzt aus, mit dem verwirrten Haar und den leuchtenden Augen – Barbara konnte nicht leugnen, daß er ihr gefiel, wenngleich jedes Wort, das er sagte, ihr fremd und abstoßend war. Mit einer Beredsamkeit, die sich häufig verwirrte, aber stets eindringlich blieb, erklärte er ihr, daß der Glaube, für den er kämpfte, ein im tiefsten revolutionärer Glaube sei. »Wenn der Tag erst da ist, und unser Führer die ganze Macht übernimmt – dann ist Schluß mit Kapitalismus und Bonzenwirtschaft, die Zinsknechtschaft wird gebrochen, die Großbanken und die Börsen, die unsere Volkswirtschaft aussaugen, können zumachen, und niemand wird ihnen nachweinen!«

Barbara wollte wissen, warum Miklas nicht mit den Kommunisten gehe, wenn er doch, wie sie, gegen den Kapitalismus sei. Miklas erklärte – eifrig wie ein Kind, das eine auswendig gelernte Lektion hersagt: »Weil die Kommunisten kein Vaterlandsgefühl haben, sondern internationalistisch und von den russischen Juden abhängig sind. Auch von Idealismus wissen sie nichts, alle Marxisten glauben, es kommt nur aufs Geld an im Leben. Wir wollen unsere eigene Revolution – unsere deutsche, unsere idealistische; nicht eine, die dirigiert wird von den Freimaurern und durch die Weisen von Zion!«

Hier machte Barbara den erhitzten Knaben darauf aufmerksam, daß sein »Führer«, der den Kapitalismus abschaffen wollte, sehr viel Geld von der Schwerindustrie und den Großgrundbesitzern bekomme – woraufhin Miklas zornig wurde und solche Verdächtigungen als »typisch jüdische Hetze« scharf zurückwies. Auf diese Art diskutierten die beiden bis tief in die Nacht hinein: Barbara – ironisch, sanft und neugierig – horchte den Trotzigen aus und suchte ihn zu belehren. Er aber blieb, mit eigensinniger Kinderstirn, bei seinem blutrünstigen Glauben an die Heilslehre von der Rasse, der Brechung der Zinsknechtschaft und der idealistischen Revolution. – Souffleuse Efeu, die aus einer Ecke das ins Gespräch vertiefte Paar eifersüchtig beobachtete, flüsterte dem Portier Knurr zu: »Frau Höfgen ist auf meinen Jungen scharf – das hat mir gerade noch gefehlt. Frau Höfgen will mir meinen Buben wegnehmen …«

Noch in derselben Nacht bekam Hans Miklas Krach mit seiner Efeu; Barbara indessen hatte mit Hendrik eine schlimme Szene. Höfgen tobte: nicht aus »kleinbürgerlicher Gatteneifersucht« – wie er betonte – vielmehr aus politischen Gründen. »Man sitzt nicht mit einem Lumpen von Nationalsozialisten den ganzen Abend an einem Tisch!« rief er, bebend vor Zorn. Barbara versetzte, daß, ihrer Ansicht nach, der junge Miklas kein Lump sei – woraufhin Hendrik schneidend versetzte: »Alle Nazis sind Lumpen. Man beschmutzt sich, wenn man sich abgibt mit einem von ihnen. Ich bedaure, daß dir hierfür das Verständnis fehlt. Die liberalistischen Traditionen deines Hauses haben dich verdorben. Du hast keine Gesinnung, sondern nur eine verspielte Neugierde.« Er stand sehr aufrecht mitten im Zimmer; seine streng dozierenden Worte begleitete er mit ruckhaften, eckigen Bewegungen der Arme.

Barbara sagte leise: »Ich gebe es zu – der Junge tut mir ein bißchen leid, und er interessiert mich ein bißchen. Er ist krank und ehrgeizig, und er hat nicht genug zu essen. Ihr behandelt ihn schlecht – du, deine Freundin Herzfeld und die anderen. Er sucht etwas, woran er sich klammern und aufrichten kann. So ist er zu diesem Wahnsinn gekommen, den er jetzt so stolz seine Gesinnung nennt …«

Hendrik mußte höhnisch durch die Nase lachen. »Wieviel Verständnis du aufbringst für diesen Lausekerl! Wir behandeln ihn schlecht! Das ist köstlich! Wenn ich dergleichen nur höre! – Hast du denn keine Vorstellung davon, wie er und seine Freunde uns behandeln würden, wenn das Pack an die Macht käme?!« Hendrik – den Oberkörper vorgeneigt, die Arme in die Hüften gestemmt – fragte es mit wütender Eindringlichkeit.

 

Barbara sagte langsam, ohne ihn dabei anzusehen: »Gott verhüte es, daß diese Irrsinnigen jemals die Macht bekommen. Ich möchte dann nicht mehr leben in diesem Lande.« Sie schüttelte sich ein wenig, als spürte sie jetzt schon die ekelhafte Berührung der Brutalität und der Lüge, die in Deutschland herrschen würden, wenn die Nazis herrschten. »Die Unterwelt«, sagte sie schaudernd. »Es ist die Unterwelt, die da nach der Macht verlangt …«

»Du aber setzt dich an einen Tisch mit ihr und plauderst!« Hendrik machte große Schritte durchs Zimmer und sah triumphierend aus. »Das ist die edle bürgerliche Toleranz! Nur immer ein feines Verständnis haben für den Todfeind – oder für das, was man heute noch den Todfeind nennt! Ich hoffe für dich, meine Liebe, daß du dich mit ihr, der Unterwelt, erst recht vertragen würdest, wenn sie einmal an die Macht käme: du wärest dazu imstande, noch dem faschistischen Terror interessante Seiten abzugewinnen. Euer Liberalismus würde es lernen, sich abzufinden mit der nationalistischen Diktatur. Nur wir, die kämpferischen Revolutionäre, sind ihre Todfeinde – und nur wir werden verhindern, daß sie heraufkommt!« Er stolzierte wie ein Gockelhahn durchs Zimmer, ekstatisch schielend und das Kinn gereckt. Barbara aber stand unbeweglich. Hätte Hendrik sie angesehen in diesem Augenblick, er wäre erschrocken vor dem großen Ernst ihres Gesichtes.

»Du glaubst also, ich würde mich abfinden«, sagte sie beinahe tonlos. »Du meinst, ich würde mich versöhnen – mit dem Todfeind versöhnen.«

Wenige Tage später kam es zwischen Hendrik und Miklas zu einem Zusammenstoß, der damit endigte, daß Höfgen die fristlose Entlassung des jungen Schauspielers bei der Direktion des Hamburger Künstlertheaters durchsetzte. Der Anlaß zu der Katastrophe – die für Höfgen ein Triumph, für Hans Miklas aber verhängnisvoll und vernichtend wurde – schien zunächst harmlos.

Hendrik war an diesem Abend in brillanter Stimmung, der Schalk saß ihm im Nacken, er schäumte über von echt rheinischer Munterkeit und überraschte die ehrfurchtsvoll belustigten Kollegen mit immer neuen Schnurren und Scherzen. Gerade hatte er ein ebenso vergnügliches wie ergiebiges Spiel ersonnen. Da er in den Zeitungen nur die Theaternachrichten gründlich las und sich eigentlich nur für Dinge, die das Theater betrafen, lebhaft interessierte, wußte er in den Ensembles aller deutschen Schauspiel-, Opern- oder Operettenbühnen Bescheid; sein geübtes Gedächtnis behielt den Namen der zweiten Altistin in Königsberg wie der »übertragenen Salondame« in Halle an der Saale. Es gab viel Spaß und Gelächter, da Hendrik sich von den Kollegen in seiner sonderbaren Wissenschaft prüfen ließ. Er antwortete prompt, wenn man ihn fragte: »Wer ist der jugendliche Bonvivant in Halberstadt?« Und er blieb die Auskunft nicht schuldig, wenn man wissen wollte: »Wo ist Frau Türkheim-Gävernitz zur Zeit engagiert?«

»Als Komische Alte in Heidelberg«, warf Höfgen hin, als wäre dies etwas Selbstverständliches.

Zu der Unannehmlichkeit mit Miklas kam es, als jemand fragte: »Bitte, wer ist die erste Sentimentale am Stadttheater in Jena?« Hendrik erwiderte: »Eine blöde Kuh. Sie heißt Lotte Lindenthal.« Daraufhin mischte sich Miklas ein, der abseits geblieben und nicht mitgelacht hatte: »Warum ist gerade Lotte Lindenthal eine blöde Kuh?« Höfgen versetzte eisig: »Ich weiß nicht, warum sie eine ist; aber sie ist eine.« Und Miklas, mit einer rauhen und leisen Stimme: »Ich aber kann Ihnen sagen, Herr Höfgen, warum Sie gerade diese Dame beleidigen wollen: weil Sie ganz genau wissen, daß sie die Freundin eines unserer nationalsozialistischen Führer ist, nämlich unseres heroischen Kampffliegers …«

Hier unterbrach ihn Höfgen, der mit den Fingern hart auf die Tischplatte trommelte und dessen Gesicht vor Hochmut versteinert schien. »Es interessiert mich nur mäßig, Namen und Titel von Fräulein Lindenthals Buhlen zu erfahren«, sagte er, ohne Miklas eines Blickes zu würdigen. »Übrigens würde es eine lange Liste werden. Fräulein Lindenthal amüsiert sich nicht nur mit dem Fliegeroffizier.«

Miklas, die Fäuste geballt und den Kopf geduckt, stand in der kampfbereiten Haltung eines Gassenjungen, der sich gleich, zur großen Rauferei, auf den Gegner stürzen wird. Unter einer wütend gesenkten Stirne schienen die hellen Augen erblindet zu sein vor Zorn. »Hüten Sie sich«, keuchte er, und alle im Lokal erschraken über seine frevlerische Kühnheit. »Ich dulde es nicht, daß eine Dame öffentlich beleidigt wird, nur weil sie der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei angehört und die Freundin eines deutschen Helden ist. Ich dulde es nicht!« knirschte er mit den Zähnen, und er tat ein paar drohende Schritte.

»Sie dulden es nicht!« wiederholte Hendrik und lächelte diabolisch. »Ei, ei«, fügte er noch höhnisch hinzu – woraufhin Miklas sich nun wirklich auf ihn stürzen wollte: er wurde aber zurückgehalten von Otto Ulrichs, der ihn kräftig an den Schultern packte. »Du bist wohl besoffen!« schrie Ulrichs und schüttelte Miklas, der hervorbrachte: »Ich bin nicht besoffen, im Gegenteil! Aber vielleicht bin ich der einzige hier im Raum, der noch einen Rest von Ehrgefühl im Leibe hat! Niemand in diesem verjudeten Milieu scheint etwas dabei zu finden, wenn man eine Dame beschimpft …«

»Genug!« Dieser metallisch klirrende Ruf kam von Höfgen, der hoch aufgerichtet stand. Alle sahen ihn an. Er sprach mit einer fürchterlichen Langsamkeit: »Das glaube ich wohl, mein Lieber, daß Sie jetzt nicht besoffen sind. Sie werden sich nicht auf mildernde Umstände berufen können. Unter dem verjudeten Milieu, in dem Sie sich jetzt noch befinden, werden Sie nicht lange mehr zu leiden haben – verlassen Sie sich auf mich!« Und Höfgen verließ mit steifen, kleinen Schritten das Lokal.

»Es läuft einem eiskalt über den Rücken«, flüsterte die Motz in eine ehrfurchtsvolle Stille. Aus welcher Ecke aber hörte man nun dieses leise Weinen? Die Souffleuse Efeu hatte ihren schweren Oberkörper auf den Tisch sinken lassen, und zwischen ihren dicken Fingern rannen die Tränen.

Kroge, welcher der skandalösen Szene im H.K. nicht beigewohnt hatte, war nicht ohne weiteres geneigt, Höfgens Wunsch nach fristloser Entlassung des jungen Schauspielers zu entsprechen. Frau von Herzfeld und Hendrik vereinigten ihre Beredsamkeit, um seine juristischen, politischen und menschlichen Bedenken zu zerstreuen. Der Direktor schüttelte das besorgte Katergesicht, machte Stirnfalten, ging nervös auf und ab und brummte: »Ihr mögt recht haben – ich gebe es ja zu – unleidliches Betragen dieses Burschen … Aber immerhin: es widerstrebt mir, einen mittellosen und kranken Menschen Knall und Fall auf die Straße zu setzen …« Hendrik und Hedda ereiferten sich, diese unentschiedene, Kompromissen zugeneigte Haltung habe verdammte Ähnlichkeit mit der lahmen und feigen Art, die von den Regierungsparteien der Weimarer Republik dem unverschämten Nazi-Terror gegenüber an den Tag gelegt werde. »Wir müssen dem Mörderpack zeigen, daß sie sich nicht alles herausnehmen dürfen.« Hendrik schlug mit der Faust auf den Tisch.