Klaus Mann - Das literarische Werk

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Er war voll Vertrauen, weil sein Herz voll Liebe war. Er liebte diese Frau – ihre mageren Glieder, die schrägen Augen, die lockige Mähne des Haares – er wollte mit ihr leben, seine inständige Absicht war: glücklich zu sein – daher die Begeisterung und der gewagte Flug seiner Gedanken. Eine Konversation, die mit anerkennenden Bemerkungen über das appetitliche Äußere und die intellektuelle Zuverlässigkeit eines jungen Kollegen begonnen hatte, hob sich und vertiefte sich, ward sehr ernst und sehr spielerisch, bekam verzückte Akzente.

Der alternde Freier begriff: ›Anmut und Charme der Jugend habe ich längst nicht mehr – bin übrigens auch als Zwanzigjähriger kein Adonis gewesen. So muß ich mit anderen Mitteln werben und imponieren. Sie freut sich an meinen Einfällen, und meine Erwägungen lassen sie nachdenklich werden. Sie lächelt mir schon zu, sie drückt meine Hand, wenn ich komme oder Abschied nehme. Sie wird mich lieben, sie ist klug und gut. Ich gewinne ihr Herz. Sie liebt mich schon. Ach – hätte ich schon gewonnen?‹

Sorgenvoll stimmte ihn, daß sie gerade am Weihnachtsabend allein sein wollte. Warum weigerte sie sich, mit ihm, Benjamin, in aller Stille eine Flasche Champagner zu trinken? – Sie schloß sich in ihr Hotelzimmer ein, und ebendort war es doch am wenigsten gemütlich. Die enge Stube war entweder überheizt oder eisig kalt. Telefonbuch und kleine Bibel, die den Nachttisch zierten, ließen sie kaum wohnlicher werden.

Ein fremdes Bett, ein fremder Stuhl, eine fremde Wand … Marion dachte: ›Viel anders kann das Zimmer nicht gewesen sein, in dem Tilly ihren Todestee schlürfte. Auch ihr deklassierter Schupomann war auf und davon – und sie spürte das Kind im Leibe. – Arme kleine Schwester, dir hat keiner helfen können. Gibt es Hilfe für mich …? Ach, ich hätte große, große Lust, mir eine Portion Tee zu bestellen. Veronaltabletten wären auch zur Hand; das Todessüppchen ist schnell bereitet. Es darf aber nicht sein. Ich muß das Kind bekommen.‹

Denn nun wußte sie, warum ihr schwindlig geworden war auf dem Podium, und woher die jähen Übelkeiten kamen. In Tullios Armen hatte sie es empfangen, als er den zornigen Schlachtgesang der Liebe hören ließ. Sein Samen – der Samen des Vagabunden – war fruchtbar geworden in ihrem Leib. Sie hatte in seinem Antlitz nur die Augen gesehen, kindlich und tragisch geöffnet unter den kühnen Bogen der Brauen. ›Ich bin deine Witwe, Marcel! In meinem Herzen bleiben, Wundmalen gleich, die Spuren deiner ungeheuren Blicke. Als ich lag und empfing, haben deine Augen mich angeschaut – oh, wie sternenhaft! Oh, wie lieblich, wie streng! Du wolltest nicht, daß ich den Tod empfange. Ich soll den Sohn tragen, es ist deiner. Ich muß das Kind bekommen. Was tue ich nur? Ich kann gar kein Kind gebrauchen, ich bin eine Emigrantin, eine Vagabundin, eine Kämpferin; ich bin keine Mutter. Übrigens ist es einfach peinlich, ein Kind ohne Vater zu haben; es schickt sich nicht, man wird es mir übelnehmen. Tullio als Vater – eine groteske Vorstellung! Der göttliche Fensterputzer als Papa! Ich muß lachen. Ich muß bitterlich weinen. Ich will das Kind nicht bekommen. Ich muß es bekommen. Warum muß ich denn? Die Abtreibung wäre noch kein Risiko, ich fände einen gefälligen Arzt. Wer hindert mich daran, das einzig Vernünftige zu tun, den Eingriff vornehmen zu lassen? Wer wagt es, mich dran zu hindern? – Wir sollen Kinder bekommen, ich weiß es. Damit es nur weitergehe … Es soll weitergehen.‹

Sie nahm Veronal – eine bescheidene Dosis. ›Ein wenig Schlaf darf ich mir wohl gönnen‹, meinte sie. ›Morgen früh fasse ich dann definitive Beschlüsse. Noch länger hier zu bleiben hätte wenig Sinn. Ich darf mir nicht von Benjamin, innig und pedantisch, den Hof machen lassen, da ich doch von einem Fensterputzer geschwängert bin. Morgen oder übermorgen fahre ich nach New York. Ich absolviere den Rest der Tournee, wie mein Vertrag es verlangt, und kehre im Frühling nach Europa zurück. Mama wird sich über ein Enkelkind freuen – sogar wenn der Vater ein verschollener Italiener ist.‹

Da fielen die Augen ihr zu; das Medikament tat seine gute Wirkung. Ehe sie einschlief, dachte sie noch an ein Haus, in dem sie als Kind jahrelang einen Tag der Woche – den Sonntag – verbracht hatte. Warum fiel es ihr ein, gerade jetzt, und mit solcher Deutlichkeit? Sie sah einen Garten, Blumenbeete und Brunnen – alles ein wenig verwunschen. Eine Terrasse war da, mit Malereien geschmückt, die verblaßten und zerbröckelten. Schöne Räume mit dicken Teppichen; eine Freitreppe, die auf halber Höhe einen kleinen Balkon oder Erker bildete: dort stand ein ausgestopfter Pfau – ›ich habe niemals Angst vor ihm gehabt‹, erinnerte sich Marion, schon fast im Schlaf. ›Ich habe seinen seidig weichen Bauch gestreichelt und immer lachen müssen, wenn Tilly behauptete, er könne beißen. Wie lang ist dies alles her! Warum erscheint es mir plötzlich? – Es muß noch ein Raum in jenem schönen Haus unserer Kindheit gewesen sein – an den kann ich mich nicht mehr erinnern. Er lag tiefer als die Diele und die Salons – in einem Kellergeschoß. Eine gewundene, geheimnisvolle Treppe führte hinunter. Aber ich weiß nicht mehr, wie es aussah und wie es roch, in dieser entlegenen Kammer. Ich finde den Weg nicht mehr, die verborgene Treppe hinunter – und doch muß ich sie oft gegangen sein, Hand in Hand mit Tilly – damals, in der versunkenen Zeit. – Versunkener Raum – ich finde den Zugang nicht …‹

Abel inzwischen feierte im Kreis der Kollegen. Nur die Unverheirateten hatten sich eingefunden; aus dem Radio schallten Weihnachtslieder; mehrere Herren sangen fröhlich mit, andere wurden melancholisch. Benjamin gehörte weder zu den Munteren noch auch zu den Betrübten. Er dachte angestrengt nach – was ihn freilich am Sprechen hinderte und seinen Blick recht finster werden ließ. Die Kollegen vermuteten: Es ist die Heimat, nach der er sich sehnt. Alle Deutschen werden sentimental, wenn Weihnachten ist … Sie sagten: »Prost, alter Junge!« und hoben die Whiskygläser. Er aber dachte an Marion.

Er beschloß: ›Morgen gestehe ich ihr, was ich fühle und will. Der erste Weihnachtsfeiertag ist ein schönes Datum für die große Erklärung.‹

Marion sah müde aus, als sie Abels matinale Visite empfing. Sie erklärte: »Ich habe nicht gut geschlafen.« Indessen war sie reizender denn je. Begehrenswerter denn je – so fand Benjamin – schien ihr blasses, mattes Gesicht unter der lockigen Fülle des Haars. Sie trug einen schwarzen Pyjama, eng anliegend, dem Kostüm eines Pierrots ähnlich. Übrigens duftete sie stärker als gewöhnlich; Benjamin zuckte zusammen, als sie erwähnte: »Der gute Jonny hat mir ein sehr feines Pariser Parfüm geschenkt, es muß hier teuer sein, meine Lieblingsmarke.« Hatte sie auch einen neuen Lippenstift? Der große Mund leuchtete fast erschreckend in der Blaßheit ihrer erschöpften Miene. Sie bewegte sich lässig durchs Zimmer – ein nicht mehr ganz junger Page, parfümiert und mager, mit einem überanstrengten Zug zwischen den Augenbrauen. Sie fragte mit sanfter, tönender Stimme: »Was führt Sie so früh zu mir, lieber Freund?« Es klang konventionell, dabei lockend. Auf dem dunklen Seidenstoff ihres Hausanzuges bewegten sich unruhig die weißen Finger ihrer rastlosen Hand.

Wie verführerisch war Marion an diesem festlichen Morgen! Benjamin war drauf und dran, es ihr zu versichern; konnte indessen nur stammeln. Was er vorbrachte, war verworrenes Zeug – der Inhalt ließ sich mehr erraten als verstehen. Daß er sie liebe – darauf lief es hinaus. Dies hatte sie schon gewußt; ihr mattes, strenges Gesicht blieb undurchdringlich. Sie schwieg; er verlor vollends die Fassung.

Auf seiner Miene ereigneten sich Dinge höchst erstaunlicher Art. Der kleine Mund zwischen den schweren Wangen verzerrte sich, daß es schien, er lachte – ein gequältes Grinsen – nun sah es wieder mehr nach Weinen aus. Auch die Stirne war sehr in Mitleidenschaft gezogen; sie warf Falten wie ein Wasser, über das ein Windstoß fährt. Die Falten hatten krause, barocke Formen, sie vergingen geschwind, waren gleich wieder da, vertieften sich, lösten sich nochmals. Am schlimmsten aber stand es um die Augen; dort herrschte Raserei. Sie waren blutunterlaufen und zeigten die bedenkliche Neigung, hin und her zu rollen, als suchten sie in allen Ecken des Zimmers gierig nach einem verlorenen Gegenstand. Plötzlich wurden sie starr – was auch recht unheimlich wirkte. Hatten sie das verlorene Kleinod gefunden? Hielt Marion es zwischen ihren Fingern fest? Auf ihre bleichen, unruhigen Hände fixierte sich Benjamins flehender, verzückter Blick.

Welch rührendes, groteskes Schauspiel bot der bejahrte Freier! Mit eindrucksvoller Eloquenz hatte er, gestern noch, die Menschenwürde gepriesen; nun entwürdigte er sich, ward fast komisch – zu Füßen des Menschen, an dem ihm alles gelegen war. – Ja, er hatte sich vor Marion auf die Knie geworfen. Er tat dies Äußerste, er wagte die schamlose Geste, er fürchtete nicht, ridikül zu scheinen. Er ließ sich hinplumpsen, schwer und dick, wie er war – es machte ziemlichen Lärm. Die Pose des Jünglings, der die Entflammtheit seines jungen Herzens beichtet – ach, höchst seltsam nahm sie sich aus, da der Alternde nun, pedantisch-ausführlich, in ihr verharrte. Er hielt dem Mädchen sein großes, zerfurchtes Gesicht hin, sein entwürdigtes Antlitz – wie respektabel war es einst gewesen! Jetzt schien es entstellt und verwüstet, zerstört von Leidenschaft, und die Blicke vor Angst und Hoffnung erblindet. – ›Lies in meinen Zügen!‹ forderte das entstellte Antlitz des Mannes. ›Erfahre, was ich gelitten habe! Nimm den schonungslosen Bericht, die genaue Chronik meines langen, kummervollen Daseins entgegen – in den Falten auf meiner Stirn kannst du alles lesen!‹

Sie prüfte die weite, inhaltsvolle Fläche dieses Menschengesichtes. Sie hörte seine geflüsterte, mühsam hervorgestoßene Rede: »Du mußt bei mir bleiben … Ich will dich … Wir werden glücklich – zusammen … Marion, du bleibst bei mir …« Sie rührte sich nicht. Sie forderte ihn nicht auf, sich zu erheben.

 

Endlich legte sie die Hände auf seine Schultern. Endlich sprach sie.

»Es geht nicht. Es kann nicht sein.«

Er ließ die Augen ein wenig rollen. Sie fürchtete, er werde gräßlich schreien. Jedoch hauchte er nur: »Warum nicht?«

Sie wiederholte: »Es geht nicht.«

»Du wirst dich an mich gewöhnen«, hauchte er eigensinnig. »Wahrscheinlich wirst du mich lieben.«

Sie erhob sich; tat ein paar Schritte. Sie winkte ihm flüchtig, etwas ungeduldig zu, er möge sich doch endlich wieder auf seine Füße stellen. Als er sich aufrichtete, ächzte er ein wenig; seine Hosen waren an den Knien bestaubt. Sie bemerkte es mit schrägem Seitenblick. Sie hustete nervös; zündete sich eine Zigarette an. Während sie schweigend rauchte, stand er mit geducktem Schädel und wartete. Schließlich fragte er nochmals: »Warum nicht?«

Sie lief durchs Zimmer, wandte ihm den Rücken. Über die Schulter, die sie enerviert bewegte, rief sie ihm mit trockener Stimme zu: »Ich erwarte ein Kind.«

Er veränderte weder die Haltung noch den Ausdruck der Miene. Er fragte, beinah tonlos: »Von wem?«

Da verlor sie die Fassung. Wütend zerdrückte sie die Zigarette im Aschenbecher – den sie vom Tische stieß – dabei stampfte sie kurz mit dem Fuß auf, ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Was geht es Sie an?!« – Sie schien völlig verzweifelt.

Er blieb insistent. »Ich muß es wissen.«

Zu seiner Überraschung lachte sie, kurz und böse. Dann wurde sie wieder gelassen. Sie legte den Kopf in den Nacken; unter halb gesenkten Blicken hatten ihre Augen ein Leuchten, in dem Spott und Mitleid sich mischten – auch etwas Zärtlichkeit enthielt es, wie Benjamin mit bebender Hoffnung zu konstatieren meinte.

Sie erklärte ruhig: »Mein Kind ist von einem jungen italienischen Fensterputzer. Ich habe ihn in New York kennengelernt. Er hat mich verlassen.«

»Er hat Sie verlassen?« Die Spannung wich von Benjamins Zügen. Sie glätteten sich, wurden sanft. Ein Lächeln ohnegleichen – ein Schimmer der Erleichterung, des Triumphes, des Erbarmens, der unendlichen Zärtlichkeit – verschönte das unjunge Antlitz des Liebenden. »Warum hat er Sie denn verlassen?« forschte er mit inständiger Pedanterie.

Marion ihrerseits glich nun einem Schulmädchen, das in peinlicher Sache verhört wird und sich schämen muß. »Er hatte mich wohl satt.« Eine flüchtige Röte lief über ihr blasses Gesicht. – »Er ist nach Europa gefahren«, sagte sie noch. »Er will kämpfen.«

Der Liebhaber examinierte sie weiter. »So waren Sie ganz allein?«

Sie bestätigte: »Ich war ganz allein.«

»Ein Kind ohne Vater …« Er schüttelte nachsichtig und verwundert das Haupt. »Das ist doch eine große Unannehmlichkeit …«

»Was Sie nicht sagen …!« Sie lachte erbittert; griff nach einer neuen Zigarette.

Seine Stimme ward feierlich. »Nun hat es ja einen Vater. – Ihr Kind wird meinen Namen tragen, Marion!«

Dabei war er auf sie zugetreten. Er legte die Arme um ihren Hals. Er war etwas kleiner als sie. Sie neigte ihr ermüdetes, blasses, schönes Gesicht, damit er es küsse. Sie hielt stille in seiner Umarmung. Er suchte nicht ihren Mund. Seine Lippen berührten sehr vorsichtig ihre gesenkte Stirn.

Sie fragte, bewegungslos: »Wird das fremde Kind Sie nicht stören?« Darauf er – milde tadelnd, als müßte er sie an das Bekannteste und Wichtigste erinnern: »Ich liebe dich.« Sie lächelte, dankbar und erschöpft. – »Wirst du dich daran gewöhnen können, daß ich dich so sehr liebe?« erkundigte sich Professor Abel besorgt. »Werde ich dir nicht lästig sein? Wirst du mich gerne haben? Und auf welche Art?«

Sie hatte eine sanfte Gebärde der Abwehr. »Es ist doch noch nichts entschieden …« Gleich mußte sie erleben, daß er wieder heftig ward. – »Es ist alles entschieden!« Mit gravitätischer Schalkhaftigkeit fügte er hinzu: »Das Kind braucht doch einen Vater!«

In ihrem Kopf waren müde, wirre Gedanken. Sie überlegte: ›Wie schlau sie sind – diese Liebenden! Sie nutzen alles zu ihrem Vorteil … Ich habe nicht gewußt, daß ihm so viel an mir liegt. Es muß ihm ungeheuer viel an mir liegen, da er keinen Anstoß nimmt an meiner Schwangerschaft. – Tue ich etwas Schlechtes, wenn ich ihm erlaube, der Vater meines Kindes zu sein? Wen könnte ich fragen? Ich habe nur die Antwort, die aus mir selber kommt …‹

Die Augen des Liebenden wanderten unersättlich über die Landschaft des geliebten Gesichtes. Sie verweilten auf dem Mund, der mit großer, schön geschwungener Kurve sich festlich darbot. – Der Liebende sah: ›Ihre Lippen öffnen sich. Sie erwartet den Kuß. Man lebt lange, geht durch manche Qual – und ein atmender Mund, der sich lächelnd öffnet, bringt unvermutet die stumme Botschaft, die Verheißung und die Erfüllung. Mir ist Glück beschieden – wer hätte es je gedacht …!‹

Die nächsten Tage waren voll Gespräch; es galt, die Vergangenheit zu besprechen und die Zukunft. Was die Zukunft betraf, so schien alles einfach. Abel hatte beschlossen: »Wir heiraten in etwa vierzehn Tagen.« Marion fand nichts einzuwenden. Sie schaute ihn sinnend an; lächelte; schwieg; fragte schließlich: »Machen wir keinen Fehler?« Darauf Benjamin, sehr zuversichtlich: »Wir tun das Richtige.« Da nickte sie ernsthaft: »Ja. Es ist wohl das Richtige, was wir tun.«

Sie würde ihren Kontrakt erfüllen, die Tournee zu Ende führen; neue Angebote aber wollte sie ablehnen. Ende Februar verließ Benjamin die Universität im Mittelwesten; er hatte schon ein anderes Angebot, aus einem der südlichen Staaten. »Dorthin reisen wir zusammen, als Herr und Frau Professor.« Er freute sich sehr darauf. »Und dort kommt dein Kind zur Welt. Unser Kind …« schloß er innig.

Die Vergangenheit war komplizierter als die Zukunft. Beide hatten viel zu erzählen. Marion erfuhr Benjamins ganzes Leben, nichts ward ausgelassen, weder die brave Annette noch das süße Stinchen. Das »Huize Mozart« kam vor und der schaurige Brummer, Herr Wollfritz, das Flüchtlings-Comité in Skandinavien, die ersten schweren Wochen in New York: alles wurde beschworen. »Anfangs habe ich mich vor Amerika gefürchtet«, gestand er. »Und jetzt bin ich so gerne hier …«

Wie schwierig war es für Marion, von Marcel zu berichten! Auch Martin und Kikjou waren Figuren, die sich in gedrängter Form kaum beschreiben ließen. Sie verweilte lange bei Tilly, ihrer armen Schwester: Benjamin erschrak und erbleichte, als er von ihrem Abenteuer hörte und wie arg es geendigt hatte. »Arme Tilly! Arme Marion!« Er nahm sanft ihre Hand. Und: »Arme Marion!« sagte er noch einmal, als sie Tullio schilderte und die kurze, heftige Wonne, die sie mit ihm genossen hatte. War er eifersüchtig? Er sagte:

»Du hast dich noch niemals lieben lassen, wie eine Frau sich lieben lassen soll – jetzt geschieht es dir zum ersten Mal, oder du duldest es zum ersten Male. Du hast zuviel experimentiert, das war sehr gefährlich. Du bist doch kein Junge – wenngleich du magere Glieder wie ein Junge hast. Du bist eine Frau – die amazonenhafte Allüre kann keinen täuschen, der dich wirklich kennt.« – »Amazonenhafte Allüre?« Sie schien ein bißchen gekränkt. Er belehrte sie zärtlich: »Du hast ein Element, einen Teil deines Wesens überbetont – ein echtes Element, einen wichtigen Teil; aber etwas anderes ist zu kurz gekommen. Du warst zu aktiv. Du hast deine jungen Freunde geliebt – beinah wie ein Mann die Frau lieben soll. Dadurch hast du dir viel Schmerz angetan und bist reif geworden, weil du gelitten hast. Jetzt beginnt etwas Neues für dich, auf der Höhe deines reichen Lebens. Du wirst ein Kind haben, und du erlaubst einem Mann, dich zu lieben.«

Marion hörte sich dies an und fand es teilweise richtig. Gerade deshalb wurde sie ärgerlich. Sie zerknackte Streichhölzer zwischen den Fingern. »Die Zeit der Jugendtollheiten wäre also vorbei.« Ihr Lächeln war ziemlich sauer. »Darauf läuft deine kleine Predigt doch wohl hinaus.« – Er blieb ernst, obwohl sie kicherte. – »Etwas Neues fängt an!« erklärte er, mit bewegtem Nachdruck.

Er rührte sie durch seine feierliche Unbeholfenheit. Sie fand ihn auch etwas komisch. Sie fühlte sich sehr wohl in seiner Nähe, er hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Ihr Lachen bekam sanftere Laute. Ihr lachendes Gesicht barg sie an seiner Schulter. Er hörte sie sagen: »Alter Benjamin! Ich mag dich … Ich mag dich … Wenn du nur nicht immer wie ein Lehrer sprechen wolltest! Natürlich fängt etwas Neues an. Das Leben hat es so an sich, immer neue Situationen zu produzieren. Das ist ja das Interessante! – Das ist ja das Schöne …« gestand sie an seiner Schulter.

Am Silvesterabend gab Professor Abel eine »party« in seiner gemütlichen kleinen Wohnung. Marion erschien vor den übrigen Gästen – Benjamin hatte es ausdrücklich verlangt. »Du bist die Hausfrau und mußt meiner Lucy helfen, das Buffet zu richten.« Lucy war eine fröhliche, dicke Negerin, dem Professor sehr herzlich ergeben, und übrigens, als einzige Person in der Stadt, von seinem neuen Glück unterrichtet. Sie küßte Marion die Hand und strahlte über das ganze Gesicht. »My Professor sure got himself a fine girl!« stellte sie mit Befriedigung fest.

Was das Buffet betraf, so war es schon in perfekter Ordnung. Marion fand: »Für mich bleibt nichts mehr zu tun.« Benjamin aber erklärte, animiert und geheimnisvoll: »Es ist sehr gut, daß du so früh gekommen bist!« Er hatte eine Überraschung vorbereitet – wie sich bald erwies. »Bei uns ist es jetzt sieben Uhr«, bemerkte er schmunzelnd. »In Zürich haben sie ein Uhr morgens.« Marion wußte nichts damit anzufangen. »Natürlich«, sagte sie. »In Zürich ist der Silvesterabend schon vorbei.« – Benjamin, munter und rätselhaft: »Hoffentlich noch nicht ganz!« Dann rückte er mit der Überraschung heraus: »Ich habe eine Telefonverbindung nach Zürich angemeldet!« – »Eine Telefonverbindung?« Marion konnte es gar nicht fassen. »Ich soll mit Mama sprechen? – Aber das muß furchtbar teuer sein!« Sie war recht erschrocken. Benjamin rieb sich die Hände. »Es ist mein Weihnachtsgeschenk, mein Neujahrsgeschenk und mein Verlobungsgeschenk!« Sie hatte ihn noch nie so aufgeräumt gesehen. Er behauptete übermütig: »Ich kann es mir leisten! Ein wohlbestallter Professor darf wohl mal mit seiner Schwiegermutter telefonieren!«

Da läutete schon das Telefon. Lucy watschelte hin – Benjamin ihr nach und riß ihr den Apparat aus der Hand. »Ist das Pension ›Rast und Ruh‹ in Zürich?« fragte er gierig. Es war Pension »Rast und Ruh«. – »Marion – deine Mutter!« rief Benjamin.

Frau von Kammer, auf der anderen Seite des Ozeans, plapperte aufgeregt: »Wer spricht denn? Was ist denn los?« Und Marion – die sehr blaß geworden war: »Ich bin es, Mama! Es ist Marion. Marion spricht …« Da wurde Marie-Luisens Stimme ganz klein und zittrig. »Marion … Kind … Es ist doch nicht möglich! Wo steckst du denn? Bist du denn nicht in New York?« – Die Tochter erklärte: »Nein, ich bin auf meiner Tournee im Mittelwesten von Amerika, in einer kleinen Stadt, du hast wohl nie ihren Namen gehört, es ist eine besonders nette kleine Stadt … Ich habe mich verlobt!« rief Marion über zwei Kontinente und das Atlantische Meer – über viele Städte, Ebenen, Flüsse und Gebirge hin, über ein fast unendliches Wasser hin berichtete die Tochter der Mutter. »Ich habe mich am Weihnachtstag verlobt, Mama! Kannst du mich hören?« – »Natürlich kann ich dich hören!« rief Frau von Kammer. »Deine Stimme klingt, als ob sie hier im Zimmer spräche, es ist wunderbar! – Mit wem hast du dich denn verlobt, liebes Herz?« – »Es ist ein Deutscher«, teilte die Tochter mit. »Ein Professor, er heißt Abel, er ist uralt und hat einen weißen Vollbart …« Sie mußte lachen; Benjamin machte wütende Zeichen. »Er wird dir nachher guten Abend sagen, er ist taub und wird kein Wort verstehen, wenn du zu ihm sprichst, er ist sehr komisch – es ist sehr komisch von mir, daß ich ihn gerne mag …« Der Bräutigam rang die Hände. Marion fragte: »Wie geht es denn bei euch, Mama? Hast du die Pension eröffnet? Habt ihr einen netten Silvesterabend gehabt? Sind die Gäste schon weg? Schläfst du schon? Habe ich dich gestört?«

Marie-Luise wollte alles auf einmal erzählen; überstürzte sich, brachte fast gar nichts heraus. Immerhin ließ sich verstehen: Der Betrieb von Pension »Rast und Ruh« hatte vielversprechend gestartet. »Wir haben acht Gäste, lauter reizende Menschen, und zum Abendessen waren Ottingers da und Peter Hürlimann, Ottingers haben Champagner gestiftet, es war ein sehr hübscher Abend, wir haben die neue Pension hochleben lassen – denke dir: Frau Ottinger war ein bißchen beschwipst!« Marion erfuhr – über den Ozean, über so viele Ebenen und Städte – die Details des Züricher Silvestermenüs. »Tilla hat sich um alles gekümmert«, betonte Marie-Luise bescheiden. »Und wie bezaubernd sie aussieht – du kannst es dir gar nicht vorstellen! Sie trug ein neues Schwarzseidenes – ganz einfach, aber so schick! Jetzt ist sie ja schon im Schlafrock …« Es klang, als ob Frau von Kammer sich bei Marion wegen des nachlässigen Kostüms ihrer Freundin entschuldigen wollte. – Herr Ottinger hatte mit seiner »Lebensbeichte eines Eidgenossen« viel Erfolg – auch dies ward Marion noch zugerufen, über Wellen und Berge. »Und das Buch ist unserer Tilly gewidmet! Ist das nicht rührend? Sie wird nicht vergessen von ihren Freunden, auch Peter Hürlimann hat etwas zu ihrem Andenken komponiert, eine Art von Requiem, der gute Junge, es klingt interessant, ich kann es nicht ganz verstehen. – Tilly wird nicht vergessen!« rief die Mutter vom Zürichberg. Und Marion, im Mittelwesten der USA, wiederholte: »Sie wird nicht vergessen.«

 

Später mußte Benjamin die Schwiegermama telefonisch begrüßen – es wurde ein langes Gespräch, ein ziemlich kostspieliges Weihnachtsgeschenk. Marie-Luise gratulierte dem fremden Herrn; dabei fiel ihr ein, daß sie der Tochter gar nicht ordentlich Glück gewünscht hatte. »Mein Gott, ich bin so vergeßlich! – Machen Sie mein Kind glücklich!« verlangte die Mutter aus großer räumlicher Distanz. »Haben Sie wirklich einen langen weißen Bart?« – »Keine Spur!« Benjamin legte größten Wert darauf, dies richtigzustellen. »Ich bin glattrasiert!«

Auch Lucy wurde zum Apparat geschoben; sie kicherte und wischte sich die Hände an der Schürze, als sollte sie der Königin von England die Hand reichen. Sie knickste sogar; denn sie dachte: ›Wahrscheinlich kann man mich auch sehen, da man mich hören kann … Jedenfalls ist es ratsam, sich manierlich aufzuführen, wenn man schon mal mit Europa spricht.‹ Übrigens war sie davon überzeugt, daß Zürich die Hauptstadt des Deutschen Reiches sei, daß dort ein Kaiser mit einem kolossalen Schnurrbart regiere, und daß alle Leute beständig Hofknickse exekutierten oder sich tief verneigten. »Happy New Year, Ma’am!« rief die dicke Lucy, wobei sie sich vor Lachen ausschütten wollte.

»Ein glückliches neues Jahr!« wünschte Frau Tibori aus Pension »Rast und Ruh«: ihre Stimme hatte noch den süßen und tiefen Klang; ein Unter- und Nebenton von Klage war ihm beigemischt. Die Tatsache, daß Marion heiraten wollte, schien sie zu rühren, beinah zu erschüttern. »Alles, alles Gute!« sagte sie immer wieder, enthusiastisch und dabei irgendwie warnend. Ihr lag daran, der Tochter ihrer Freundin zu bedeuten: Liebes Kind, das Leben ist schwierig, und die Männer tun alles dafür, es uns erst recht bitter und kompliziert zu gestalten! Machen Sie sich keine Illusionen über Ihren Bräutigam, liebes Kind – er mag ein charmanter Mensch sein, aber wohl kaum viel zuverlässiger als der Rest. Mein Gott – wenn ich an meinen Kommerzienrat denke! Oder an den Jungen von mexikanischer Abkunft! Was für ein kleiner Schuft! – »Alles alles Gute!« wiederholte sie mit düsterem Überschwang.

»Alles, alles Gute!« – eine halbe Stunde später hörte Marion den herzlich gemeinten Wunsch aus dem Munde der amerikanischen Freunde. Mrs. Piggins weinte fast, als Professor Abel feierlich mitgeteilt hatte: Marion und ich werden heiraten. – »Ich habe es geahnt!« schluchzte die gute Dame, obwohl ihr alles überraschend kam. Mr. Piggins, ein nachdenklicher Realist, fand das Arrangement vernünftig und lobenswert. Jonny Clark, der es wirklich geahnt hatte, zeigte musterhafte Selbstbeherrschung. Immerhin bedeutete es ihm einen Schock. Er hatte für diese seltsame Europäerin mit den schrägen Augen ein entschiedenes Faible gehabt. ›Isn’t she utterly attractive?‹ – dachte Jonny, der Braungebrannte. Und er beschloß: ›Nun küsse ich ihr nochmal die Hand! Das kleine Vergnügen darf ich mir wohl gönnen als Lohn für soviel selbstlose Zurückhaltung!‹ – Dem Kollegen Abel klopfte er die Schulter: »Congratulations, old chap!« Sie tauschten männlich-befreundete Blicke. Sie mochten sich. Sie tranken sich herzlich zu.

Der alte Professor Schneider war schier außer sich vor Vergnügen über das charmante Ereignis. Er bekam feuchte Augen, sein Mienenspiel war sowohl schalkhaft als auch ergriffen. »Und sie passen so gut zueinander!« sagte er immer wieder. Dann spielte er den Hochzeitsmarsch von Mendelssohn auf dem Klavier. »Ihr werdet nach Deutschland zurückkehren!« prophezeite er dem jungen Paar und ward wehmütig in der Erinnerung an längst verflossene Heidelberger Studententage. »Ihr werdet gute Amerikaner sein – und ich wünschte mir, ihr bliebet immer hier. Aber Deutschland kann auf die Dauer Menschen von eurer Art nicht entbehren. Ihr werdet zurückkehren!« verhieß er und bewegte die alten, etwas gichtischen Finger munter über die Tastatur.

Übrigens hatte er seinerseits noch eine kleine Sensation auf Lager. Wer hatte ihm denn geschrieben? Von wem war der Brief, mit dem er jetzt neckisch winkte? – Abel erriet es nicht; der Brief kam von Professor Besenkolb aus Bonn.

»Was will denn das alte Untier?« – Benjamin schien belustigt, aber auch ärgerlich.

Besenkolb erkundigte sich bei Schneider, ob es in den Staaten keine Chancen für einen berühmten alten Germanisten gebe. In fast demütigen Wendungen bat er um Protektion. Er hatte das Naziregime gründlich satt, er war enttäuscht und verbittert. »Die jungen Leute lernen nichts mehr«, klagte der Gelehrte aus Bonn. »Sie machen Geländeübungen. Ich habe mir das anders vorgestellt. Mich hat der ›Völkische Beobachter‹ angegriffen, weil ich meinerseits Goethe nicht scharf genug getadelt habe wegen seiner lahmen Haltung während der Freiheitskriege. Ein alter Patriot wie ich muß sich sagen lassen, es fehle ihm an Interesse für die nationale Ehre. – Ich will weg.«

Besenkolb hatte sein zorniges und bekümmertes Schreiben einem Schweizer Bekannten mitgegeben, der es von Basel aus beförderte. – »Das ist doch amüsant!« meinte Schneider. Er kannte die Geschichte des Zwistes zwischen Besenkolb und Abel und hatte den Zeitungsartikel gelesen, in dem der »alte Patriot« den jüngeren Kollegen als »Schänder deutschen Kulturgutes« denunzierte. – »Das ist doch drollig!«

Auch Abel fand, daß es drollig war, und schämte sich nicht, seinen Triumph zu zeigen. »Mit miserablem Benehmen macht man nicht immer die besten Geschäfte«, stellte er fest. »Auch Schurken können mal reinfallen.« – »Und es geschieht ihnen recht!« rief Professor Schneider, befriedigt über das prompte Funktionieren der moralischen Weltordnung.

Der Abend in Abels Junggesellenwohnung ward so außerordentlich gemütlich, daß die amerikanischen Freunde noch Wochen und Monate später davon zu singen und zu sagen wußten. Man konnte von einem Gemütlichkeitsrekord sprechen: darüber war nur eine Meinung bei allen, die das unbeschreiblich trauliche Fest hatten mitmachen dürfen. Als die Uhr von der Universitätskirche Mitternacht schlug, fiel man sich gerührt in die Arme. Es kam so weit, daß Professor Schneider die dicke Lucy küßte, die ihrerseits nicht davon lassen konnte, zu knicksen und sich tief zu verneigen; sie war ein wenig von Sinnen, seit sie mit der Kaiserlichen Hauptstadt telefoniert hatte. Alle brüllten: »Happy New Year! – A very very Happy New Year!« Die Stimmung erreichte ihren Höhepunkt, als Jonny Clark bunte Papierhelme und falsche Nasen verteilte. Ein Professor der englischen Literatur – sonst ein stiller, reservierter Herr – machte exzentrische Schritte, wobei er sich mit der flachen Hand abwechselnd auf die Stirn und auf die Knie schlug. Er behauptete, dies sei Schuhplattler, er habe es in Oberammergau so gelernt. Ein ernstes Fräulein, das in der Bibliothek arbeitete, bekam einen Lachkrampf, Jonny mußte ihr den Rücken klopfen – was ihr so angenehm war, daß sie nun erst recht weiter lachte. Mrs. Piggins sollte von Professor Schneider einen Tanz lernen, der »Big Apple« hieß und große körperliche Gewandtheit voraussetzte. Sie tat ungeschickte Sprünge und rief immer wieder: »It’s much too difficult!« Schließlich sank sie in einen Sessel und brachte nur noch hervor: »My Lord – we are having lots of fun!!« – als müßte sie sich und alle Anwesenden an diesen erfreulichen Umstand erinnern.