Klaus Mann - Das literarische Werk

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Marders unruhiger, aber durchdringender Blick musterte alle Gegenstände in der Garderobe, zuletzt Hendrik selbst, der erschöpft vorm Spiegel saß. Nicoletta war, respektvoll schweigend, an der Tür stehengeblieben. Nach langer Pause sagte Marder mit einer penetranten Kommandostimme: »Sie sind ja ’ne dolle Type!« Seine grausam fixierenden Augen wichen nicht von Hendriks schön geschminktem Gesicht.

»Sind Sie zufrieden, Herr Marder?« Höfgen suchte den Satiriker durch Juwelenblicke und angegriffenes Lächeln zu bezaubern. Theophil aber sagte: »Naja …« und fügte unverschämt hinzu: »Naja, Herr – wie war doch der Name?« Nun war Hendrik doch etwas beleidigt; trotzdem nannte er seinen Namen mit der singend-werbenden Stimme. Daraufhin machte Marder: »Hendrik – Hendrik – ulkiger Name, muß ich schon sagen, sehr ulkig!« so höhnisch, daß es Höfgen eisig über den Rücken lief. Plötzlich aber rief der Dichter mit einer beängstigenden Fröhlichkeit: »Hendrik! Wieso Hendrik? Natürlich heißen Sie eigentlich Heinz! – Heißt eigentlich Heinz, nennt sich Hendrik! Hahaha, das ist aber mal gut!« Er lachte gellend, herzlich und ausführlich. Höfgen, aus Entsetzen über so viel böse Hellsicht, war bleich geworden unter seiner rosigen Maske und zitterte. Nicoletta, ohne einzugreifen, schaute mit blanken Katzenaugen amüsiert vom einen zum andern. Theophil war schon wieder ernst. Er schien nachzudenken; dabei bewegte er ununterbrochen den bläulichen Mund unter dem schwarzen Schnurrbart. Das erregte Spiel seiner Lippen erinnerte auf eine unheimliche Art an das gierige Saugen fleischfressender Pflanzen oder schnappender Fischmäuler. Abschließend sagte Marder: »Sind aber ’ne dolle Type. Starkes Talent – rieche das, habe verdammt feine Nase. Sprechen uns noch. Essen nachher zusammen. Komm, Kind!« Er nahm Nicoletta am Arm und verließ die Garderobe. Höfgen blieb im Zustand völliger Konsterniertheit zurück.

Er gewann seine Fassung erst wieder, als er auf der Bühne und im Rampenlicht stand – dort freilich völlig. Im dritten Akt übertraf er alles, was er an bravourösem Elan bis dahin jemals öffentlich gezeigt hatte. Das Auditorium raste, nachdem der Vorhang gefallen war. Nicoletta, die Arme voll Blumen, fiel Höfgen um den Hals und sagte: »Theophil hat wieder mal das rechte Wort gefunden! Du bist wirklich eine tolle Type!« Kroge trat hinzu, um Anerkennendes zu murmeln. Er versicherte Fräulein von Niebuhr, daß es ihm ein Vergnügen sein werde, weiter mit ihr zu arbeiten; sie möchte sich morgen vormittag ins Büro bemühen, damit man die Bedingungen bespreche. Nicoletta machte sofort ihr hinterhältig korrektes Gesicht, verneigte sich feierlich und gab in scharfen Worten ihrer Befriedigung über diesen Entschluß des Direktors Ausdruck.

Theophil Marder hatte die beiden jungen Damen und den Schauspieler Höfgen in ein sehr teures, mehr bürgerlich-solides als mondänes Lokal eingeladen. Hendrik war hier noch niemals gewesen, was Marder Anlaß gab, schneidend festzustellen, dies sei die einzige »Bude« in Hamburg, wo Genießbares auf den Tisch komme – solide Kost, guter alter Stil, wenn man dem Dramatiker glauben durfte; überall sonst gebe es ranziges Fett und stinkenden Braten, hier aber verkehrten feine alte Herren, die noch zu leben wüßten; auch sei der Weinkeller gepflegt.

Wirklich saßen in der braungetäfelten Stube, an deren Wänden Jagdbilder und schöne Teppiche hingen, nur bejahrte Väter, die nach Millionenvermögen aussahen. Noch würdevoller freilich als sie alle wirkte der Oberkellner: in dem Respekt, mit dem er Theophils Bestellungen entgegennahm, ließ sich ein klein wenig Ironie vermuten. Marder schlug vor, man möge mit Langusten beginnen. »Was meinen Sie, bester Heinrich?« erkundigte er sich bei Höfgen mit jener hinterhältigen Korrektheit, die Nicoletta bei ihm gelernt haben mochte. Hendrik hatte nichts einzuwenden. Übrigens fühlte er sich etwas unsicher und befangen in dem herrschaftlichen Lokal. Ihm wollte es scheinen, als habe der Oberkellner mit Geringschätzung seinen Smoking gemustert, der fleckig war und an einigen Stellen speckig glänzte. Unter dem taxierenden Blick des feinen Kellners ward Hendrik sich, flüchtig, aber mit Heftigkeit, seiner umstürzlerischen Gesinnung bewußt. ›Ich gehöre nicht in dieses Lokal für kapitalistische Ausbeuter‹, dachte er zornig, während er sich Weißwein eingießen ließ. Nun bereute er es, die Eröffnung des Revolutionären Theaters immer wieder hinausgeschoben zu haben. Von Marder aber war er enttäuscht. Dieser unbarmherzige, hellsichtige und gefährliche Kritiker der bourgeoisen Gesellschaft zeigte sich, da man ihm nun von Mensch zu Mensch gegenübersaß, als ein Herr mit bedenklich reaktionären Neigungen. Er hatte eine schnarrende Kommandostimme, einen tückischen Blick, trug einen viel zu tadellos gearbeiteten dunklen Anzug mit sorgfältig gewählter Krawatte, und von den Langusten, die nun serviert wurden, suchte er mit einer fatalen Kennerschaft die schönsten aus. Hatte er nicht mit jenen Figuren, die er in seinen Stücken verhöhnte, viele Eigenschaften gemein? Nun lobte er die gute alte Zeit, in der er jung gewesen und mit der die neue, oberflächliche, verkommene in keinem Punkte sich messen könne. Dabei hielt er fortwährend die kalten, unruhigen und gierigen Augen auf Nicoletta gerichtet, die ihrerseits nicht nur den Mund schlängelte, sondern auch den Körper in einem metallisch glitzernden Abendkleid. Barbara saß still dabei. Hendrik, degoutiert durch Nicolettas provokant betonten Flirt mit Marder, vielleicht auch nur eifersüchtig, wandte seine Aufmerksamkeit endlich Barbara zu. Da bemerkte er: ihr Blick war forschend auf ihn gerichtet gewesen. Hendrik Höfgen erschrak.

Mitten in seinem Herzen erschrak er darüber, daß er Barbara Bruckner begnadet fand mit einem Reiz, den er noch an keiner anderen Frau je wahrgenommen hatte. Ihm waren schon vielerlei Frauen begegnet, aber noch keine wie diese. Während er diese anschaute, erinnerte er sich, in geschwinder, aber genauer Zusammenfassung – so, als gälte es, einen Schlußstrich zu ziehen unter eine lange und beschmutzte Vergangenheit – aller jener weiblichen Geschöpfe, mit denen er je zu tun gehabt hatte. Er ließ sie Revue passieren, um sie alle zu verwerfen: die handfest munteren Rheinländerinnen, die ihn, ohne viel Umstände und ohne viel Raffinement, eingeführt hatten in die derbe Wirklichkeit der Liebe; reifere, aber noch stramme Damen, Freundinnen seiner Mutter Bella; junge, aber keineswegs sehr zarte Dinger, Freundinnen seiner Schwester Josy; die erfahrenen Berliner Straßenmädchen und die kaum weniger tüchtigen der deutschen Provinz, die ihm jene besonderen Dienste zu leisten pflegten, nach denen er verlangte, und ihn solcherart den Geschmack verlieren ließen an weniger scharfen, weniger speziellen Lustbarkeiten; die kunstvoll hergerichteten, routinierten und stets gefälligen Kolleginnen, denen er jedoch seine Huld nur in den seltensten Fällen gewährte, die sich vielmehr mit seiner launenhaften, manchmal zur Grausamkeit, manchmal zur verführerischen Koketterie aufgelegten Kameradschaft zufriedengeben mußten; die Schar der Verehrerinnen – schüchtern-mädchenhafte oder pathetisch-düstere oder ironisch-kluge. Sie präsentierten sich alle noch einmal, zeigten alle noch einmal ihre Mienen und ihre Gestalten, um dann zurückzutreten, sich aufzulösen, zu versinken, angesichts von Barbaras soeben erst entdeckter, außerordentlicher Beschaffenheit. Selbst Nicoletta, interessante Tochter des Abenteurers und faszinierend präzise Sprecherin, fiel ab, wurde beinah komisch mit all ihrer Korrektheit und Verworfenheit. Hendrik opferte sie, er gab sein Interesse für sie auf – aber was opferte er nicht sonst noch alles in diesem mit Schicksal geladenen, entscheidungsvollen, süßen Augenblick? Verübte er, während er auf Barbara schaute, nicht den ersten großen Verrat an Juliette, der finsteren Geliebten, die er das Zentrum seines Lebens genannt hatte und die große Kraft, an der seine Kräfte sich erneuerten und erholten? Mit Nicoletta, an deren Beinen man sich grüne Schaftstiefel vorstellen konnte, hätte er Juliette niemals ernsthaft betrogen; sie wäre, im allergünstigsten Fall, ein Ersatz für die Schwarze Venus gewesen, gewiß nicht ihre Gegenspielerin. Die Gegenspielerin aber saß hier. Sie hatte Hendrik forschend betrachtet, während er sich noch mit Marder und Nicoletta beschäftigte. Da er sie nun seinerseits anstarrte – nicht verführerisch schielend, nicht rätselhaft schillernd, sondern mit der echten Ergriffenheit, die hilflos macht – senkte sie den Blick und wandte den Kopf halb zur Seite.

Ihr sehr einfaches schwarzes Kleid, dem der Kenner seine Herkunft von der kleinen Hausschneiderin angemerkt hätte und zu dem sie einen weißen, schulmädchenhaft steifen Kragen trug, ließ den Hals und die mageren Arme frei. Das empfindliche und genau geschnittene Oval ihres Gesichtes war blaß; Hals und Arme waren bräunlich getönt, golden schimmernd, von der reifen und zarten Farbe sehr edler, in einem langen Sommer duftend gewordener Äpfel. Hendrik mußte angestrengt darüber nachdenken, woran ihn diese kostbare Farbe, von der er noch betroffener war als von Barbaras Antlitz, erinnerte. Ihm fielen Frauenbilder Leonardos ein, und er war etwas gerührt darüber, daß er hier, in aller Stille, während Marder mit seiner Kenntnis alter französischer Kochrezepte prahlte, an so vornehme und hohe Gegenstände dachte; ja, auf gewissen Leonardo-Bildern gab es diese satte, sanfte, dabei spröd empfindliche Fleischesfarbe; auch einige seiner Jünglinge, die den gekrümmten, lieblichen Arm aus einer schattenvollen Dunkelheit hoben, zeigten sie. Jünglinge und Madonnen auf alten Meisterbildern hatten solche Schönheit.

An Jünglinge und Madonnen ließ der Anblick Barbara Bruckners den begeisterten Hendrik denken. Nach dem Ideal geformte Knaben hatten diese schöne Magerkeit der Glieder; Madonnen aber hatten dieses Gesicht. So schlugen sie die Augen auf, genauso wie Barbara es jetzt tat: Augen unter langen, schwarzen und starren, aber ganz natürlichen Wimpern; Augen von einem satten Dunkelblau, das ins Schwärzliche spielte. Solche Augen hatte Barbara Bruckner, und sie schauten ernst forschend, mit einer freundschaftlichen Neugier, und zuweilen beinah schalkhaft. Überhaupt war das edle Gesicht nicht ohne schalkhafte Züge: kein weinerliches, auch kein gebieterisches Madonnenantlitz, vielmehr ein durchtriebenes. Der ziemlich große und feuchte Mund lächelte versonnen, aber nicht ohne Witz. Dem träumerischen Frauenhaupt gab es eine fast kecke Note, daß der Knoten des reichen aschblonden Haares im Nacken ein wenig schief saß. Der Scheitel hingegen war genau und in der Mitte gezogen.

 

»Warum schauen Sie mich so an?« fragte Barbara schließlich, da der entzückte Hendrik den Blick nicht von ihr ließ.

»Darf ich nicht?« fragte er leise zurück.

Sie sagte mit einer burschikosen Koketterie, hinter der ihre Befangenheit sich verbarg: »Wenn es Ihnen Vergnügen macht …«

Hendrik fand: Ihre Stimme war für das Ohr der nämliche Genuß wie die Farbe ihrer Haut für das Auge. Auch ihre Stimme schien gesättigt von reifem und zartem Ton. Auch sie schimmerte, hatte den kostbar nachgedunkelten Glanz. Hendrik lauschte mit derselben Hingegebenheit, die er vorhin gehabt hatte beim Schauen. Damit sie nur weiterspräche, stellte er Fragen. Er wollte wissen, wie lange sie in Hamburg zu bleiben gedächte.

Sie sagte, während sie mit einer Ungeschicklichkeit, die den Mangel an Gewohnheit verriet, an ihrer Zigarette sog: »Solange Nicoletta hier spielt. Es hängt also vom Erfolg des ›Knorke‹ ab.«

»Jetzt freut es mich erst, daß das Publikum heute abend so lange geklatscht hat«, sagte Hendrik. »Ich glaube, auch die Presse wird gut sein.«

Er erkundigte sich nach ihren Studien; Nicoletta hatte erwähnt, daß Barbara die Universität besuchte.

Sie sprach von soziologischen, historischen Kollegs. »Aber ich betreibe ja all das viel zu unregelmäßig«, sagte sie, versonnen und etwas spöttisch. Dabei stützte sie den Ellenbogen auf den Tisch und das Gesicht in die schmale, bräunliche Hand. Ein nicht so wohlwollender Beobachter, wie Hendrik es in diesem Augenblick war, hätte ihre Bewegungen, die ihm von schöner, rührender Befangenheit schienen, ungeschickt und beinah plump finden können. Die Steifheit ihrer Haltung verriet die junge Dame aus der Provinz, die nicht durchaus gewandte Professorentochter, und kontrastierte zu der klugen und heiteren Offenheit ihres Blickes. Sie hatte die Unsicherheit eines Menschen, der in einem bestimmten, eng begrenzten Milieu viel geliebt und verwöhnt worden ist, außerhalb dieses Milieus aber zu Minderwertigkeitsgefühlen neigt. Besonders in Nicolettas Gegenwart schien Barbara es gewöhnt zu sein, eine zweite Rolle zu spielen. Sie war deshalb erfreut und ein wenig belustigt darüber, daß dieser wunderliche Schauspieler, Hendrik Höfgen, auf eine so demonstrative Art sich ihr widmete, und sie setzte das Gespräch mit ihm nicht ungern fort.

»Ich mache so alles mögliche«, sagte sie nachdenklich. »Eigentlich zeichne ich … Mit Theaterdekorationen habe ich mich viel beschäftigt.« Dies war ein Stichwort für Hendrik; er ließ die Unterhaltung lebhafter werden. Mit fliegendem Eifer, auf den Wangen eine helle Röte, sprach er von Wandlungen des dekorativen Stils, von all dem, was es auf diesem Gebiete neu zu entdecken oder wieder zu verwenden, zu verbessern gäbe. Barbara lauschte, antwortete, blickte prüfend, hatte Lächeln, rührend ungeschickte Gebärden der Arme, schalkhaft und versonnen tönende Stimme, die verständige, durchdachte Urteile sprach.

Hendrik und Barbara plauderten leise, angeregt, nicht ohne Innigkeit. Nicoletta und Marder inzwischen funkelten sich verführerisch an. Beide ließen alle ihre Künste spielen. Nicolettas schöne Raubtieraugen waren noch blanker als sonst; die Akkuratesse ihrer Aussprache bekam triumphalen Charakter. Zwischen den grell gefärbten Lippen leuchteten, wenn sie lachte und sprach, die kleinen, scharfen Zähne. Marder seinerseits ließ intellektuelles Feuerwerk sprühen. Sein beweglicher, zuckender Mund, dessen bläuliche Färbung äußerst ungesund wirkte, redete fast ununterbrochen. Übrigens hatte Marder die Neigung, mit größter Intensität immer wieder dieselben Dinge zu sagen. Vor allem bestand er mit einer passionierten Hartnäckigkeit darauf, daß die heutige Zeit, deren aufmerksamsten und berufensten Richter er sich nannte, die denkbar schlechteste, verkommenste und hoffnungsloseste aller Epochen sei. Es existierte in ihr keine geistige Bewegung, keine allgemeine Tendenz oder besondere Leistung, die sein fürchterlicher Anspruch irgend hätte gelten lassen. Vor allem fehlten in ihr, seiner Meinung nach, die Persönlichkeiten; er, Marder, war die einzige weit und breit, und er wurde verkannt. Das Verwirrende war, daß der Beobachter und Richter europäischen Verfalls dieser trostlosen Gegenwart keineswegs das Bild einer Zukunft entgegensetzte, die zu lieben und um derentwillen das Bestehende zu hassen wäre; daß er vielmehr, um das Seiende herabzusetzen, eine Vergangenheit pries, die doch gerade er durchschaut, verhöhnt und kritisch erledigt hatte. Die fiebrig animierte Nicoletta war nicht dazu geneigt, sich über irgend etwas zu wundern; sonst hätte es ihr wohl erstaunlich scheinen können, daß eben der Mann, der sich selbst den klassischen Satiriker der bürgerlichen Epoche zu nennen liebte, nun Offiziere der alten deutschen Armee und rheinische Industrielle zu Idealfiguren verklärte, die tadellose Disziplin und kühne Persönlichkeit sieghaft in sich vereinigten. Der alte Spötter, dessen selbstherrlicher, aber geistig richtungsloser Radikalismus ins Reaktionäre abgeglitten und entartet war, deklamierte schnarrendes Lob für die physischen und moralischen Qualitäten preußischer Generale und höhnte mit der gereizten Stimme eines Unteroffiziers die schlappe Weichlichkeit des heutigen Geschlechts. »Nirgends Zucht! Nirgends Disziplin!« schrie er so laut und zornig, daß die alten Herren, die bei ihren Rotweinflaschen saßen, erstaunt die Köpfe herdrehten. Auch die Frauen hatten jede Disziplin verloren, behauptete der aufgebrachte Marder. Sie verstanden nichts mehr von der Liebe, aus der Hingabe machten sie ein Geschäft, wie die Männer waren sie oberflächlich und vulgär geworden. Hier lachte Nicoletta so herausfordernd, daß Marder galant hinzufügte: »Ausnahmen gibt es natürlich!«

Dann aber begann er wieder zu schimpfen. Seine Ansicht ging dahin, die deutschen Männer hätten allen Sinn für Ordnung und Respekt verloren, seitdem die allgemeine Dienstpflicht abgeschafft war. Heute, in einer verlotterten Demokratie, sei alles Talmi, falsch, durch Reklame groß gemachter Betrug. »Wenn es anders wäre«, fragte Marder erbittert, »müßte ich dann nicht der erste Mann im Staate sein? Wäre die ungeheure Kraft und Kompetenz meines Hirns nicht dazu berufen, alle wesentlichen Dinge öffentlichen Lebens zu entscheiden – während heute, da jeder Instinkt und Maßstab für echten Rang abhanden kam, meine Stimme nur die beinah überhörte des öffentlichen schlechten Gewissens ist!« Seine Augen glühten, sein hageres Gesicht, dessen Blässe zu der Schwärze des Schnurrbarts kontrastierte, war verzerrt. Um ihn zu beruhigen, erinnerte Nicoletta daran, daß die Stücke keines anderen lebenden Autors so häufig aufgeführt würden wie die seinen. Er lächelte mit flüchtig befriedigter Eitelkeit. Aber schon nach wenigen Sekunden verfinsterte er sich wieder. Plötzlich schrie er Hendrik Höfgen an, der innig vertieft in sein Gespräch mit Barbara saß: »Haben Sie vielleicht gedient, Herr?«

Hendrik, überrascht und entsetzt von so drohender Anrede, wandte ihm ein ziemlich fassungsloses Gesicht zu. Marder aber verlangte: »Antworten Sie, Herr!« Hendrik brachte, mühsam lächelnd, hervor: »Nein, natürlich nicht … Gott sei Dank nicht …« Darauf lachte Marder triumphierend.

»Da sieht man es wieder! Keine Disziplin! Keine Persönlichkeit! – Haben Sie vielleicht Disziplin, Herr? Sind Sie vielleicht eine Persönlichkeit? – Alles Talmi, alles Ersatz, Plebejertum, wohin ich immer schaue!«

Das war eine Impertinenz; Hendrik wußte nicht, wie er reagieren sollte. Er fühlte Zorn in sich hochsteigen; um der Damen willen, und auch, weil Marders Ruhm ihm imponierte, entschloß er sich, einen Skandal zu vermeiden. Übrigens hielt er den Schriftsteller für nervenkrank. Welch erstaunliche und erschütternde Veränderung aber ging nun vor mit Marder, der eine schauerlich gedämpfte Stimme und prophetische Augen bekam!

»Das alles wird gräßlich enden.« Er raunte es – in welche Fernen oder in was für Abgründe schaute jetzt sein Blick, der mit einemmal eine so fürchterlich durchdringende Kraft bekam? »Es wird das Schlimmste geschehen, denkt an mich, Kinder, wenn es da ist, ich habe es vorausgesehen und vorausgewußt. Diese Zeit ist in Verwesung, sie stinkt. Denkt an mich: Ich habe es gerochen. Mich täuscht man nicht. Ich spüre die Katastrophe, die sich vorbereitet. Sie wird beispiellos sein. Sie wird alles verschlingen, und um keinen wird es schade sein, außer um mich. Alles, was steht, wird zerbersten. Es ist morsch. Ich habe es befühlt, geprüft und verworfen. Wenn es stürzt, wird es uns alle begraben. Ihr tut mir leid, Kinder, denn ihr werdet euer Leben nicht leben dürfen. Ich aber habe ein schönes Leben gehabt.«

Theophil Marder war fünfzig Jahre alt. Er war mit drei Frauen verheiratet gewesen. Er war angefeindet und ausgelacht worden; er hatte den Erfolg, den Ruhm und auch den Reichtum kennengelernt.

Da er schwieg und nur erschüttert keuchte, sprachen auch die anderen, die mit ihm am Tisch saßen, kein Wort; Nicoletta, Barbara und Hendrik hatten die Augen niedergeschlagen.

Marder aber änderte jäh die Stimmung. Er schenkte Rotwein ein und wurde charmant. Höfgen, den er eben noch beleidigt hatte, machte er nun Komplimente über sein begabtes Spiel. »Ich weiß es wohl«, sagte er gönnerhaft, »die Rolle ist blendend, mein Dialog unvergleichlich pointiert. Aber die Jammergestalten, die sich heute Schauspieler nennen, bringen es fertig, selbst in meinen Stücken schwunglos langweilig zu sein. Sie, Höfgen, haben immerhin eine Ahnung davon, was Theater ist. Unter den Blinden fallen Sie mir als der Einäugige auf. Prost!« Dabei hob er das Rotweinglas. »Mit unserer Barbara scheinen Sie sich ja nicht übel zu unterhalten«, sagte er launig. Barbara begegnete seinem anzüglichen Lächeln mit ernstem Blick. Hendrik zögerte, ehe er mit Theophil anstieß: die forsche Redeweise des Dramatikers im Zusammenhang mit dem wunderbaren Mädchen Barbara empfand er als unpassend. Es schien, daß Marder, der nicht nur mit seiner Kenntnis von Weinen und Saucen, sondern auch mit seinem untrügbaren Instinkt für den Wert einer Frau dröhnend renommierte, Barbara überhaupt nicht bemerkte. Augen hatte er nur für Nicoletta, die es ihrerseits sorgsam vermied, den zärtlichen und besorgten Blick zu erwidern, den Barbara zuweilen auf sie richtete.

Marder bestellte Champagner zu den Süßigkeiten, die der feine Ober eben servierte. Es war nach Mitternacht; das gediegene Lokal, in dem es keine Gäste mehr gab außer diesen vier sonderbaren, hätte längst seine Pforten geschlossen; aber Marder gab den Kellnern zu verstehen, sie würden anständige Trinkgelder bekommen, wenn sie ein wenig länger als gewöhnlich ihren Dienst taten. Der große Satiriker, das wachsame Gewissen einer verderbten Zivilisation, zeigte jetzt sein Talent zur harmlosen Gemütlichkeit. Er erzählte Witze, und zwar sowohl solche aus preußisch-militärischer als auch andere aus östlich-jüdischer Sphäre. Ab und zu schaute er Nicoletta an, um zu konstatieren: »Prachtvolles Mädel! Disziplinierte Person! Heute sehr seltene Sache!« Oder er betrachtete sich Höfgen und rief munter: »Dieser sogenannte Hendrik – eine dolle Type! Kolossal ulkiges Phänomen! Macht mir Spaß. Muß ich mir notieren!«

Hendrik ließ ihn reden, prahlen und strahlen. Er gönnte ihm jeden Triumph. Nicht die mindeste Lust empfand er, mit ihm in Konkurrenz zu treten. Mochte Marder diese kleine Tafelrunde beherrschen: Hendrik lachte fröhlich zu seinen Scherzen. Der Genuß, den Höfgen aus der Situation bezog, war ein zarter und origineller: Angesichts von Theophils krasser Wohlgelauntheit fühlte er sich selber still und fein werden – was ihm selten geschah. Als stiller, feiner Mensch mußte er auch dem Mädchen Barbara erscheinen, die für Marders schmetternde Art wahrscheinlich gar nicht viel übrig hatte. Hendrik fühlte, daß Barbaras prüfender Blick mit sympathievoller Neugierde auf ihn gerichtet war. Er glaubte zu wissen, daß er dem Mädchen gefiel. Schönste Hoffnungen erfüllten sein bewegtes Herz.

Man trennte sich spät und in bester Stimmung. Hendrik machte seinen Heimweg zu Fuß. Er mußte über Barbara nachdenken. Das Gefühl einer reinen Verliebtheit war völlig neu für ihn, und wurde übrigens angenehm gesteigert durch die Wirkung der starken und erlesenen alkoholischen Getränke. ›Was ist das Geheimnis dieses Mädchens?‹ sann der Entzückte. ›Ich glaube, es ist das Geheimnis der vollkommenen Anständigkeit. Sie ist der anständigste Mensch, den ich jemals gesehen habe. Sie ist auch der natürlichste Mensch, den ich jemals gesehen habe. Sie könnte mein guter Engel sein.‹

 

Er blieb stehen, mitten auf der Straße, die Dunkelheit war mild und duftete. Es war ja schon beinah Sommer. Er hatte gar nicht gemerkt, daß es einen Frühling gegeben hatte. Und nun war schon beinah Sommer. Sein Herz erschrak vor einem Glück, von dem es niemals gewußt hatte, auf das es sich durch keine zarte Übung vorbereitet fand.

›Barbara wird mein guter Engel sein.‹

Vor der Zusammenkunft mit Prinzessin Tebab am nächsten Tage hatte Hendrik die größte Angst. Er mußte die Tanzmeisterin bitten, ihre Besuche bei ihm bis auf weiteres einzustellen: zu diesem Entschluß zwang ihn sein neues, großes Gefühl für das Mädchen Barbara. Aber er litt jetzt schon bei dem Gedanken, Juliette nicht mehr sehen zu dürfen, und übrigens bebte er vor dem Ausbruch ihres Zornes. Er gab sich Mühe, ihr die veränderte Situation auf ruhige Art zu erklären; aber seine Stimme zitterte, kein aasiges Lächeln wollte ihm gelingen, vielmehr wurde er abwechselnd bleich und rot, große Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Juliette tobte, schrie ihn an, sie lasse sich nicht wegschicken wie die erste beste, und sie werde diesem Fräulein Nicoletta, um derentwillen ihr solches zugemutet ward, beide Augen auskratzen. Hendrik, der darauf gefaßt war, gleich die Peitsche zu sehen, bat sie, sich zu mäßigen, und betonte, daß Fräulein von Niebuhr nichts zu tun habe mit der ganzen Angelegenheit.

»Du hast mir gesagt, daß ich das Zentrum deines Lebens bin, und all so’n Quatsch«, keifte Prinzessin Tebab.

Hendrik biß sich die bleichen Lippen und versuchte, Entschuldigungen vorzubringen.

»Gelogen hast du!« schrie die Fürstentochter. »Ich meinte immer, du lügst dich selber an – aber nein, mich hast du angelogen – man weiß immer noch nicht, wie gemein die Menschen sind!« Ihre grollende Stimme und ihre Miene drückten drastisch echte Empörung und die bitterste Enttäuschung aus. »Aber ich laufe dir nicht nach«, schloß sie stolz. »Ich bin keine solche, die hinter jemandem herläuft. Wenn du jetzt eine andere hast, die dich verhaut, wie ich es gekonnt habe – bitte sehr!«

Hendrik war froh darüber, daß sie ihm nicht nachlaufen würde. Er machte ihr ein Geldgeschenk, das sie murrend akzeptierte. Als sie aber schon auf der Schwelle stand, zeigte sie noch einmal ihr triumphierendes Lächeln. »Glaube nur nicht, daß wir schon fertig sind miteinander«, sagte sie und nickte ihm munter zu. »Wenn du mich wieder mal brauchst – du weißt ja, wo du mich findest!«

Theophil Marder war abgereist, nachdem es zwischen ihm und Oskar H. Kroge zu einer katastrophalen Auseinandersetzung gekommen war. Der Autor von »Knorke« hatte den Direktor zwingen wollen, ihm auf einem notariell beglaubigten Papier zu versprechen, daß sein Stück mindestens fünfzigmal aufgeführt werde. Kroge hatte sich natürlich geweigert, worauf Marder zunächst mit dem Staatsanwalt drohte, um schließlich, als dies nicht den gewünschten Eindruck machte, den Leiter des Hamburger Künstlertheaters als eine komplette Null ohne Disziplin und Persönlichkeit, als einen betrügerischen Geschäftemacher, einen ahnungslosen Banausen und einen typischen Repräsentanten dieser stinkenden, todgeweihten Epoche zu beschimpfen. Auf so viel schnarrend vorgebrachte Beleidigungen konnte selbst Kroge, sonst ein verträglicher Mensch, nicht ganz ohne Bitterkeit reagieren. Man zankte sich eine Stunde lang. Dann bestieg Marder in bester Laune den Berliner Expreß.

Hendrik, Nicoletta und Barbara trafen sich jeden Tag. Manchmal geschah es auch, daß Hendrik und Barbara ohne Nicoletta zusammen waren. Man machte Spaziergänge, Bootsfahrten auf der Alster, saß auf Terrassen, besuchte Galerien. Man kam sich näher, man sprach. Barbara erfuhr von Hendrik, was er sie erfahren lassen wollte: pathetisch deklamierte er ihr seine Gesinnung vor, verkündete seine Hoffnung auf die Weltrevolution und die Sendung des Revolutionären Theaters. In dramatisch ausgeschmückter Form ließ er sie die Geschichte seiner Kindheit wissen, schilderte die häuslichen Verhältnisse, seinen Vater Köbes, seine Mutter Bella, seine Schwester Josy.

Von ihrer Kindheit sprach auch Barbara. Hendrik begriff, welche die beiden zentralen Figuren in ihrem Leben bis jetzt gewesen waren: der geliebte Vater und Nicoletta, die Freundin, an der sie mit besorgter Zärtlichkeit hing. Zur Sorge hatte das abenteuerliche und grelle Mädchen ihr schon vielen Anlaß gegeben; die größte Beunruhigung aber kam für Barbara aus Nicolettas neuer Beziehung zu Marder. Barbara verabscheute ihn, Hendrik hatte es gleich geahnt. Ihren flüchtig spöttischen Andeutungen war übrigens zu entnehmen, daß Theophil, ehe er noch Nicoletta kannte, ihr, Barbara, leidenschaftlich den Hof gemacht hatte. Sie aber war in einem verletzenden Grade ablehnend geblieben: daher Theophils Haß auf sie. Um so mehr Glück hatte er nun bei Nicoletta. Sie erklärte jedem, der es hören wollte, mit präzisen Worten, daß Theophil Marder der einzige durchaus vollwertige, wahrhaft ernst zu nehmende und bedeutende Mann sei, den Europa augenblicklich aufzuweisen habe. Beinahe täglich telefonierte sie lange mit ihm, obwohl Barbara zeigte, wie tief und schmerzlich sie es mißbilligte. Nicoletta ihrerseits beobachtete mit blanken, wohlwollenden Augen, was zwischen Barbara und Hendrik sich vorbereitete. Es war ihr lieb, daß Barbara, deren pädagogisch-zärtliches Interesse ihr lästig wurde, sich selbst zu verstricken schien in sentimentale Abenteuer. Was an Nicoletta lag, tat sie, um diese Beziehung zu fördern. Sie sprach zu Hendrik, als sie abends in seine Garderobe trat:

»Es freut mich, daß du vorwärts kommst mit Barbara. Ihr werdet euch heiraten. Das Mädchen weiß sowieso nicht, wohin mit sich.«

Hendrik verwahrte sich gegen solche Ausdrucksweise; aber er zitterte vor Freude, als er fragte: »Glaubst du denn, daß Barbara daran denkt …?«

Nicoletta hatte ihr klirrendes Lachen. »Natürlich denkt sie daran. Merkst du nicht, wie sie ganz verändert ist? Lasse dich nicht dadurch täuschen, mein Schatz, daß sie dir mitleidig zu begegnen scheint. Ich kenne sie doch – sie gehört zu den Frauen, in deren Zuneigung sich immer Mitleid mischt. Heirate sie! – es ist für euch beide ganz entschieden das praktischste. Übrigens wird es auch für deine Karriere günstig sein; der alte Bruckner hat Einfluß.«

Auch hieran hatte Hendrik schon gedacht. Der Rausch seiner Verliebtheit, der anhielt – oder von dem er doch gern glauben wollte, daß er dauerhaft sei – vermochte Erwägungen kühlerer Art nicht ganz zu verdrängen. Geheimrat Bruckner war ein großer Mann, auch nicht arm; die Verbindung mit seiner Tochter würde Vorteile bringen, neben allem Glück. – Hatte Nicoletta recht mit ihren zynischen und dezidierten Reden? Erwog Barbara die Möglichkeit einer Verbindung mit Hendrik Höfgen? Wie weit ging ihr Interesse an ihm? War es nicht nur spielerischer und oberflächlicher Natur? Ihr Madonnengesicht mit dem spitzbübischen Zug war undurchschaubar. Nichts verriet ihre von goldenen Tönen gesättigte, tiefe, klingende Stimme. Was aber verrieten ihre forschenden Augen, die so oft mit Neugier, mit Mitleid, Freundschaft, vielleicht mit Zärtlichkeit auf Hendrik gerichtet waren?