Klaus Mann - Das literarische Werk

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Die Freunde in Paris überlegten sich: Wo ist Kikjou? Niemand kannte seinen Aufenthalt. In Wahrheit wußte er selber kaum, wo er sich befand – so sehr war er der Welt abhanden gekommen.

Er wohnte irgendwo auf dem Lande. Gehörte dieses triste Dorf noch zu Frankreich? Oder war er weiter, bis nach Belgien, nach Holland gefahren? Er verließ sein Zimmer fast nie; es war kahl und eng, eine Zelle. Morgens ging er zur Kirche und beichtete. »Ich habe gesündigt – immer nur gesündigt … Ich muß furchtbar büßen …« Der fromme Vater wollte Einzelheiten. »Was hast du Böses getan, lieber Sohn?« – »Nur Böses, mein Vater, nur Böses! Ich habe nicht genug geliebt. Ich habe einen Menschen getötet – oder bin doch mitschuldig an seinem Tode. Den schwarzen Mächten habe ich ihn überlassen, weil es meine Neugier reizte und mich scheußlich lüstern machte, seine Verzauberung, seinen Verfall und Absturz zu beobachten. Es gibt keine Sünde, die ich nicht begangen hätte. Ich muß furchtbar büßen …« – »Das überlasse mir!« Der fromme Vater unterbrach ihn nicht ohne Strenge. Er fügte sanfter hinzu: »Du verwirrst dich! Was du sprichst, scheint phantastisch – auch klingt es nach Prahlerei. Es gibt eine Manier, sich selbst anzuklagen, welche an Prahlerei grenzt. Beichte deine Sünden der Reihe nach: dies kann ich dir nicht ersparen! Übertreibe sie nicht ins Maßlose – was nur eine andere Form ist, sie zu verkleinern und zu verwischen. Sei bescheidener! Der Teufel des Hochmutes sitzt dir im Leibe – wenngleich du erst wie ein Zerknirschter wirkst.« – »Ich will ins Kloster gehen«, brachte der Sünder hervor. »Ich will der Welt entsagen … mein Leben ganz dem Dienst des Herrn weihen …« Auf diese neue Unbescheidenheit hatte der Priester keine Antwort. Vielmehr bestimmte er trocken: »Komme morgen wieder! Heute bist du nicht in der Verfassung, eine ordentliche Beichte abzulegen. Gehe in dich! Bete! Sammle deine Gedanken! Komm morgen wieder!«

Draußen schien es schon beinah Winter geworden. Das öd gebreitete Land verhüllte sich düster. Ein schwarzgrauer Himmel senkte sich betrübt zu den nassen Feldern. Auf den Wiesen, Pfaden und Büschen schmolz ein dünner, mißfarbener Schnee.

Kikjou fror in seiner Kammer, er dachte: ›Die alte Patronne – diese verfluchte Hexe – sie könnte besser einheizen …‹ Aber dann beschloß er: ›Nein, ich beschwere mich nicht; es ist besser so. In einer Klosterzelle wird es auch nicht komfortabler sein. Mit nackten Füßen will ich über diesen eisigen Steinboden gehen – und wenn ich mir eine Erkältung hole, was tut’s? Ich muß büßen … Beten will ich und in mich gehen; der Priester hat recht: mir sitzt der Teufel des Hochmuts noch im Leibe. Herr Jesus, du kennst alle meine Sünden! Dein Gesicht ist menschlich – als des Menschen Sohn hast du unter uns gelebt und gelitten; du bist auch mit den Sünden der Menschen vertraut. Mein Herr Jesus – vor deinem Jammerbilde sink’ ich hin. Erbarme dich meiner! Habe Mitleid! Ayez pitié de moi, Seigneur! Christ – ayez pitié de nous!‹

Knie nieder, Kikjou – der Fußboden ist kalt, in deinem Herzen aber rasen Feuerbrände. Knie hin, Knabe, halte still, sei geduldig! Lege dein kindliches, viel zu hübsches Gesicht in die Hände – dies erst ist die Stunde deiner Konfession. Dein Erlöser selbst, starr gereckt in seiner Leidenspose, hört dir zu. Siehe – sein Haupt voll Blut und Wunden ist ein wenig seitlich geglitten; seine Lippen haben sich geöffnet – du weißt es: er leidet Durst – sein brechendes Auge aber prüft deine Gestalt, die sich vor ihn hingekauert hat. Wie aufmerksam schaut dein Erlöser unter dem schaurigen Putz der Dornenkrone! Vor ihm kannst du nichts verbergen – des Menschen Sohn ist sehr klug. Keine Ausflüchte mehr, Kikjou, keine pathetischen Verallgemeinerungen! Schon dem frommen Vater im Beichtstuhl ist es äußerst peinlich aufgefallen, daß du es vermiedest, detailliert zu bekennen; dein Erlöser aber würde dir solche Flausen keinesfalls durchgehen lassen. Des Menschen Sohn ist sehr anspruchsvoll – gib das Äußerste, Knabe, deine ganze Wahrheit, sonst wendet er den Blick von dir ab, und es wird ihm langweilig, dir zuzuhören. Er ist durch alles Leid der irdischen Sphäre gegangen, hat auch die Schauder der Unterwelt gekostet, und als er schließlich auffuhr gen Himmel, kam ein harter Glanz von seinem Angesicht – ein bewegtes Leuchten, wie von ungeheurer Flamme, so daß es denen, die schauten, nicht nur wohltat, sondern sie auch blendete. Die Blicke, mit denen er Abschied nahm, waren unfaßbar milde und unfaßbar streng.

Unfaßbar milde und unfaßbar streng mustert dich nun sein Blick – Knabe, der du zu beten versuchst! Strenge deine Erinnerung an! Sei nicht zimperlich, sei nicht träge! Denke an alles, was du falsch gemacht hast – es ist reichlich viel! Nimm dir Zeit! Übereile nichts! Sei umständlich! Sei exakt! Rühre dich nicht, wenngleich dir die Knie schon wehtun! Eine ganz enthüllte Seele will dein Erlöser sehen. Er kennt dich – ach, wie er dich kennt! Deine Verspieltheit; deine etwas feminine Tücke, die sich hinter frommen Redereien verbirgt; deine Eitelkeit; deinen Mangel an Energie; deine tierische Geilheit – wie war das mit dem jungen Engländer im »Boeuf sur le Toit«? Weh dir – und mit dem Araberjungen in Tunis – wehe, wehe! – und mit dem Piccolo in Lausanne, und mit dem kleinen weißen Hündchen bei deinem Onkel? O pfui über dich, du Stück Dreck und Laster, du Abhub, du hündisch-sündiges Gewächs! Gestehe! Bekenne! Parasit du – niemals hast du richtig arbeiten können; dein Vater in Rio – seinerseits freilich ein Menschenschinder, Wüstling ersten Ranges – hatte allen Anlaß, mißzufrieden mit dir zu sein. Tugendhaft warst du immer nur im falschen Moment, zum Beispiel, als du Martin alleine ließest mit der chose infernale; zunächst aber hattest du ihn zu seinen Exzessen eher ermutigt, auf deine hinterhältige Art. Als es zu spät war, irrtest du durch die Straßen: »Il n’est nulle part … il n’est nulle part …« Denn nun warst du es, der sich einsam fand.

Armer kleiner Kikjou, Sünder auf den Knien – siehe, unfaßbar milde streifen dich Blick und Lächeln dessen, der dein Erlöser ist. Nicht nur über alle deine Schlechtigkeiten, großen und geringen Infamien weiß er so genauen Bescheid. Er vergißt nicht, was du ausgestanden hast. Er kennt deine Einsamkeit, deine geistigen Qualen, deine Ratlosigkeit, deine Verwirrtheit, deine Zärtlichkeit, alle Anstrengungen, Aufschwünge, Enttäuschungen deines empfindlichen Herzens. Er ist den Menschen nicht fremd – und du bist nur einer von ihnen, nicht schlimmer als die anderen; wohl auch kaum viel besser – ein Mensch, armer kleiner Kikjou, ein Menschensohn, auch du – halte deine Stirne dem Erlöser hin! Er verzeiht dir vielleicht; denn über deine Wangen fließen menschliche Tränen. Auch du trägst dein Kreuz, kniendes Kind auf dem kalten Boden, und deine Schultern schmerzen unter seiner Last.

Wieviel Zeit vergeht, während du betest? Stunden, und es wird Nacht. Die Patronne tritt ein, sie bringt Schüsseln – das ist dein Abendessen – sieht es nicht ganz appetitlich aus? Aber du schaust kaum hin. Nicht essen und trinken jetzt! Es ist die Stunde der Konfession.

Vielleicht hast du später ein klein wenig geschlafen – sicher nicht mehr als zwei oder drei Stunden lang, dein Erlöser verzeiht es dir. Der Morgen aber findet dich wieder vor dem Kruzifix, wieder kniend, und das petit déjeuner rührst du nicht an. Auch da es Mittag wird, magst du dich nicht erheben. Früh kommt die Dämmerung in diesen Tagen zwischen Herbst und Winter. Deine Knie sind wund – spürst du es nicht? Hast du nicht Schmerzen in allen Gliedern? Auf einen Fremden, der nun plötzlich ins Zimmer träte, müßtest du nun fast beängstigend wirken; du zeigst die Miene eines höchst Verzückten.

Was erwartet dein verzücktes Herz? Es erwartet nichts mehr; denn es ist glücklich. So voll Helligkeit bist du in deinem Inneren, daß du den Lichtschein gar nicht gleich bemerkst, der jetzt weiß durch deine Zelle weht. Ein Geräusch läßt dich aufschauen. Du bist kaum erstaunt, da du den Engel gewahrst.

Er steht hinter dir und bewegt unruhig die Flügel, wodurch das metallische Klirren verursacht wird. Es ist wie ein nervöser Tick; dabei aber sehr großartig. Der Engel muß die großen Flügel regen, als käme er sonst aus der Übung und würde das Fliegen verlernen – ganz ähnlich wie ein Rekordschwimmer oder Radfahrer, der auch aus der Form geriete, wenn er nicht immer trainierte.

Dies ist das Wunder – da du am wenigsten mit ihm gerechnet hattest, ist es plötzlich da. Du empfindest kaum, daß es ein Wunder ist. Ein Engel ist an dich herangetreten, daran kann kein Zweifel sein. Wenn es nicht das Flügelpaar an seinen Schultern bezeugte, so verriete es sein ungeheurer, lächelnder Blick und der sehr besondere Geruch, den er ausströmt – ein Geruch nach Mandelblüten und einem feinen Benzin. Ja, es muß eine Benzinsorte geben, von so erlesener Qualität wie das kräftig-zarte Parfüm dieses Engels. Seine glanzumflossene Figur läßt, auf geheimnisvolle Weise, an ein starkes, elegantes Fahrzeug denken – an ein schnittiges Automobil oder ein flottes Motorboot. Der befiederte Jüngling ist groß und schlank; sein Gesicht mit dem übermäßig leuchtenden Blick hat die überanstrengte Magerkeit, wie man sie bei Sportsleuten findet. – ›Wie geschwind er ist!‹ denkt Kikjou, und dies ist das erste, was er denken kann.

Der Engel bewegt sich – großer Vogel, der auffliegen möchte; dem der irdische Aufenthalt nicht behagt. – »Komm!« ruft der Engel mit einer tiefen, nicht sehr melodischen, etwas brummenden Stimme. »Komm, Knabe!« – Kikjou, in seinem Trancezustand vor dem Kruzifix, scheint diese Worte nicht recht ernst zu nehmen. Deshalb wiederholt sie der Himmlische Bote, wobei er stärker mit den Flügeln rasselt: »Komm, Knabe! Komm!« – »Wohin?« erkundigt sich Kikjou und wendet sich, um seinen Gast genauer zu betrachten. Der Engel hebt langsam, mit schöner, runder Geste den Arm; zwei lässig und majestätisch erhobene Finger weisen zum Fenster, hinter dem der Schnee fällt. »Komm, komm! So komm doch!« Es klingt mehr mahnend als lockend. Er schüttelt das Haar, und die Duftwolke wird intensiver, als niste das Parfüm von Mandelblüten und sehr feinem Benzin vor allem in seinen Locken.

 

Sein Haar ist fast wie eine Mähne – ›eine Löwenmähne‹, stellt Kikjou fest – sehr lockig und üppig, wohl auch widerspenstig; wenn nicht ein schmales Silberband es zusammenhielte, würde es wie ein barocker Glorienschein um dieses sportlich harte Jünglingsgesicht wehen und flattern. Das Silberband hält es halbwegs in Ordnung. Trotzdem bleibt es eine erschreckende chevelure – purpurne Fülle, durch die goldene Lichter zucken. Kikjou konstatiert eine gewisse Ähnlichkeit mit Marions Haar – das freilich nur eine dezente Purpurnuance zeigt, während das Gelock des Engels schamlos flammt: blutrotes Feuer über der harten Stirn.

Die exzentrische Pracht solcher Kopfbedeckung kontrastiert seltsam zu dem schmucklosen Anzug des Engels. Er trägt eine Art von eng anliegendem Overall aus festem, silbergrauem Gewebe, sehr einfach geschnitten, Hose und Jackett in einem Stück. Ähnlich findet man junge Leute gekleidet, die in einer Garage arbeiten. Da der Stoff von seinem erhobenen Arm etwas zurückfällt, wird, am Handgelenk, ein breiter, heller Lederriemen sichtbar – Schmuck oder Stütze für die magere, sehnige Hand, deren Finger zum Fenster deuten. – Kikjou würde gerne herausbekommen, wie an dem Overall die Flügel befestigt sind; der Engel aber zeigt ihm nicht seinen Rücken. – »Komm! Komm!« mahnt er wieder, und die trippelnden Schritte, die er tut, sind schon Vorbereitung zum Flug – er fliegt schon fast, er wird immer leichter, um ihn weht heftiger der weiße Glanz. – »Aber es schneit doch draußen!« Kikjou versucht es, wieder einmal, mit törichten kleinen Ausflüchten. Er schielt feige zum Fenster; denn er ahnt ja: dort hinaus geht die Fahrt … Wirklich ist die Luft vom weißen Schneefall erfüllt. Langsam schweben die kristallischen Flocken. Der Winter ist da, der Schnee – ach bitte, lieber Engel – nicht hinaus in die Kälte! Nicht in den bösen Winter hinaus!

Die sinnlose Bemerkung über das Schneien hätte Kikjou vermeiden sollen; denn nun ist die Geduld des Engels erschöpft. Er läßt seine Stimme hören, welche grauenhaft brummt: »Unsinn! Sei still! Das ist Unsinn!« Und ehe der zurechtgewiesene Knabe sich von seinem Schrecken erholen kann, hat der Engel sich sehr gräßlich verwandelt. Er flattert, er hebt sich, saust und kracht; er wird zum Bienenschwarm, wird zur eisigen Wolke, zur Flamme; er löst sich auf, sammelt sich wieder; scheint ein Raubvogel, der über Kikjou kreist; ein Flugzeug, surrend, mit starren Flügeln; ein Monstrum ohnegleichen ist der schlanke Jüngling geworden; auf den Knaben stürzt er sich, wie ein Habicht auf das zitternde Lamm – wie Zeus, in einen Vogel verwandelt, sich auf Ganymed stürzt, so umklammert das himmlische Ungetüm mit furchtbar bewegten, furchtbar harten Gliedern den Kikjou. Hinaus in den Schnee! Hinaus in die Nacht! – keine Barmherzigkeit kennt der Engel. Er selbst ist Schneesturm geworden, rasendes Element; seine Umarmung ist teuflisch, ist himmlisch, ist viel zu stark; überwältigend sind die Geräusche, die er hören läßt; Motorenlärm, holde Sphärenmusik, Raubvogelgeheul, Stöhnen der Liebenden, gellendes Hohngelächter, tiefe, klagende Menschenstimme – alles in Einem, betäubende Melodie.

Komm, komm, Kikjou – durchs Fenster hinaus, durch das Glas hindurch, in die Nacht, in den Schnee, ins Weiße, ins Ungeheure! Fliege hin, sause über die Länder, man hat dir ein Fahrzeug erster Klasse zur Verfügung gestellt, schauerlich und wohlig ruhst du in den Armen deines süßen, rasenden, monströsen Engels. Hören und Sehen vergehen dir, du klammerst dich an seinen stählernen Nacken, er redet dir freundlich zu – mit Vogelstimme, Menschenstimme, Engelstimme. »Keine Angst … keine Angst … Der Schnee hört auf … Wir sind gleich am Ziel, und du wirst erwartet … Ton grand frère t’attend … Le voilà … Tu le reconnais …? Le voilà … Le voilà …«

Kikjou, le petit frère de Marcel, schlägt die Augen auf. Neben ihm steht der Engel, kaum erschöpft von der Fahrt; wieder in seinem Overall, mit dem Silberbändchen in der Purpurmähne. Er legt den Zeigefinger an die lächelnden Lippen: Sei still jetzt, man sieht uns nicht, wir sind unsichtbar, du und ich – unsichtbar, Kikjou und sein geschwinder Engel …

Wo sind wir? – Wir sind in Spanien, am Rande der Stadt Madrid, in der Universität, der Ciudad Universitaria. Dies muß ein Hörsaal gewesen sein; auf dem Fußboden liegen zerfetzte Kolleghefte, leere Tintenfässer, zertretene Bleistifte und Federhalter. Vor den leeren Fensterhöhlen aber sind Barrikaden oder Schießscharten aufgebaut, aus Büchern und zerschlagenen Bänken. Es ist kalt – noch kälter als in Kikjous mönchischer Zelle; der steinerne Boden atmet eisige Feuchtigkeit. Draußen wird geschossen; das Geknatter der Maschinengewehre hört nicht auf. Ein Maschinengewehr steht auch hier, auf einem der improvisierten Hügel aus Papier und Holz. Im Augenblick ist niemand da, um es zu bedienen. Von den drei Personen im Raum scheint eine ganz entschieden außer Gefecht gesetzt; die beiden anderen sind um ihn bemüht – eine Frau und ein junger Mann.

Nun erst erkennt der unsichtbare Kikjou den Verwundeten: es ist Marcel, son grand frère, sein Gesicht ist von Blut und Tränen entstellt – übrigens auch vom stark gewordenen Bart verändert. Er hat die rechte Hand ans Herz gepreßt, unter einem graugrünen, dicken Hemd sickert Blut hervor, er ist in die Brust getroffen – ins Herz getroffen ist Marcel, er stirbt. – ›Wie weiß seine Lippen sind!‹ Kikjou möchte zu ihm hin, ihn anfassen, ihn liebkosen; aber er ist ja zur Unsichtbarkeit verurteilt wie zu einer Strafe; er ist der Gefangene des Engels, dessen Zorn man nicht reizen darf – sonst wird er ein Bienenschwarm und ein Sturmwind und ein rasendes Element.

Marcel sagt: »Merde alors!« und versucht zu lächeln – liebenswürdig bis zum Schluß, verführerisch noch am Ende. Aber sein Mund, der soviel Worte gesprochen hat, kann nur noch zucken. Seine Lippen, von denen Blasphemien kamen und Liebesworte, Flüche und Zärtlichkeiten und immer wieder Worte – nun werden sie lahm und steif. Die Hände machen ein paar kleine Bewegungen; hilflose, flatternde Gesten – was sollen sie bedeuten? Wohin weisen sie? Welchen Sinn hat diese Pantomime des Sterbenden? Und in welche Fernen schweift nun der Blick seiner wunderbar aufgerissenen, kindlichen, unergründlichen Augen – dieser trauernden, wilden Sterne unter den kühnen Bögen der Brauen? Erkennen sie den Engel, der ihm gegenübersteht und nun seinerseits Zeichen macht – tröstliche, sanfte Winke mit den zwei erhobenen Fingern der rechten Hand? Erkennen sie Kikjou? Oder sehen sie gar nichts mehr? Denn nun werden sie glasig. – In einem Hörsaal der zerschossenen Universität von Madrid stirbt Marcel Poiret, ein Soldat. Er wollte das Opfer bringen; er hat sich geopfert. Er wollte Blut vergießen; aus einer kleinen Wunde über dem Herzen sickert sein Blut. Er war müde der Worte, gierig nach Taten und Leiden; er hat gehandelt, hat gekämpft, hat gelitten – er schweigt. Viele haben in diesem zerschossenen Gemäuer gekämpft und gelitten wie er; viele sind hier gestorben: hier und überall in diesem kämpfenden Lande. Er ist einer von Tausenden, von Zehntausenden – Marcel Poiret, ein Soldat – er gehört zum Ganzen, zum Kollektiv: dies hat er sich immer gewünscht, es ist seine Sehnsucht gewesen, erst im Tode soll sie sich erfüllen.

Kikjou, der Gefangene seines Engels, darf nicht hin, die Augen seines Freundes, seines großen Bruders zu schließen. Es ist eine spanische Arbeiterfrau, die dem Fremden diesen letzten Dienst erweist, und es ist ein deutscher Soldat, der dabeisteht und weint. Kikjou, in seiner Verzauberung, kann nicht weinen. Die spanische Frau hat ein großes, ernstes Gesicht mit tief eingegrabenen, schweren, etwas hängenden Zügen; der ganze Schmerz ihres Landes scheint versammelt auf ihrer Stirn. Man nennt sie die Pasionaria; sie hat harte, abgearbeitete Finger – aber mit welcher Zartheit berühren sie nun die Augenlider des toten Soldaten!

Der deutsche Kamerad holt ein großes, bunt kariertes Taschentuch hervor, um sich die Augen zu trocknen. Er schnauft heftig; dann schimpft er: »Verfluchte Scheißbande! Das ist wahrscheinlich wieder so ein verdammter Nazi gewesen, der diese Kugel geschickt hat – oder ein Italiener im schwarzen Hemd oder so ein blöder Araber, der gar nicht weiß, auf wen er eigentlich schießt! Und immer die Besten müssen es sein, die sie treffen – immer die feinsten Kerle! War so ein feiner Kerl, dieser Marcel – un bon copain, wie er es genannt hätte … Verflucht noch mal! Immer die Besten!« – Die Pasionaria versteht kein Wort; aber sie nickt. Sie nickt dem toten Franzosen zu und dem lebenden, weinenden, schimpfenden Deutschen – den zwei Kameraden. Der Deutsche hat kurz geschorene, dunkle Haare auf einem runden Schädel und etwas kugelig hervortretende, kluge, sympathische Augen. Es ist Hans Schütte: ein tapferer, zuverlässiger Bursche, sehr beliebt bei den Spaniern und bei den Kameraden von der Internationalen Brigade. Man hat ihn zum »Politkommissar« gemacht – eine verantwortungsvolle, wichtige Stellung; als eine Art von Verbindungsmann zwischen den Offizieren und den Soldaten muß er die Befehle erläutern und erklären, warum sie so und nicht anders sind; er muß sich um die einzelnen kümmern und sich ihre Sorgen erzählen lassen und ihnen gut zureden, wenn ihnen etwas nicht paßt; er hat viel zu tun und ist immer in der vordersten Linie. Auch dem Marcel Poiret ist ein solcher Posten angeboten worden, für den man gern »gebildete Leute« verwendet. Marcel aber hat abgelehnt. Er wollte einer sein unter vielen, zum Ganzen gehören, zum Kollektiv; nicht mehr auffallen, nicht mehr herausfallen; leiden und kämpfen mit den anderen; mit den anderen sterben.

Die Pasionaria ist fortgegangen; der Politkommissar Hans Schütte bleibt noch ein paar Minuten lang stehen bei seinem toten copain, dessen Sprache er kaum verstanden hat und mit dem er sich doch so gut verständigen konnte. ›Große Scheiße!‹ denkt der Deutsche – und Kikjou, an seinen Engel geschmiegt, begreift die Gedanken des Fremden. ›Große Scheiße! So ein feiner Kerl … Hat sich das nun gelohnt, daß er hier draufgegangen ist wie ein Hund? Hätte vielleicht noch gute Sachen schreiben können; hatte sicher eine Menge Grips im Kopf. Ich habe ja nichts von dem kapiert, was er mit seinen französischen Freunden geschwätzt hat; aber seinen Augen war doch anzusehen, daß er die richtigen Dinge gesagt hat, und schöne Dinge … Himmel Herrgott noch mal – hatte der Kerl großartige Augen. Nun ist er hin. Ist ein Sinn dabei …? Natürlich ist ein Sinn dabei. Der hat schon gewußt, warum er hergekommen ist und hier mit uns gekämpft hat und sich hat totschießen lassen von den verfluchten Faschisten. In Paris hat er wahrscheinlich so für sich gelebt – so ein begabter Einzelner, was kann der schon machen? Und als es dann hier losging, hat er sich gedacht: da muß ich dabei sein, das ist die große Gelegenheit, da muß ich alles aufs Spiel setzen – genau so, wie ich mir’s auch gedacht habe. Und wir haben ja hier was geleistet – wir, alle zusammen! Wir haben Madrid gehalten: tolle Sache das, wenn man es recht bedenkt, gegen so eine verfluchte Übermacht! Wir haben die Nazis und die Faschisten und die Franco-Leute und ihre Fremdenlegionäre zurückgeworfen, und hier sitzen wir in der Universitätsstadt und sind nicht rauszukriegen, Teufel noch mal. Da war der also dabei, dieser Schriftsteller: einer von uns. Das hat doch wohl seinen schönen, richtigen, geraden Sinn gehabt – klar, Mensch! Er wollte nicht mehr allein sein, sondern lieber mit den anderen zusammen sterben … Ja, so ist das wohl … Jetzt versteh ich eigentlich gar nicht mehr, warum ich nie in die Partei eintreten mochte … Das ist auch nur so ein Eigensinn gewesen – als ob ich besser als die anderen wäre! Unterordnen muß man sich können! Organisieren muß man sich können! Das lernt man hier, das habe ich hier gelernt. Die anderen sind ja auch organisiert, die Faschisten marschieren in Reih und Glied, in Kolonnen fallen sie über uns her, und wir sollen uns einzeln wehren? So’n Quatsch. Ich habe das jetzt satt – so als interessanter Einzelgänger herum zu laufen. Ich trete in die Partei ein. Hoffentlich nehmen sie mich. Na, die nehmen mich schon …‹ Hans Schütte geht – zu den anderen. ›Verdammt nochmal – wenn es heute nur ein paar Zigaretten gäbe!‹ denkt er, während er den öden Hörsaal verläßt. Dort bleibt der Tote allein, mit Kikjou und mit dem Engel.

Etwas von dem weißen Licht des paradiesischen Boten fällt auf Marcels Stirn und Haar. Stirn und Haar glänzen auf; noch einmal schimmert es zwischen den schönen Bögen der Brauen; noch einmal scheinen diese Lippen sprechen oder lächeln, verführen oder klagen zu wollen. Da entfernt sich das Licht. Der Engel ist aufgestiegen: emporgeschnellt ist er wie ein Geschoß. Unbarmherzig führt er mit sich den Knaben – den Beter, den Sünder, den Verzauberten: Kikjou, le petit frère de Marcel; einsamer nun denn je – einsam, einsam, mit seinen Gebeten, seinen Verzückungen, seinen Zweifeln.

 

Hinauf in die Nacht, in den Äther, in die Sphäre, die ihm den Atem verschlägt … Darf Kikjou nun zurückkehren in seine Zelle, zu seinem Kruzifix, seinem schmalen Bett, seinem petit déjeuner, das unberührt auf dem Tischchen steht? – Einige Aufenthalte werden ihm noch zugemutet. Der Engel – dieses eigenwillige, ungeheuer geschwinde, majestätisch klirrende Vehikel – setzt ihn noch zweimal ab: Erst in einem engen Raum, wo es nach Schminke, Puder, staubigen Kostümen riecht. Es ist eine Theater- oder Kabarettgarderobe. Vor einem Spiegel sitzt eine Frau und frisiert sich: Marion – Kikjou erkennt sie, schon von hinten, an der Purpurmähne, die an seines Führers schaurig-schöne chevelure erinnert. Kikjou – unsichtbar und stumm – muß erleben, daß sein grausamer Engel mit tiefer, etwas brummender, beinah höhnischer Stimme ruft: »Marcel ist tot! Ins Herz getroffen! Tot!« – daß Marion auffährt, ihr entsetzensvolles Gesicht nach der Stimme wendet, niemanden findet, schreit, zur Türe stürzt, zum Spiegel zurückkehrt, ihr Gesicht in die Arme wirft und endlich weint. – Marcel ist tot. Ins Herz getroffen. Tot. Nun weiß es Marion. Sie zweifelt nicht: Diese Stimme hat die Wahrheit gesprochen; nur die Wahrheit kann so furchtbaren Klang haben. – Martin ist tot. Die kleine Tilly ist tot. Marcel ist tot: ins Herz getroffen. – Ins Herz getroffen schluchzt Marion vor dem Spiegel. ›Verlassen mich alle? Bleibe ich ganz allein? Warum muß gerade ich leben? Warum gerade ich? Warum muß ich die Überlebende sein?‹ – Und Kikjou darf sie nicht trösten, darf sich nicht von ihr trösten lassen; muß hilflos stehen, sprachlos, atemlos, blicklos, unsichtbar; muß wieder auf und davon, mörderisch gepackt von seinem heiligen Monstrum, geschüttelt und gerüttelt von seinem monstre sacré; in die Lüfte geworfen wie ein leichter Ball; emporgerissen, in die Nacht entführt – und nun ist es eine unbekannte Dame, in deren Salon er niedersteigen soll. Die Dame ist Madame Poiret, Marcels Mutter – die Verhaßte, »das alte Scheusal«, »die reaktionäre Hexe«, wie der Sohn von ihr zu sprechen pflegte. Er hat nicht Abschied von ihr genommen; durch Fremde hat sie erfahren müssen, daß ihr Sohn nach Spanien gefahren ist; daß er kämpft – Seite an Seite mit den Gottlosen, gegen die allein seligmachende Kirche. Ist dies schmerzlich gewesen für Madame Poiret? Niemand weiß es; niemand wird es je wissen. Sie sitzt starr und steif in ihrer halbdunklen Stube, zwischen Plüschportieren und verstaubten Palmen, vielen Nippes-Sachen, zahllosen Photographien. Über ihr hängt das Porträt des Monsieur Poiret, der einem Schlaganfall erlegen ist – sei es im Restaurant Larue, nach einem Diner mit Geschäftsfreunden, sei es im Bordell, Rue Chabanais, nach gar zu anstrengenden Amüsements – Madame weiß es wohl selber nicht mehr recht genau. Er ist tot; er hatte einen würdigen Spitzbart und im Knopfloch die Rosette der Légion d’honneur – alles dies sehr deutlich zu sehen auf dem Porträt, das über der Einsamen hängt. Sie sitzt unbeweglich, ohne Handarbeit, ohne Buch, und auf die Patience, vor ihr auf dem Tischchen, hat sie schon lang nicht geschaut. Eine alte Frau, voller Bosheit und Vorurteilen; aber durch die Einsamkeit gestraft: schrecklich gestraft durch ihr ganzes glückloses Leben.

»Marcel ist tot!« ruft der Engel, und Madame zuckt enerviert mit dem Kopf: Was ist denn das für ein Lärm? Ich habe mich wohl geirrt! Bin ich fiebrig, daß ich Stimmen höre? Ich muß Kamillentee trinken, Aspirin nehmen und zu Bette gehen … Der Engel aber wiederholt mit grausamer Hartnäckigkeit: »Marcel ist tot! Ins Herz getroffen! Tot! Tot! Tot!«

Nun darf Madame nicht mehr zweifeln: ihr Sohn ist tot, sie hat es endlich begriffen. Unter fremden Himmeln ist er hingerichtet worden und hat vorher nicht einmal Abschied von ihr genommen. Nicht umsonst hat Madame Poiret, eine gute Französin, seit eh und je eine so starke Aversion gegen das Ausland gehabt. Alles Internationale war ihr stets verhaßt. Hieß die Mörderbande, zu der ihr Sohn sich gemeldet hatte, nicht Internationale Brigade? Sie haben Kirchen verbrannt, Priester gefoltert, Gott gelästert. Die Strafe folgt auf dem Fuße. Eine Kugel kommt geflogen, der Heilige Geist selber hat sie geschickt. Ins Herz getroffen. Tot.

Ins Herz getroffen, tot. – ›Es ist mein Sohn, den sie getroffen haben!! Es gibt viele Söhne; dieser aber war mein. Ich habe ihn in Schmerzen geboren; als Kind hatte er Scharlach, ich habe ihn gepflegt. Er hat mich nie geliebt, ich habe ihn nie gekannt, er hat abscheuliche Dinge geschrieben, ich habe sie nie verstanden; Blasphemien kamen von seinen Lippen, die haben mich mehr gekränkt als alle schauerlichen Beleidigungen, die er sich ausdachte gegen mich – seine Mutter. Ich bin seine Mutter, er ist mein Sohn, ich habe nur ihn, sonst niemanden auf der Welt; ich hatte nur ihn, er ist tot, ins Herz getroffen, tot.‹

Welch ein Schauspiel für die beiden Unsichtbaren, für Kikjou und seinen Engel! Madame Poiret reckt klagend die Arme – es mutet seltsam an, wenn eine distinguierte, böse ältere Dame sich zu so ausschweifenden Gesten genötigt sieht. ›Mein Sohn! Mein Sohn! Er ist tot! Ich habe ihn geboren – er lebt nicht mehr! Er ist Fleisch von meinem Fleische, und lebt nicht mehr. Wie darf ich noch leben?‹ Eine halb groteske Mater Dolorosa – sonderbar geputzt in ihrem schwarzen Spitzenüberwurf – bricht sie vor dem Kamin zusammen, in dem nur ein künstliches Feuer brennt. ›Ich habe ihn geliebt!‹ jammert ihr Herz. ›Hat er mich denn wirklich gar nicht ausstehen können? Ach, im Grunde hing er wohl an mir! Nur seine deutschen, amerikanischen und jüdischen Freunde haben ihn mir vorübergehend entfremdet. Mein Leben war glücklos: Monsieur Poiret hat mich schlecht behandelt und ist im Bordell gestorben, jetzt kann ich es ja zugeben. Weil ich glücklos war, bin ich hart geworden. Marcel, Marcel – im Grunde mußtest du doch wissen, wie lieb ich dich hatte – nur dich, nur dich; denn du warst mein Sohn.‹

Bleibe allein mit deinem Schmerz, alte Frau! Die Krusten um dein Herz schmelzen, die harte Rinde weicht auf, du wirst weinen dürfen, der Schmerz macht dich besser, bleibe allein mit ihm! Drücke das kleine Kinderbild deines Sohnes an die Lippen – die einzige Photographie, die du von ihm besitzest. So hat Frau von Kammer geweint, als ein anderer Bote – um welchen freilich keine Flammenglorie wehte – ihr stockend ausrichtete: Tilly lebt nicht mehr. So hat Frau Korella geweint, im Krankenhaus, an Martins Sterbebett, und später, auf dem Friedhof, als die Schwalbe etwas taktlos wurde. So weinen die Mütter, so weinen die Menschen – Herr Jesus Christ, unser Erlöser, habe Erbarmen mit ihnen!

»Herr Jesus Christ, Erlöser, habe Erbarmen mit uns!« Kikjou betet, heimgekehrt von seiner entsetzlichen Fahrt. Der Engel hat ihn abgesetzt, hat ihn abgeworfen, ohne ein Wort des Abschiedes zu finden; ein Geruch nach Mandelblüten und überirdisch feinem Benzin ist zurückgeblieben in der mönchischen Zelle.