Klaus Mann - Das literarische Werk

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Friederike Markus, die schon seit geraumer Weile in einen Zustand völliger Geistesabwesenheit versunken schien und, mit zugleich starrem und ruhelosem Blick, seltsam lächelnd ins Leere träumte, wollte sich hastig verabschieden; doch ihr sympathischer Kavalier – sportliche und vertrauenerweckend saloppe Figur im gegürteten hellen Regenmantel – bettelte schulbubenhaft: »Aber Viola! Sei doch nicht langweilig! Es tut dir so gut, einmal unter Leute zu kommen!« Woraufhin das abgestorbene Lächeln der Markus sich zärtlich belebte. »Wenn es dir Freude macht, Gabriel«, sagte sie, und ihr trostlos wandernder Blick blieb liebevoll an seinem hübschen, harten Gesicht hängen. – Frau Schwalbe, die Friederike flüchtig kannte und viel über sie gehört hatte, sagte besonders herzlich: »Das ist recht, daß Sie auch mal mit uns sein wollen, Frau Markus!« Auf ihre resolute Art machte sie sich selber mit Friederikes jungem Begleiter bekannt: »Ich bin Mutter Schwalbe.« Und er, korrekt sowohl als sonnig, ein Hackenzusammenschlagen mit eleganter Nachlässigkeit andeutend: »Walter Konradi mein Name.« – »Warum nennt Frau Markus Sie dann Gabriel?« wollte die Schwalbe wissen, die Unklarheiten nicht ausstehen konnte. Statt seiner antwortete Friederike, schwärmerisch und hastig: »Weil er für mich – nur für mich – Gabriel heißt!« – »Aha, ich verstehe«, lachte behaglich die Wirtin. »Und Sie heißen, nur für ihn, Viola.«

Genosse Konradi wurde auch mit den jungen Leuten bekannt; »sonderbar eigentlich, daß man sich noch nie begegnet ist«, bemerkte einer von ihnen. Konradi erzählte, daß er während der letzten Monate in der Schweiz gewesen sei. Übrigens war er allen sympathisch durch sein offenes, frisches und intelligentes Wesen, das, dem Ernst der Stunde entsprechend, gleichzeitig auf eine dezente Art beschattet schien. Nur der Proskauer fiel die erschreckende Härte seiner stahlblauen Augen unter den blonden, dicken Brauen auf. Sie tadelte sich aber selbst wegen des leichten Widerwillens, den sie spürte. ›Das sind unkontrollierte Affekte‹, sagte sie sich. ›Er ist sicher ein anständiger, brauchbarer Mensch.‹

In der Métro, auf der Fahrt vom Friedhof nach Montparnasse, berichtete er von seinen Abenteuern im Konzentrationslager. »Lustig war es auch manchmal!« Dabei hatte er ein trotziges kleines Auflachen, und was folgte, war eine umständliche Anekdote von der humoristischen Sorte, in der heimliches Zigarettenrauchen, die Dummheit eines SA-Führers und die schlauen Einfälle eines »jüdischen Kameraden« die Hauptrolle spielten. Jemand erkundigte sich, wann er denn ins KZ gekommen sei – worauf er munter erwiderte: »Na, doch natürlich schon im Frühling 33, ist ja Ehrensache. Mich haben die Hunde doch besonders auf dem Strich gehabt, wegen meiner Tätigkeit an den Universitäten. Hat denn keiner davon gehört, was ich da alles angestellt habe?« Jemand glaubte sich zu erinnern. Konradi kramte in seiner Brieftasche und holte Papiere hervor, die seine Einlieferung ins Konzentrationslager bestätigten. »Ein offizielles Abgangszeugnis habe ich nicht«, lachte er geheimnisvoll. Er sprach gedämpft und schickte ängstliche Blicke durch den Waggon. »Man weiß doch nie, wer einem gegenübersitzt«, raunte er, wobei er die Stahlaugen mißtrauisch zusammenkniff. »Hier in Paris wimmelt es ja von Spitzeln …«

Die Patronne des Hotels hatte das Ehepaar Korella und Monsieur David Deutsch selber nach oben geleitet. Es bedeutete einen heftigen und quälend-rührenden Eindruck für David, den Raum wiederzusehen, in dem er Martin so unzählige Male besucht hatte – das stattliche Atelier mit dem hübschen Blick aus dem großen Fenster; das komfortable Studio mit breitem Divan und eigenem Bad, das eigentlich immer über Martins Verhältnisse gewesen war und auf dem er so eigensinnig bestanden hatte.

Nun hielt sich Herr Korella über das »luxuriöse Appartement« auf, in dem sein Junge logiert hatte. »Wir sparen in Berlin mit jeder Briefmarke und jedem Trambahnbillet«, sagte der Vater gekränkt, »damit wir dem Jungen was schicken können – und er etabliert sich hier wie ein Millionär!« Dann kam Herr Korella wieder auf die hohen Begräbniskosten zurück, von denen er schon unterwegs ausführlich geredet hatte. Was ihn jedoch am allermeisten kränkte und erregte, das waren gewisse anstößige und mysteriöse Posten auf Martins Hotelrechnung. »Warum hat er denn so oft Löcher in die Bettbezüge gebrannt?« wollte Herr Korella erbittert wissen. »Immer wieder ist etwas für verbrannte Leintücher und Kissen zu bezahlen. Ich kann mir das gar nicht erklären; es sieht geradezu nach böser Absicht aus – als hätte es ihm Vergnügen gemacht, das gute weiße Zeug zu ruinieren – auf meine Kosten, natürlich!«

Für David war es ein fast körperlicher Schmerz, sich derlei anhören zu müssen. Alles an ihm zuckte; dabei gab er sich die größte Mühe, ein liebenswürdiges Gesicht zu machen. Das Lächeln aber, das er produzierte, ward immer verzerrter. Übrigens hatte er den besten Willen, innerlich nicht ungerecht gegen Martins Vater zu sein. ›Sicherlich gab es für den Alten Grund genug, sich Martins wegen Sorgen zu machen‹, dachte er. ›Martin verhielt sich dem Vater gegenüber oft merkwürdig brutal. »Der Alte ist reicher, als er zugibt; der Alte soll zahlen …« Vielleicht ist dieser Alte eher noch etwas ärmer, als er es gerne zeigen möchte …‹

Inzwischen war Herr Korella in eine Art von nervös-schimpfendem Lamentieren geraten. »Der Junge wußte eben überhaupt nicht, was das bedeutet: Geld!« rief er weinerlich. »Diese ganze sogenannte Emigration war doch nur ein ungeheurer Luxus, und ich mußte ihn zahlen! Der Junge hatte ja immer schon die fixe Idee, daß er nur in Paris leben könne – wie oft mußte ich ihm diese verrückte Bitte abschlagen: ihn nach Paris übersiedeln zu lassen! Nun, und dann kam Hitler, und unser Martin hatte endlich seinen Vorwand, zu behaupten, es sei in Deutschland nicht mehr auszuhalten! Andere haben es auch ausgehalten!« rief der Vater mit bitterer Miene. »Aber unser Martin tat sich ja immer soviel auf seine Sensibilität zugute – diese elegante Empfindsamkeit auf meine Kosten!« Herr Korella hatte sich sehr in Zorn geredet; das Weiße seiner Augäpfel färbte sich rötlich.

Hier war es die verweinte Frau Hedwig, die eingriff. Sie nahm all ihren Mut zusammen, um auszurufen: »Aber Felix! Vergiß doch nicht, wo wir sind! Hast du denn kein fühlendes Herz im Leibe?«

Der Alte, halb noch ärgerlich, halb schon beschämt und besänftigt, murrte: »Der Junge mußte ja seinen Willen immer durchsetzen. Du wirst wohl selbst zugeben, liebe Hedwig, daß es besser für ihn gewesen wäre, wenn man ihm diese sogenannte Emigration einfach verboten hätte wie einen dummen Streich.«

David, der vor qualvoller Verlegenheit völlig schief wurde – die rechte Schulter schien nach oben zu wachsen, während die linke melancholisch herabsank – schlug zitternd vor: »Es scheint mir ratsam, die Durchsicht der Papiere in Angriff zu nehmen.«

Die Schreibtischlade war nicht zugesperrt. Der Vater öffnete sie; Frau Korella griff gierig nach dem Blatt, das zuoberst lag. Aber der Gatte nahm es ihr aus der Hand. »Laß mich, bitte!« bat er streng, wobei er sich schon die Brille aufsetzte. »Ein Gedicht«, stellte er fest, beinah triumphierend, als hätte er überraschend einen kleinen Schatz entdeckt. »Es ist betitelt Sterbestunde«, sagte er, etwas mißbilligend. Dann versuchte er, die Strophen zu deklamieren, die David so gut kannte und so innig liebte.

›Wunderlich‹, dachte David Deutsch, ›sehr, sehr wunderlich, daß dieser fremde Herr mit der Brille, dort am Tisch, Martins Vater sein soll. Wie jämmerlich schlecht er die Verse liest – er hat nicht die entfernteste Ahnung, was sie bedeuten. Er hat keine Ahnung … Was weiß er von seinem Sohn? Und was wußte Martin von ihm? Er wäre so leicht zu gewinnen gewesen, dieser arme Vater. Aber was lag Martin daran? Er war hochmütig. Wieviel Mißverständnisse! Wieviel Traurigkeiten!‹

Plötzlich ließ Frau Korella einen leisen Schrei hören. Sie hatte auf dem Nachttisch Martins Injektionsspritze entdeckt. Das Instrument sah verwahrlost aus. Das kleine Messingetui blitzte nicht mehr, sondern hatte häßliche grüne Flecken angesetzt. »Was ist das?« fragte Herr Korella mißtrauisch, mit gerunzelter Stirne, während er, die Papiere in der Hand, herbeitrat. Aber Frau Hedwig schluchzte nur: »O Gott … mein Gott …«

Das alte Ehepaar und David Deutsch standen nun dicht nebeneinander. Ihre betrübten Stirnen berührten sich fast über dem rostigen kleinen Gegenstand, dem ihr lieber Martin soviel Trost und Wonne zu verdanken hatte, auch soviel Qualen, und schließlich, nach allen Entzückungen, allen Martern, den Untergang.

Als die kleine Trauergesellschaft – Frau Schwalbe mit ihren Stammgästen, samt Kikjou, Friederike Markus und Walter Konradi – im Lokal eintraf, fand sie dort schon eine andere Gruppe vor: etwa fünf oder sechs Menschen, lauter Deutsche, die sich im Kreis um einen jungen Holländer gruppiert hatten. Sie kannten ihn alle, er hatte ein paar gute Bücher geschrieben; aber seit einigen Monaten schrieb er nicht mehr, sondern kämpfte an der spanischen Front. Vor ein paar Tagen war er im Flugzeug, über Barcelona, in Paris angekommen. Es schien, daß er einen politischen Auftrag hier zu erledigen hatte, den streng geheimzuhalten er verpflichtet war. Gleich am ersten Tage seines kurzen Pariser Aufenthaltes war er hierher gekommen, um Grüße auszurichten von deutschen Freunden, mit denen er dort unten zusammen gewesen war. Alle lauschten andächtig, wenn dieser junge Holländer sprach. Um sein Haupt gab es etwas wie eine Gloriole; er würde ja schon morgen oder übermorgen an die Front zurückkehren, wo sich so Großes entschied. Übrigens war der junge Mann, seit etlichen Tagen, streng und juristisch betrachtet, eigentlich gar kein Holländer mehr. Er hatte seine Zugehörigkeit zum Niederländischen Staatsverband verloren; er war »ausgebürgert«: so geschah es, nach dem Gesetze der holländischen Monarchie, jedem, der sich der Armee einer fremden Macht zur Verfügung stellt. Er war ein Vaterlandsloser, ein »Sans-Patrie«, wie auch jene, an die er sich nun so enthusiastisch wendete.

 

»Wenn wir da unten siegen!« rief er gerade aus, als die Gesellschaft vom Friedhof das Lokal betrat. »Wenn wir mit der Bande erst fertig geworden sind – das gibt ein Fest!! Ganz Madrid wird tanzen – was sage ich: ganz Spanien wird in einen Freudentaumel fallen – und die Spanier können sich freuen, die verstehen es!! Da wird es Blumen regnen, und Wein wird in Strömen da sein, und überall Blumen … Überall Blumen«, wiederholte er und schaute vor sich hin auf das beschmutzte Holz der Tischplatte, mit einem Blick, als sähe er all die Blüten, mit denen die Straßen und Plätze von Madrid sich schmücken würden – »wenn wir da unten gesiegt haben.«

Auf den ersten Blick sah er aus wie ein flämischer Bauernbursche, mit seinem langen, starkknochigen, kräftig gebräunten Gesicht, dessen untere Hälfte von dicken Bartstoppeln bedeckt war und über dem das dichte, dunkle Haar recht verwildert stand. Erst beim genaueren Hinschauen war festzustellen, daß dies Antlitz doch nicht dem eines gewöhnlichen Burschen vom Lande glich; es gab in ihm jene Zeichen und Male, die nur der Geist einem Menschengesicht aufprägt. Die tief eingeschnittenen Furchen, die von den Nasenflügeln zu den Winkeln eines breiten, sinnlichen Mundes laufen, verraten, daß dieser Mann älter ist, als er zunächst erscheint. Auch über die Stirn sind Falten gezogen, die eine lange Geschichte, die große Chronik vieler Abenteuer erzählen möchten.

Sein Enthusiasmus hatte angesteckt: alle lachten, da seine beinah frevlerische Siegesgewißheit den Festesglanz der Stadt Madrid beschwor. Die Gesichter wurden aber ernst beim Eintritt der Schwalben-Mutter und der jungen Leute. Man wußte, von welchem Ort und von welch melancholischer Veranstaltung sie kamen. Es gab herzliches Händeschütteln; bewegte Blicke wurden getauscht. Mutter Schwalbe machte den jungen Holländer mit Kikjou, der Markus und Walter Konradi bekannt. Dann band sie sich eine große weiße Schürze um und verschwand in der Küche. Sie wollte etwas Anständiges kochen – wie sie vielversprechend versicherte. »Und heute soll es nichts kosten!« – Sie hatte schon wieder die unvermeidliche Zigarre zwischen den Zähnen. Mutter Schwalbe kochte meistens mit der Zigarre im Mund.

Der junge Holländer – in dessen sehr lebhaftem und geschwind vorgetragenem Deutsch der niederländische Akzent kaum spürbar war – erzählte schon wieder von Spanien. Sein Publikum hatte sich vergrößert; die Gruppe, die gerade vom Friedhof kam, lauschte ihm mit derselben gespannten Anteilnahme wie die anderen, die schon vorher im Lokal gewesen waren. »Es gibt ja soviel Wunderbares von da unten zu berichten!« Der Bursche, in seiner rauhen Lederjacke, hatte Haltung und Mimik des Seefahrers, der, aus weit entfernten Ländern zurückkommend, den Daheimgebliebenen, die Mund und Augen aufsperren, von den wilden, schönen Abenteuern meldet, die hinter ihm liegen. – »Ich habe soviel echtes Heldentum gesehen, bei den spanischen Kameraden und bei denen von den Internationalen Brigaden! Ich bin Zeuge von soviel rührenden, einfachen und großen Taten gewesen, daß ich jetzt nie mehr ganz am Menschen verzweifeln kann, was auch immer geschehe. – Was auch immer geschehe!« wiederholte der junge Holländer, wobei er mit der Faust beinah zornig auf den Tisch schlug – und es leuchteten ihm die Augen. – »Da war zum Beispiel dieser Bursche aus Valencia – achtzehn Jahre war er alt, fast noch ein Kind – der in der Ciudad Universitaria einen verwundeten französischen Kameraden aus dem dichtesten Feuer holte. Er wurde selber ziemlich arg dabei zugerichtet, und als er, den halbtoten Franzosen in den Armen, keuchend auf dem Verbandsplatz ankam, brach er zusammen. Ein paar Leute eilten ihm zu Hilfe – und ich sehe noch, wie der Junge lächelte, als er hervorbrachte: ›Blessure, nada. Frère français sauvé.‹«

Der junge Holländer schaute sich strahlend im Kreise um. Alle schienen gerührt und begeistert. Nur das »Meisje« – die schöne Blonde mit dem Gesicht eines militanten Erzengels – schüttelte ein wenig den Kopf, während sie leise, mehr zu sich selber als zu den anderen, sagte: »Es kommt mir oft sonderbar vor … Ich erinnere mich doch noch ganz genau, wie bei uns zu Hause ähnliche Geschichten erzählt worden sind, während des Weltkrieges. Mein Vater und alle Erwachsenen fanden sie wunderbar, und auch wir sollten begeistert sein. Aber wir lernten diese Geschichten hassen, als wir anfingen, selbständig denken zu können. Denn wir lernten den Krieg hassen. Revolutionär wurden wir gerade aus Abscheu vorm Krieg …« Die Blonde verstummte nachdenklich.

»Aus Abscheu vorm imperialistischen Krieg!« rief ihr jemand vom anderen Ende des Tisches zu. »Diesmal handelt es sich um den großen Befreiungskampf, um die heroische Abwehr des faschistischen Überfalls …«

»Das weiß ich doch selber«, sagte das Meisje, dessen schönes, sinnend in die Hand gestütztes Gesicht plötzlich müde aussah. »Du brauchst hier nicht zu reden wie in einem Massenmeeting … Aber sonderbar ist es doch«, schloß sie, nach einer Pause, mit sanfter Hartnäckigkeit. »Unter neuen Voraussetzungen müssen wir plötzlich alles herrlich finden, was wir damals, 1917 und 1918, grauenhaft gefunden haben …«

Der junge Holländer – der die Betrachtung des Mädchens gar nicht gehört hatte oder nicht hatte hören wollen – war schon bei neuen heroischen Anekdoten. »Aller Enthusiasmus ist auf unserer Seite«, erklärte er. »Die besseren Menschen sind auf unserer Seite. Wenn diese Rebellen nicht von Deutschland und Italien offen gestützt würden, wären sie längst schon fertig. Und wir werden sie fertigmachen, trotz all den Flugzeugen und Bomben und all dem vielen Geld, das sie bekommen.«

Man sprach weiter über die Sieges-Chancen. Die meisten in der Runde äußerten sich optimistisch. Einige ließen auch Befürchtungen hören. Plötzlich sagte die Proskauer, mit ihrer sonor murmelnden Stimme: »Und Martin soll also nicht mehr erfahren, wie dieser große Kampf ausgehen wird … Es ist so schwer, sich daran zu gewöhnen …«

Alle schwiegen. Kikjou, der stumm und ein wenig zitternd, als friere er, in eine Ecke gekauert saß, legte die kindlichen, mageren Hände vor sein weißes Gesicht. Walter Konradi räusperte sich respektvoll, als wollte er ausdrücken: Ein Gesinnungsgenosse, viel zu früh verschieden, hier im Kreise allgemein beliebt gewesen, gewiß sehr traurig, sehr bedauerlich, drücke werten Hinterbliebenen meine Teilnahme aus …

In diesem Augenblick brachte Mutter Schwalbe das Essen. »Sprecht ihr schon wieder von Deutschland?« fragte sie und präsentierte die große Platte mit den Koteletts und den grünen Bohnen. Sie lächelte nachsichtig, als hätte sie ihre Kinder bei einer harmlosen Marotte, einem oft verwehrten, wenngleich keineswegs bösartigen oder gefährlichen Unfug ertappt. Dabei gab es keinen Gegenstand, über den die brave Frau ihrerseits derartig viel zu reden und zu klagen, zu grübeln und zu lamentieren, zu jubeln und zu schelten wußte wie über diesen. »Wir haben über Spanien geredet«, versetzte jemand am Tisch. »Aber das hat auch mit Deutschland zu tun.«

Sie aßen, die meisten von ihnen mit einem heftigen Appetit; nur Kikjou rührte nichts an, und Frau Markus verschlang zwar mit nervöser Gier ein paar Bissen, schob dann aber den Teller von sich, wobei sie angewidert den Mund verzog. Sie aßen, und während sie Kartoffeln, Gemüse und gebratenes Fleisch zum Munde führten – längst nicht täglich gab es solchen Schmaus, und dieser war obendrein gratis – während sie sich also genußvoll sättigten, kreisten ihre Reden um die Heimat. Alle durcheinander äußerten sie ihre Hoffnungen und Befürchtungen, ihre Gefühle, Berechnungen und Forderungen, die Gegenwart wie die Zukunft betreffend. Jeder hatte etwas Besonderes beizusteuern zu dem ewig erregenden, höchst komplexen Thema. Dem einen waren gerade gestern sehr bedeutsame Mitteilungen über die Stimmung bei den Industriearbeitern im Ruhrgebiet zugekommen; der andere hatte die Cousine eines Diplomaten getroffen, der seinerseits den französischen Botschafter in Berlin kannte und diesen eingeweihten Herrn unlängst ausführlich gesprochen hatte. »Eines steht fest«, wurde behauptet, »die Unzufriedenheit nimmt überall zu, besonders bei den Arbeitern, auf die es schließlich ankommt.« – »Beinah Hungersnot, mitten im Frieden!« ließ ein anderer sich hören. »Auf die Dauer kann keine Regierung das aushalten.« Und ein Dritter: »Die ganze Schweinerei ist innerlich morsch, unterhöhlt, reif zum Sturz – da kann keine Frage sein. Aber niemand weiß, was nachfolgen soll. Den Nazis ist es gelungen, den Deutschen und der ganzen Welt einzureden, daß nach Hitler ›das Chaos‹ hereinbrechen wird.« Bei dem Wort »Chaos« wurde allgemein gelacht. Nur Friederike und Kikjou, eingesponnen in eigene und andere Gedanken, waren es, die ernst blieben. Die Schwalben-Mutter, die sich zu ihren Gästen gesetzt hatte, rief – nun schon ganz bei der Sache, enthusiasmiert wie je: »Freilich, das Entscheidende ist: daß die aktive Opposition es ganz genau weiß und unzweideutig formuliert – was nachher kommen soll!«

Der junge Holländer, der aß, wie ein Knecht nach der Arbeit eines langen Tages zu Abend ißt, nickte leidenschaftlich. Alle bewegten mit ihm die Köpfe. Sogar Friederike und der kleine Kikjou schienen plötzlich beteiligt. Kikjou ließ die vielfarbigen Augen gleichsam flehend von einem zum anderen wandern, als erbäte er Auskunft: Sagt es mir, was nachher kommen soll!

Hier war es, das große Problem, die dringlichste Frage, mit der ihre Gedanken und ihr Herz so tief beschäftigt waren. Was soll kommen nach dem Sturz des verhaßten Regimes? Wie wollen wir Deutschland?

Da saßen sie, in ihrem etwas schmutzigen kleinen Lokal; mitten in dieser großen, mit allen Reizen reich begnadeten Stadt – und doch weiter von Paris entfernt als vom Monde. Denn für sie war Paris versunken, ins Nichts gestürzt, samt seinen Avenuen und Quais, den Boulevards, Brunnen, Kirchen und Palästen. Was ging all diese Schönheit sie an? Sie wußten beinah nichts von den fremden Lieblichkeiten. Sie saßen in ihrer Kneipe, nahe der Gare de Montparnasse, dem »Café du Dôme«; nicht weit entfernt vom Jardin du Luxembourg, dem Panthéon, dem Dôme des Invalides – unbeteiligt am belebten Treiben auf diesen Bahnhöfen, diesen Straßen, und übrigens ziemlich unwissend in der Historie dieser Baulichkeiten, in denen Frankreichs Ruhm sich versammelt. Um sie hätten auch die Wolkenkratzer von New York sich in den Himmel heben oder eine südliche Landschaft sich freundlich breiten können: diese Menschen würden immer die gleichen Gedanken im Kopfe haben und immer denselben faszinierten, verzauberten Blick auf die Eine Frage, das Eine Thema:

Wie wollen wir Deutschland?

Und wie erreichen wir, daß es so wird, wie wir es wollen?

»O Deutschland, bleiche Mutter …« hatte einer ihrer Dichter geklagt.

O Deutschland, bleiche Mutter …

Alle hier im Kreise wollen die große Veränderung der sozialen Struktur, der Besitzverhältnisse – da gibt es kaum eine Meinungsverschiedenheit. Aufteilung des Großgrundbesitzes, Sozialisierung der Schwerindustrie – es muß kommen, so rufen sie sich zu, es kann nicht ausbleiben, da es notwendig ist. Übrigens wird mit einem bösen und ironischen Triumph festgestellt, daß die Nazis selber, durch die kriegswirtschaftliche Staatskontrolle der Produktion, den Sozialismus, gegen ihren eigenen Willen, vorbereiten. »Wenn wir heimkehren«, erklärt einer von ihnen, »werden wir manches schon fast in unserem Sinne eingerichtet finden. Man wird nur gleichsam die Vorzeichen umkehren müssen, damit die Sache stimmt und ins richtige Geleise kommt.«

Es wird Gewalt nötig sein, da ist gar keine Frage. Die jetzt so schamlos herrschende Schicht tritt keineswegs freiwillig ab; man darf Blutvergießen nicht scheuen. »Ihr werdet ein paar Dutzend an die Wand stellen müssen!« Der junge Holländer ruft es aus, es klingt wie ein Kriegsschrei. »Oder ein paar hundert!« korrigiert ihn ein anderer. »Ich könnte dir leicht ein paar hundert aufzählen, die weg müssen.« Sanft wird es keinesfalls zugehen können, wenn die Schuldbeladenen zur Hölle geschickt werden – wo sie hingehören. Keiner in diesem Kreise verlangt oder hofft, daß man Sanftheit walten lasse.

Und wenn die großen Mörder erst abgetreten und weggefegt sind – die regierenden Kriminellen, die man heute so machtlos haßt: wird dann die »Freiheit« zu etablieren sein oder eine neue Diktatur – die Diktatur der revolutionären Sieger? Ein junger Mensch, der den Kommunisten immer ferngestanden hat, aber heute für die politische Zusammenarbeit mit ihnen ist, fragt einen anderen, der seinerseits seit Jahren zur »Partei« gehört: »Ihr erklärt jetzt, daß es die Demokratie ist, für die ihr kämpft. Wollt ihr sie wirklich? In Manifesten setzt ihr euch ein für die Pressefreiheit. Werdet ihr sie dulden?« Statt des jungen Kommunisten, der noch bedenkt, was er zu antworten hat, rief das Meisje: »Werden wir sie ganz dulden können? Soll der neue Staat sich wieder begeifern und beschimpfen lassen, wie die Weimarer Republik höchst unseliger Weise dies geduldet hat? Unsere neue, echte Demokratie muß vor allem eine Eigenschaft haben, die der vorigen, falschen fehlte: Selbsterhaltungstrieb. Ihren geschworenen Feinden muß sie zeigen und beweisen, daß sie ausgespielt haben. Es wird in Deutschland immer geschworene Feinde der Demokratie geben.«

 

Der erste: »Eine Demokratie, die irgend jemandem das Wort verbietet, ihn in seiner Meinungs- und Redefreiheit beschränkt, verdient den Namen nicht mehr, den sie sich selber gibt.«

Und das Mädchen: »Eine autoritative Demokratie muß möglich sein. Die Demokratie, die nicht mehr mit sich spaßen läßt, bedeutet noch nicht den ›totalen Staat‹, noch nicht die Diktatur.«

Andere vertreten mit Emphase die Meinung: Für eine Periode des Übergangs sei die Diktatur unvermeidlich. Die reaktionären, selbstsüchtigen, dem sozialen Fortschritt feindlich gesinnten Kräfte würden jede Freiheit ausnutzen, mißbrauchen in ihrem Interesse – was bedeutet: zum Schaden der Allgemeinheit.

Es ist der junge Kommunist, der erklärt: »Das deutsche Volk wird selber zu entscheiden haben über die Regierungsform, die es sich geben will, wenn die Tyrannen endlich abgetreten sind. Es ist nicht anzunehmen, daß dann noch viel Sympathien und Stimmen da sein werden für die Mächte, Gruppen und Personen, die jetzt das Land zur Katastrophe treiben. Wir müssen darauf vertrauen, daß die Deutschen, nach den fürchterlichen Erfahrungen, durch die sie jetzt gehen, mehr politischen Instinkt haben werden als 1918 … Wir brauchen und wollen die Demokratie – und sei es nur als ein Übergangsstadium. Unter Demokratie verstehen wir aber: die Zusammenarbeit aller antifaschistischen Kräfte. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen muß antifaschistisch sein, wenn unser Tag da ist.«

Großes, wirres, tief erregtes Gespräch. Die Begriffe fliegen durcheinander, sie kreuzen sich in der Luft, die mit dem Zigarettenrauch und dem Geruch der Mahlzeit gesättigt ist. Der Wert der Freiheit wird diskutiert und die Planwirtschaft; der Begriff der Nation, der Klassenkampf, die Stellung der Kirche. Wird ein Krieg nötig sein, damit das Regime stürze? Und wie werden die verschiedenen Mächte sich verhalten im Falle des Krieges? Was erwartet man von den Vereinigten Staaten? Was geht in London vor? Und was wird aus Österreich …? Die Mienen röten sich, auf den Tisch schlagen Fäuste. – Wie wollen wir Deutschland …?

Fragen ohne Ende; prinzipielle Probleme oder solche der Taktik – und an jedem scheint das ganze Schicksal dieses Dutzends von Menschen zu hängen. Übrigens ereifern sie sich, aber sie streiten nicht eigentlich. Einmal läßt jemand einen bösen, gereizten Ton hören: »Was du da zum besten gibst, ist kleinbürgerlicher Idealismus, jeder marxistisch geschulte Arbeiter lacht dir ins Gesicht, wenn du ihm mit so was kommst …« Aber ein anderer mischt sich versöhnlich ein: »Zankt euch nicht, haltet Frieden! Hat es denn Sinn, jetzt über Probleme, die noch nicht aktuell sind, aneinanderzugeraten? Erst müssen wir siegen!« Es ist der junge Walter Konradi, der so vorzüglichen Ratschlag erteilt. Alle schauen ihn an: Freilich, der Mann hat recht. Nur hat leider seine Stimme etwas ölig geklungen. Auch der scheinheilig sanfte und kluge Ausdruck seiner Miene wirkt plötzlich auf alle unangenehm. Man will sich aber den fatalen Eindruck nicht zugeben und versucht, möglichst schnell darüber hinwegzukommen.

Jemand erkundigt sich: »Wo ist denn der kleine Kikjou?« Während der Debatte über die Einheitsfront und den Begriff der Freiheit ist er weggegangen – so leise, daß niemand es gemerkt hat, außer Friederike Markus. Diese berichtet es nun, mit ihrer schrillen und geborstenen Stimme, die den Klang einer schwer lädierten alten Türglocke hat.

Kikjou irrte durch die Straßen, stundenlang. Alle Wege wollte er wieder gehen, die er mit Martin je gegangen war. Boulevard Montparnasse, Jardin du Luxembourg, Boulevard St.-Germain, Boulevard St.-Michel, und die Seine entlang, und über die Place de la Concorde, und die Grands Boulevards hinunter, und zurück, und wieder über die Place de la Concorde, und die große Strecke der Champs-Élysées: da war er schon am Zusammenbrechen. Nun mußte er eigentlich noch nach Montmartre. Aber das schaffte er nicht mehr. Und würde er denn Martin auf dem Boulevard de Clichy, auf der Place Blanche begegnen, da er ihn an all den anderen Orten vergeblich gesucht hatte? Il n’est nulle part … il n’est nulle part …

Am Arc de Triomphe nahm sich Kikjou ein Taxi. Er wollte in dem Hotel übernachten, wo er mit Martin so viele Monate logiert hatte – so viele strahlende, finstere, unendlich bittere, unsagbar schöne Wochen lang …

Er mußte weinen, als er die Rue Jacob wiedersah – enge, dunkle Rue Jacob. Und da war die kleine »Bar Tabac«, wo man die teuren Camel-Zigaretten gekauft und, zu unpassenden Tageszeiten, den Apéritif genommen hatte. Es ist ein Uhr morgens. Kikjou ist so müde, daß er sich kaum aufrecht halten kann. Ihm schwindelt, und die Fußsohlen brennen ihm. Er hat geklingelt und wartet darauf, daß die Haustüre aufspringt. – ›Wie oft bin ich neben Martin durch diese Türe gegangen … Il n’est nulle part …‹

Die Patronne öffnet; sie scheint erstaunt, Monsieur Kikjou zu sehen. Gewiß, ein Zimmer ist frei, ob Monsieur kein Gepäck habe? Nein, Monsieur hat überhaupt nichts, keine Zahnbürste, kein Hemd, kein Stück Seife; er hat vergessen, wo er seinen Handkoffer gelassen hat, vielleicht auf dem Bahnhof. – Die Eltern des armen Monsieur Korella sind auch im Hotel, weiß die Patronne zu berichten. Ja, sie haben die Hotelrechnung für den armen jungen Herrn bezahlt – sehr liebenswürdige und korrekte Herrschaften! Und nach der Beerdigung, bis spät in die Nacht hinein, haben sie die Sachen und Papiere des Verblichenen aufgeräumt. Quelle histoire! Wer hätte das gedacht! Monsieur Martin war doch noch so jung! – Ob Monsieur Kikjou auf der Beerdigung war? Sie, die Patronne, hatte die feste Absicht gehabt, hinzugehen, schon um den Eltern, die sich so korrekt in finanziellen Dingen benahmen, ihren Respekt zu beweisen. Aber dieses Wetter! – und sie war erkältet; gerade auf Beerdigungen konnte man sich so leicht den Tod holen.

Kikjou nickte gequält. Danke, er hatte nun keine Wünsche mehr. Es war ziemlich kalt im Zimmer, aber das ließ sich nicht ändern. Er überlegte, ob er den Versuch machen sollte, Martins Eltern noch ein paar Minuten zu sehen und sich von ihnen zu verabschieden. Aber wahrscheinlich schliefen die schon. Übrigens erinnerte er sich auch der eisigen Blicke, mit denen Herr Korella an ihm vorbeigesehen hatte.

Er sank angezogen aufs Bett. Ob Martins Eltern im Zimmer ihres Sohnes wohnten – ›In unserem Atelier … Ich will jedenfalls morgen früh gleich hinaufgehen‹, beschloß er. ›Wahrscheinlich sind auch noch irgendwelche Sachen von mir dort …‹