Klaus Mann - Das literarische Werk

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Kikjou dachte an die Gespräche von Martins Freunden in der »Schwalbe«.

Wie heftig sie sich bemühten, all diese Menschen, von denen einige Kikjou nie besonders sympathisch gewesen waren! Wenn man von außen, als ein Fremder, Unbeteiligter, in ihren Kreis trat, wirkte der ungeheure Ernst, die Aufgeregtheit, mit der sie ihre theoretischen Gespräche führten, fast etwas komisch. – ›Nein, nicht komisch‹ – Kikjou nahm innerlich diesen lieblosen Ausdruck gleich zurück – ›aber rührend wirkt ihr gespannter Eifer. Sie streiten sich darüber, welches Maß von Freiheit der Opposition zu gewähren sein wird, wenn »der Tag« erst da ist – welcher Tag? Nun, der Tag des Umsturzes, auf den sie warten; der Tag der großen Veränderung …

An den hat auch Martin geglaubt, von ganzem Herzen. Aber er war zu müde, zu hochmütig und zu traurig, um ihn abzuwarten. Er hatte es eilig, sich davonzumachen …

Für die anderen aber, für die, welche geduldig genug sind, auszuharren und wohl auch zu kämpfen – wird es wirklich ein so großartiger Tag sein, wenn er dann schließlich kommt? Wird er dann einen so schönen Trost, eine so herrliche Erlösung bringen?

Für den Augenblick scheinen diese Menschen gründlich ausgespielt zu haben; wie nach einem verlorenen Kampf liegen sie auf der Erde. Hilfe für sie scheint es jetzt nicht zu geben; von der Welt bekommen sie keine, und die Hilfe des Höchsten nehmen sie nicht in Anspruch. Sie beten nicht. Sie behaupten, nicht an Gott zu glauben … Wie schwer es sein muß, nicht an Gott zu glauben! Sein Dasein ist evident. Es zeugt die ganze Schöpfung für Seine gewaltige Existenz … Vielleicht ist Gott aber bei ihnen, obwohl sie sich darin gefallen, Ihn zu leugnen. Man weiß ja nie, wem Er gerade den Blick Seiner Gunst oder Seines Zornes zuwendet …

Sie erkundigen sich wohl spöttisch bei mir, wie mein lieber Gott eigentlich aussehe; ob er einen langen weißen Bart habe. Dann sitze ich da als der Dumme. Natürlich hat er keinen langen weißen Bart. Er ist ja furchtbar schwer zu beschreiben. Es ist schon heikel genug, jemandem eine unbekannte Person zu schildern und halbwegs anschaulich zu machen. Meistens kommt etwas total Falsches dabei heraus, wenn man das unternimmt. Jede Individualität ist tausendfach zusammengesetzt, ihr eigentliches Wesen ist mit Worten kaum anzudeuten. Und nun erst der liebe Gott! Er hat so ungeheuer viele Eigenschaften! Er hat unendlich zahlreiche Charakterzüge: alle Adjektive, alle beschreibenden Worte aller Idiome passen auf Ihn. Denn Er ist beladen mit allen Tugenden und Lastern, Schönheiten und Monstrositäten, allen reizenden, fürchterlichen, komischen und erhabenen Zügen, die wir uns irgend ausdenken können. Und wenn wir uns alle ausgedacht und zusammengestellt haben, dann ist es uns immer noch nicht gelungen, den ersten Schleier von den unendlich vielen Verhüllungen zu lüften, hinter denen Er Sein Angesicht verbirgt. Aber das mit den Schleiern ist natürlich auch wieder eine façon de parler und ein sprachlicher Notbehelf; denn Sein Gesicht ist nicht nur das verhüllteste, sondern auch das nackteste – und Er ist nicht nur der Geheimnisvollste, sondern auch der Klarste, Einfachste. Seine Existenz ist nicht nur das Mysterium aller Mysterien; es ist auch das Selbstverständlichste vom Selbstverständlichen. – Wie Gott ist? Was Gott ist? Wo Gott ist? Kindische Fragerei! Gott ist – da gibt es nichts zu beweisen oder zu untersuchen. Er ist der Ausgangspunkt und das Ziel; das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige. Alles, was wir tun oder lassen, tun oder lassen wir nach Seinem Plan. Auch die, die Ihn leugnen, streben auf Ihn zu. Andererseits gibt es viele, die Seinen Namen oft im Munde führen und Ihm doch ein Ärgernis sind. Es ist ja erstaunlich, daß überhaupt Dinge in der Schöpfung vorkommen dürfen, die Ihm zum Ärgernis werden, da Er doch mit Seiner Schöpfung identisch ist oder die Schöpfung einen Teil Seines Wesens ausmacht. Aber dies ist, höchst rätselhafterweise, eben doch möglich. Vielleicht haben wir es uns ungefähr so vorzustellen, daß Er, in solchen Fällen, Anstoß an eigenen Charakterzügen nimmt. Eine so enorm vielfältige und komplexe Individualität wie Gott hat natürlich auch grausame, selbstsüchtige, tückische und selbst ordinäre Züge – die Er in sich bekämpft …

Die ganze Frage, wie das Böse in die Schöpfung und besonders in den Menschen kommt, obwohl Gott doch sicherlich in Seiner eigenen Schöpfung steckt – diese Frage könnte uns ungeheuer weit führen. Keinesfalls dürfte es von Gott so gemeint sein, daß wir uns durch diese Frage ablenken sollten lassen von einem sehr notwendigen Kampf gegen das Böse.

Da haben wir das Wort: ablenken. Wir sollen uns durch Gott nicht ablenken lassen. Deshalb sind die »Schwalben«-Leute – und nicht nur die – so ungeheuer gegen Gott eingenommen, wollen nichts von Ihm hören und blinzeln sich höhnisch zu, wenn ich Seiner Erwähnung tue – weil sie alles, was mit Ihm zusammenhängt, für ein kolossales Ablenkungsmanöver halten – für eine Art von Trick der herrschenden Klasse, des ausbeuterischen Kapitalismus: »Religion – das Opium fürs Volk«. Ach, meine alte Streitigkeit mit Marcel – und Martin saß dabei, als ginge es ihn schon nichts mehr an …

Gott – ein Ablenkungsmanöver der Bourgeoisie. Wie dumm und peinlich das klingt! Wie falsch das ist! – Aber ist es nur falsch?

Ich begreife immer besser den Sinn von Marcels Warnungen und von den spöttischen Blicken der »Schwalben«-Leute.

Die heilige und lebendige Wahrheit, die Gotteswahrheit, kann mißbraucht werden. Sie ist mißbraucht worden. Eine Klasse, der nur an ihrem Geld und an der politischen Macht liegt – sicherlich nicht an Gott – bediente sich des Heiligsten Namens, um die Armen abzulenken von ihrem Zorn – dessen Ausbruch der Untergang dieser Privilegierten wäre. Vielleicht will aber Gott diesen Untergang.

Ich habe mich selber ablenken lassen.

Verzeih mir, lieber Gott, ich habe zuviel an Dich gedacht.

Ich habe mich mit Dir mehr beschäftigt, als es in Deinem Interesse liegt: nämlich im Interesse Deiner Schöpfung, in der das Böse wuchert.

Ich habe Deinen Namen zuviel im Munde geführt. Es steht aber geschrieben, daß wir ihn nicht mißbrauchen sollen. Verzeih mir. Während ich mich am schönen Klang Deines Namens berauschte, habe ich ein dummes, weichliches und verfehltes Leben geführt.

Es wird heute viel Unfug mit Deines Namens Majestät getrieben. Mir wird ganz heiß vor Zorn, wenn ich daran denke. Vielleicht ist es wirklich schon so weit gekommen, daß man Dich vor Deinen eigenen Priestern schützen muß – oder doch vor einigen von ihnen. – Kümmert es Dich viel, ob Dich die Menschen anerkennen? Du bist der Herrscher, der gerne auf Bezeugungen der Unterwürfigkeit verzichtet, wenn nur gehandelt wird im Sinn Deines Willens. Wenn nur gehandelt wird …

Ich will handeln.

So ehre ich auch am besten Martins Andenken. Er ist zu früh müde gewesen – auch dieses hast Du gewollt und so eingerichtet. Du hast ihn aus unserer Mitte entführt, wie der Zeus den Ganymed – mit furchtbaren und strahlenden Händen hast Du ihn zu Dir emporgerissen.

Lieber Gott‹, dachte der Liegende, dem nun endlich die Augen zufielen – denn seine Gedanken waren am Ziel – ›lieber, rätselhafter, schrecklicher Gott: ich will mich ungeheuer zusammennehmen, auf daß ich nicht ermatte und möglichst stark werde.

Habe ich Deinen Willen erraten? – Ach nein, wohl immer noch nicht. Wer kannte je Deinen Willen …? Ich erinnere mich eines frommen Wortes: »Wenn man durch Vernunft es fassen könnte, wie der Gott gnädig und gerecht sein könne, der soviel Zorn und Bosheit zeigt, wozu brauchte man dann den Glauben?«

Wahrlich, ich glaube an Dich.

Bitte, laß mich jetzt schlafen!‹

Walter Konradi war ein aktiver Antifaschist. Er stand in lebhafter Beziehung zu den Illegalen im Reiche und zu verschiedenen Zirkeln der politischen Emigration. Durch seine Freundschaft mit der armen Friederike Markus, genannt Frau Viola, war er nun mit dem Kreis der Schwalbe in Kontakt gekommen; besonders schloß er sich an Dora Proskauer an. Als er sich mit ihr verabredete, sprach er so leise, daß Frau Viola es nicht hören konnte. Er lud die Proskauer in ein Kino ein; spazierte auch mit ihr durch den Bois de Boulogne. Sie war erst etwas erschrocken, weil er ihr so intensiv den Hof machte. Schließlich glaubte sie ihm, daß er sie reizend fand. »Sie sind schön, Dora, schön von innen heraus …« flüsterte er ihr in den schrägen Nacken. Dergleichen hatte sie noch selten zu hören bekommen; umso angenehmer klang es ihr nun. Er war ein perfekter Don Juan – seine Stimme, sowohl kräftig als auch einschmeichelnd; seine Hände, wohl geübt in allen Zärtlichkeiten. Sie ließ sich küssen; er bog leidenschaftlich, aber gewandt, ihren Kopf nach hinten. »Du bist wundervoll – von innen heraus …« hauchte er ihr zu; seine Lippen glitten über ihre große, gebogene Nase. Er fragte sie: »Darf ich zu dir kommen – heut nacht?« Sie nickte selig. Er kam. Es fiel ihr auf, daß er nach Cognac roch – er hatte sich Mut angetrunken; sie vergaß es. Er liebte sie, es gab keinen Zweifel. Sie war nie geliebt worden. Sie hatte nie geglaubt, daß sie begehrenswert sei. Es war köstlich, in seinen Armen zu liegen. Er erzählte ihr aus dem Konzentrationslager. »Mein Süßer – was mußt du gelitten haben!« Und er gestand ihr: »Wie oft habe ich mich damals nach einer Frau, wie du es bist, gesehnt.« Sie war glücklich; er schien es auch zu sein. Ehe sie sich am Morgen trennten, erfuhr sie: er mußte nach Deutschland, »in geheimer Mission«. – »Aber das ist gefährlich!« Dora war entsetzt. Er versicherte: »Ich komme schon heil zurück.«

Ein paar Tage später war er wieder da; ein dicker Haufen illegaler Antinaziliteratur – in Deutschland gedruckte Flugblätter und Broschüren – bewies, daß er nicht untätig gewesen war und die richtigen Leute gesehen hatte. Er gab sich wieder ziemlich viel mit der Proskauer ab, schlief auch noch einmal mit ihr und ließ sich von ihr Details über ihre Arbeit für das Jüdische Hilfscomité erzählen. Sie berichtete gerne, weil er beeindruckt schien. Eigentlich war sie diskret; ihm aber vertraute sie, er hatte sie ganz gewonnen. »Es ist eine wunderbare Arbeit«, versicherte sie. »Ich bekomme Einblick in soviel menschliches Schicksal. Auch in Deutschland haben wir Freunde. Sie liefern uns Material über die Greuel der Judenverfolgungen, das wir in die französische Presse bringen.« Grade für diesen Punkt schien er sich besonders zu interessieren. Er küßte sie innig, gleichsam als Belohnung für ihre lobenswerte Gesprächigkeit. – Sie bekam ein weiches, dankbares Lächeln, als er ihr sagte: »Du bist eine herrliche Frau! Was du alles leistest! – Und doch – ich habe mir’s überlegt: es ist schade, daß du deine Kräfte ganz für diese humanitäre Organisation verwendest. Es gibt anderes zu tun …« Sie fragte gierig: »Was meinst du? Was hast du im Sinn?« – »Ach, laß nur!« Er winkte ab. Endlich aber rückte er heraus: Diesmal sollte Dora nach Deutschland fahren. »Ich kann es nicht mehr riskieren«, bedauerte er. »Schon diesmal bin ich verdammt aufgefallen; beinah wäre es mir an den Kragen gegangen.« Sie erschauerte bei der Idee. – »Dich kennt doch niemand«, meinte Walter Konradi. »Aber andererseits – gefährlich bleibt es natürlich immer. Ich weiß doch nicht, ob man dir soviel zumuten darf. Mindestens müßte ich erst mal mit meinen Genossen Rücksprache nehmen. Du hast nicht viel politische Erfahrung – wenngleich euer Comité nicht ohne politischen Charakter ist – und es handelt sich um enorm wichtige Dinge.« Sie zeigte sich etwas gekränkt. »Natürlich – wenn du mir nicht vertraust …« – »Ich kenne dich ja …« Er legte ihr den Arm um die Schulter. »Aber die Kameraden …« – »Was für Leute sind das?« wollte sie wissen – woraufhin er etwas verächtlich grinste: »Gute Leute – das kannst du mir glauben, mein Kind!« – Sie drang weiter in ihn; aber er blieb wortkarg; nahm ihr nur das Versprechen ab, mit keinem Menschen über seinen Vorschlag zu reden.

 

Am nächsten Abend fing er wieder davon an. Es sei ihm gelungen, die »Kameraden« von Doras Zuverlässigkeit und Tapferkeit zu überzeugen. Es handle sich um eine kurze Reise nach Köln: »eigentlich nur um ein einziges Gespräch mit einer bestimmten Person«, gab er ihr zu verstehen. »Es ist der Mann, der die illegale Arbeit im Rheinland leitet. Die Instruktionen für ihn müßtest du dir merken; Schriftliches bekommst du nicht mit.«

Dora war, alles in allem, von der Idee entzückt. Es lockte sie, sich vor Walter tapfer zu bewähren und ihr Leben aufs Spiel zu setzen für eine Sache, die ihm so wichtig schien. Übrigens empfand sie selber mit Begeisterung Ernst und Pathos eines solchen Unternehmens. Wie fast alle Menschen ihrer Generation war sie im Innersten besessen vom Bedürfnis nach dem Heroischen; von dem Drang, sich zu opfern. Die Arbeit im Jüdischen Comité genügte ihr längst nicht mehr. Sie wollte mehr leisten, mehr wagen – das Äußerste. Und nun kam dieses Angebot, aus geliebtem Munde. Es kamen Instruktionen, der falsche Paß, das verschwörerische Gebot, absolutes Schweigen zu bewahren. Sie war eine politische Dilettantin; außerdem war sie verliebt. Verliebt nicht nur in den schönen Mann – Walter Konradi, den aktiven Antifaschisten – sondern auch in das Abenteuer. Ihr Leben, bis zu diesem Tage, war langweilig gewesen. Die Begegnung mit Walter hatte es schöner gemacht; jetzt aber erhielt es Sinn und Würde durch die Verantwortung, die Gefahr.

»Die Verbindung mit der Opposition im Lande; der Kontakt zu den Illegalen« – die Proskauer wußte, wie bedeutungsvoll dies war. Alle Emigranten bewunderten »die Illegalen« und erzählten sich Anekdoten über ihre Listen, ihren Opfermut, ihre Ausdauer. Was leisteten nicht alles die Illegalen! Sie beeinflußten die Arbeiter in den deutschen Betrieben, durch Flugblätter oder Flüsterparolen; geheime Radiosender legten sie an, und auf den Straßen der deutschen Städte verkauften sie Grammophonplatten, die erst einen Marsch hören ließen: nach einigen Takten aber begann eine zornig bewegte Stimme zum Kampfe gegen Hitler aufzurufen. Dünne Heftchen mit bunten Bildern sahen aus, als wollten sie harmlose Reklame für Zahnpasta, Füllfederhalter, landwirtschaftliche Geräte oder Damenwäsche machen; in Wirklichkeit enthielten sie antifaschistische Manifeste, trockene Daten, die zeigten, wie unter den Nazis die Wirtschaft verkam, oder andere, die bewiesen, mit welch infernalischem Eifer zum Kriege gerüstet ward. Für die Verteilung einer Propagandaschrift, für den Sabotageakt in einer Fabrik oder in einer Kaserne riskierten die Illegalen ihr Leben. Dergleichen flößte Ehrfurcht ein, und es wurde zum Ehrgeiz der politischen Emigranten, diesen Helden – den über Deutschland verstreuten Märtyrern ihres Glaubens und ihres Hasses – behilflich zu sein, sie mit Material oder Geld zu versorgen.

Dora Proskauer nahm von den »Kameraden« – zwei düsteren Männern, vom Typ der nihilistischen Verschwörer aus dem zaristischen Rußland – Instruktionen, Reisegeld und falschen Paß entgegen. Walter Konradi begleitete sie zur Gare de l’Est. Er war ernst, wie es der Stunde entsprach; doch gab es in seinen Worten wie in seiner Miene eine Zuversicht, an der Dora sich stärkte. »Du wirst es schon schaffen!« sagte er immer wieder und drückte ihr im Taxi die Hand. Als er sie auf dem Bahnsteig küßte, kamen ihm plötzlich noch Zweifel. »Ich hätte es dir doch nicht zumuten sollen …« Die Proskauer stand mit schrägem Nacken, blickte sorgenvoll an der enormen Zacke ihrer Nase vorbei und sprach mit plätschernd sonorer Stimme. »Aber Walter – was andere gewagt haben, ist für mich nicht zuviel … Es ist furchtbar aufregend, Deutschland wiederzusehen … Die tapferen Illegalen … Unerhörtes Erlebnis … Ich zittere – spürst du es? – aber nicht aus Angst!« – »Tapferes Mädel!« Er konstatierte es innig, dabei forsch. Noch ein Kuß, dann mußte sie ins Abteil.

Die Proskauer kehrte nicht wieder. Ehe man in Paris erfuhr, daß sie verhaftet war, wurde, durch Berliner Freunde, bei der Schwalbe bekannt, daß der alte Herr Korella, Martins Vater, in einem Konzentrationslager saß. Gleich nach seiner Rückkehr hatten die Gestapobeamten ihn abgeholt. Frau Korella war in ein Krankenhaus überführt worden. »Man hat die beiden alten Leute denunziert«, berichteten die Berliner Freunde. »Sie sollen in Pariser Emigrantenkreisen kraß staatsfeindliche Reden mitangehört und sogar selbst geführt haben.« – Da begriffen alle: Auf dem Friedhof, als die Schwalbe an Martins Urne etwas unbeherrscht war, ist ein Spitzel unter uns gewesen. Sie ahnten, um wen es sich handeln mußte. Dieser Walter Konradi … den meisten war er gleich nicht sympathisch gewesen, nun betonten sie es. Theo Hummler stellte Nachforschungen an. Konradi war abgereist – »nach Belgien«, wie der Concierge seines Hotels versicherte. Bei der Schwalbe hatte man keine Zweifel mehr: »Von dort aus ist er weiter nach Berlin gefahren …«

Theo Hummler hatte seine Beziehungen im Reich. Er war es, dem die Nachricht zugetragen ward, daß die arme Proskauer – mit einer Naivität, einer Dummheit, die unglaublich schien – dem Spitzel und Agent provocateur auf den Leim gegangen war. An der deutschen Grenze war sie festgenommen worden; Name und Nummer des falschen Passes, auf den sie reiste, waren der Kontrolle bekannt. »Man wird ihr in Berlin den Hochverratsprozeß machen«, wußte Theo Hummler.

Bei der Schwalbe saßen sie wie versteinert. Ein paar Sekunden lang sagte niemand ein Wort; dann erschraken alle; denn die Schwalben-Mutter hatte furchtbar auf den Tisch geschlagen, und nun brüllte sie: »Dieser Hund! Dieser Hund!!« Ein anderes Wort schien ihr nicht einzufallen. Sie bekam keinen Atem mehr; ihr Gesicht wurde blau. Niemals hatte man sie je so gesehen. Ihre Faust fiel noch einmal, schwer wie ein Stück Eisen, auf die Tischplatte nieder. »Wann holt diese Hunde der Teufel?« fragte die alte Frau. Ihre Kapitänsaugen, mit denen sie drohend von unten schaute, waren blutunterlaufen.

Schließlich sagte das Meisje: »Ich verstehe das nicht … Ich kann so etwas nicht verstehen … Ein Spitzel – jemand, der von den Nazis doch wahrscheinlich ziemlich viel Geld bekommt – sollte größere Dinge zu tun haben, als ein paar arme Emigranten ins Unglück zu bringen. Militärische Geheimnisse, diplomatische Intrigen – so was müßte er herausbekommen. Was für ein Vergnügen kann es ihm machen, die arme Proskauer zugrunde zu richten?« – Ein anderer erklärte: »Solche Sachen macht er nebenbei, als Fleißaufgabe. Sicher wird er in Berlin besonders belobigt, wenn er nicht nur Pariser Staatsgeheimnisse mitbringt, sondern auch noch ein paar Emigranten ans Messer liefert. Außerdem weiß die Proskauer vielleicht Adressen von ein paar Sympathisierenden in Deutschland: die will man von ihr erpressen.« – Das Meisje blieb fassungslos. »Und die alten Korellas? Die waren doch an keinem Comité angestellt, wußten keine Geheimnisse, waren brave, reaktionäre Spießer …« Theo Hummler – mehr nachdenklich als empört: »Man gewöhnt sich nicht so leicht an den Gedanken, daß menschliche Wesen Dinge aus purer Gemeinheit tun – aus keinem anderen Grund. Gemeinheiten um eines Vorteils willen – das nimmt man ja schon fast als Selbstverständlichkeit hin. Die Gemeinheit um der Gemeinheit willen hat noch immer etwas Überraschendes …«

Sollte man sich mit der französischen Polizei in Verbindung setzen? Sicherlich; die Proskauer aber wurde dadurch keineswegs frei. – Wußte Friederike Markus, genannt Frau Viola, über die Machenschaften ihres Liebsten Bescheid? Man hielt dies für unwahrscheinlich; immerhin schien es ratsam, mit ihr Fühlung zu nehmen: um sie aufzuklären, wenn sie ahnungslos war; um sie unschädlich zu machen, sollte ihre Mitschuld an den Tag kommen.

Niemand zeigte Lust zu so delikater Visite; schließlich erklärte David Deutsch sich bereit. »Wenn es sein muß«, sagte er und verneigte sich schief, das Haar wie in ständigem Entsetzen gesträubt über dem wächsern zarten Gesicht. Eine Stunde später saß er bei Friederiken, die ein wunderliches Hauskostüm trug und ihn zunächst herzlich bat: »Nennen Sie mich Frau Viola! Ich bin es nicht anders gewöhnt, auch mein Gabriel nennt mich so.« – »Ihr Gabriel«, bemerkte David Deutsch – wobei er gequält die Schultern bewegte und ganz bucklig aussah vor Verlegenheit – »er ist abgereist.« Frau Viola schien es nicht zu begreifen – jedenfalls nicht zu realisieren, was es für sie bedeutete. »Ei, ei«, sagte sie nur und spielte sinnend mit den fahlen, steif gedrehten Löckchen über ihrer Stirn. David ergänzte: »Und so bald wird er wohl auch nicht wiederkommen. – Wußten Sie denn, daß er reisen wird?« – »Ich? – Wieso?« fragte Friederike. Und mit einem plötzlichen Flackern von Angst im Blick: »Er ist doch in Paris!«

Es dauerte lange, ehe die Ärmste alles verstand – und als sie verstanden hatte, wollte sie noch nicht glauben. »Ein Spitzel?!« Sie kicherte schrill. »Mein Gabriel, mein Süßer – ein Spion? – hihihi! Verzeihen Sie, daß ich mich amüsiere!« Sie barg den verzerrten Mund hinter der Hand, wie etwas Häßliches oder Obszönes. »Ein Spitzel! Das könnte Ihnen so passen, Herr Deutsch! Mein Gatte hat Sie wohl geschickt – er spinnt Intrigen, er bezahlt die Häscher, er finanziert ganze Bureaus, die mich und Gabriel auseinanderbringen sollen. Vor keinerlei Unkosten scheut er zurück, nun hat er also auch Sie bestochen. Pfui, Herr Deutsch, das hätte ich nicht von Ihnen erwartet!« Sie schüttelte tadelnd den Kopf, zeigte bittere Gekränktheit – bis ihr ein anderer Einfall kam, der sie eher heiter stimmte und ihr Mienenspiel neckisch machte. »Oder geht der ganze Scherz von Ihnen aus?« Sie blinzelte anzüglich, spitzte auch die Lippen, wie zum Pfeifen oder zum Küssen. »Herr Doktor – Sie Böser! Haben Sie es darauf abgesehen, Gabriels Nachfolger bei mir zu werden? Sind Sie in mich verliebt?«

Endlich glaubte sie es: ihr Gabriel war fort, und er würde nicht wiederkommen. Sollte er es aber wagen, noch einmal zu erscheinen, so mußte sie ihm ins Gesicht spucken; denn er hatte sie mißbraucht und betrogen, von Anfang an. Da warf sie die Arme gen Himmel und schrie.

Der Schreikrampf dauerte minutenlang. Sie stand mit hochgereckten Armen mitten im Zimmer, das fahle Madonnengesicht etwas schief gestellt, die Löckchen, steif und zierlich gedreht, hingen ihr in die Stirne, und aus dem Mund, der klagend offenstand, kam das Gellen. Für David Deutsch war es eine gräßliche Situation. Er sagte: »Aber gnädige Frau! Ich bitte Sie, liebste Frau Markus! So beruhigen Sie sich doch, Frau Viola!« Sie schrie noch ein wenig weiter, als läge ihr daran, zu beweisen, daß sie erst dann aufhören werde, Lärm zu machen, wenn es ihr gefiel – keinen Augenblick früher. David meinte schon, sie werde ewig weiter kreischen – und er werde immer dazu verurteilt sein, ihr zuzuhören – da schloß sie plötzlich den Mund. Schon war er im Begriff, erleichtert aufzuatmen – als Friederike erst recht schaurig wurde. Sie stolzierte, die Arme vor der Brust gekreuzt, gravitätisch-langsam im Zimmer auf und ab, wobei sie sich in einem gleichmäßigen Rhythmus unaufhörlich verneigte. In ihren Augen phosphoreszierte es grünlich; sie schüttelte die starren Löckchen, grinste und murmelte: »Herr Erzengel Gabriel – sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen! Jetzt erkenne ich Sie erst, mein Herr Erzengel: Sie sind ja der Teufel. Mes respects, Monsieur le Diable! Sehr geschmeichelt, Exzellenz Gottseibeiuns!« – Dazu Verneigungen und stolze Schritte.

 

›Sie ist endgültig wahnsinnig geworden.‹ David beobachtete an die Wand gepreßt, das makabre Schauspiel. ›Was soll ich tun? Ich muß einen Arzt kommen lassen. Aber sie darf doch keinen Augenblick allein im Zimmer bleiben … Kann ich in ihrer Gegenwart telefonieren? Vielleicht würde sie gar nichts merken. Vielleicht würde sie mißtrauisch werden und sich auf mich stürzen … Ich fürchte mich. Was für schlimme Lichter sie in den Augen hat! Wie sie selber satanisch wird, da sie sich vor dem Satan verneigt! Ich habe Angst. Das Böse ist stark – stärker, als wir es ahnten; furchtbar stark in unserer erschütterten Zeit … Wie komme ich von hier weg? Wenn sie nur aufhören wollte zu grinsen! – Oh, sie hat den Teufel im Leib!‹