Klaus Mann - Das literarische Werk

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Stand das schöne alte Haus der Großtante noch? Die alte Dame war wohl schon lange tot …

Von der Diele führte eine Freitreppe mit reich geschnitztem braunem Mahagonigeländer zum ersten Stockwerk hinauf. Etwa auf der Mitte der Treppe gab es einen kleinen Erker oder Balkon, von dem aus man auf die Diele mit ihren Teppichen, Gobelins und bunten Majolikakrügen schauen konnte, wie in eine dämmrige, mit freundlichen Figuren reich belebte Landschaft. Der kleine Treppenbalkon hatte ein schmiedeeisernes, mit barocken Arabesken üppig verziertes Gitter. Hinter dem Gitter saß Tilly gerne stundenlang an den Sonntagnachmittagen, um durch die krausen und phantastischen Windungen des Metalls hindurch auf die Diele zu schauen. Lange wagte sie es nicht, sich umzudrehen; denn hinter ihr stand auf seinem Postament der große, bunte, ausgestopfte Pfau. Noch schöner als die grüngoldenen Kreisaugen auf seinem langen Gefieder war die sattblaue, ins Goldene spielende Farbe seines seidig schimmernden Bauches. In Gegenwart eines Erwachsenen traute die kleine Tilly sich manchmal, diese leuchtende Pracht zu berühren. Alleine brachte sie es nicht über sich. Ihre Lust, das stolze, bunte, schweigende Tier zu liebkosen, war ungeheuer. Aber wußte man, wie das strahlende Geschöpf es aufnehmen würde? Vielleicht wäre seine Antwort ein gräßlicher, rauher Schrei, und es würde rauschend mit den Flügeln schlagen und die kleinen, schwarzen Augen böse funkeln lassen und mit dem spitzen, harten Schnabel hacken. Die kleine Tilly riskierte es lieber nicht.

Alle Gerüche in dem schönen alten Haus waren ihr gegenwärtig, wie sie nun auf ihren Todestee wartete: der Geruch der Garderobe, wo man die Mäntel abgab; der Geruch im Speisesaal, der viel zu weiträumig und pompös erschien für den runden Familientisch in der Mitte; in der dämmrigen Bibliothek, wo der Großonkel gearbeitet hatte (er war gestorben zu einer Zeit, von der Tilly nichts wußte); im großen Musiksaal, wo es gar nichts gab außer zwei Flügeln auf einem Podium und, die Wände entlang, schmale Bänke, mit blauseidenen Kissen belegt. Früher aber hatten hier die großen Feste stattgefunden, von denen die Großtante zuweilen so träumerisch berichtete, als spräche sie von märchenhaften Turnieren, deren wahren Hergang kein Lebender mehr nachprüfen konnte. Sehr eindrucksvoll und unvergeßlich war auch der Geruch in einem weiten, unbenutzten Kellerraum, der einmal als Billardzimmer gedient hatte. Die grüne Bespannung des langen Tisches war jetzt von Motten zerfressen. In den Wandschränken verwahrte die Großtante Teegebäck und Schokoladeplätzchen. Tilly liebte es, mit der alten Dame die gewundene, geheimnisvolle Treppe hinunterzusteigen, die vom Speisesaal ins Billardzimmer führte. Das kleine Mädchen war ganz versessen darauf, den Gang aus der Sphäre des Lichts in die Grabkammer der fleckigen Billardkugeln und süßen Kuchen zu tun; teils aus Naschhaftigkeit, teils aber auch, weil das Aroma der kühlen, kellerig dumpfen Luft in diesem Raum unwiderstehlichen Reiz für sie hatte.

Während die sich innig Erinnernde im geheimnisvollsten, tiefstgelegenen Raum des versunkenen Hauses weilte, klopfte es an der Tür. Tilly sagte: »Herein.« Frau Bärli präsentierte den Todestee. Tilly lächelte ihr zu: »Danke schön, Frau Bärli. Vielen Dank. – Übrigens, ich möchte morgen früh nicht gestört werden. Lassen Sie mich ausschlafen. Ich habe einen anstrengenden Tag gehabt.« – »Sicher«, sprach mit rauhem Kehllaut die Wirtin. Sie nickte ernst und zog sich langsam zurück. Tilly schloß die Augen, um nicht die Türe sich hinter ihr schließen zu sehen: hinter dem letzten Menschen, mit dem sie auf dieser Erde gesprochen hatte. Hinter dem letzten Menschen.

Als sie allein war, stieg gleich der Garten der versunkenen Kindheit wieder auf, als hätte er nur geduldig darauf gewartet, tröstlich wieder da zu sein: der verwunschene Garten mit den bunten Beeten, den Brunnen, dem Gesang der Vögel …

Tilly brauchte nicht mehr aufzustehen, um sich ihren kleinen Trank zu mischen. Die Veronaltabletten lagen ja gleich neben ihr, wie ein harmloses Toilettengerät, bei den Flacons und Tuben.

Sie ließ langsam die zwanzig Tabletten, eine nach der anderen, in die dampfende, goldbraune Flüssigkeit fallen. Dann zerstieß sie das Veronal mit dem Teelöffel. Die Flüssigkeit in der Tasse färbte sich weißlich; sie sah nun aus wie ein seltsam flockiges Süppchen.

Während Tilly die Tasse zum Munde führte, bewegte sie die dunkel geschminkten Lippen. »Müde bin ich – geh zur Ruh – schließe beide Augen …«

Ihre Lippen berührten den ziemlich dicken Rand der weißen Tasse. Das Süppchen hatte einen scharfen, bitteren Geschmack. Nicht aufgelöste Teile der Tabletten schwammen im lauwarmen Naß. Tilly schüttete den Trank schnell hinunter. Auf dem Grund der Tasse hatte sich eine breiige Substanz festgesetzt. Obwohl Tilly Brechreiz spürte, kratzte sie auch diesen Veronalrest noch mit dem Teelöffel zusammen und verschluckte ihn.

Nun war es getan.

»Vater, laß die Augen dein – gnädig, gnädig über meinem armen Lager sein …«

Am nächsten Tage gab es in dem Gasthaus, wo Tilly ihr Kind empfangen und den Todestee getrunken hatte, großen Betrieb. Ein Kegelklub beging sein zwanzigjähriges Jubiläum, der Bierkonsum war bedeutend, Frau Bärli hatte alle Hände voll zu tun, sie vergaß die Schläferin in Zimmer 7, die übrigens darum gebeten hatte, nicht geweckt zu werden. Erst am späten Abend fiel ihr ein, daß dieser Gast nicht mehr zum Vorschein gekommen war. Sie fand die Tür verschlossen; klopfte; rief, klopfte stärker; ließ endlich durch den Hausknecht aufmachen. Tilly gab kein Lebenszeichen mehr. Auf dem Schreibtisch lagen, säuberlich aufeinandergeschichtet, die Briefe. Frau Bärli weinte – mehr aus Schreck und Nervosität, als weil es ihr besonders nah gegangen wäre.

Als Peter Hürlimann erschien, war der Arzt schon da gewesen. Auch die Polizei hatte schon alles besichtigt; Peter kam spät, er war in einem Konzert gewesen, nachher in einem Café. Er war weiß im Gesicht, seine Lippen bebten, er sagte immer wieder: »Aber das kann doch nicht sein!« – »Doch«, sagte Frau Bärli, »der Arzt hat ihren Tod festgestellt. Erst vor ein paar Stunden ist sie gestorben – meint der Arzt – aber vorher muß sie schon lang bewußtlos gewesen sein. Hoffentlich hat sie nicht viel zu leiden gehabt, ich glaube es eigentlich nicht, sie sieht ja so schön und friedlich aus, wie ein Engelchen, finden Sie nicht, Herr Hürlimann, ganz wie ein Engelchen, das muß ein leichter, sanfter Tod gewesen sein, vielleicht hätte man die Ärmste doch noch retten können, wenn nur heute nicht gerade diese Wirtschaft mit dem Kegelklub gewesen wäre.«

Fassungslos stand Peter vor ihrem wächsernen Liebreiz. Wie süß und grausig sie sich schon verwandelt hatte! Wie makellos und völlig fremd sie war! »Sie ist ja ganz klein geworden«, brachte er hervor. Und immer wieder, als wäre dieses das Schlimmste und alles käme drauf an: »Ganz klein ist sie ja geworden …« Dann stampfte er auf – aus einem dumpfen, machtlosen Zorn, einem sinnlosen Aufbegehren oder nur, um des Weinens Herr zu werden. Hierüber erschrak Frau Bärli. »Das arme junge Blut …« sagte sie und beobachtete ängstlich den gedrungenen Burschen mit dem struppigen Haar. Sein gutmütiges, breites Gesicht verzerrte sich. Endlich liefen ihm die Tränen über die runden Backen.

Peter mußte zu Frau von Kammer, mit Tillys Brief. Sie erschien selber an der Wohnungstür, in einem schwarzen Négligé, das zu ihrer starren, würdevollen Miene dramatisch witwenhaft wirkte. »Herr Hürlimann?« Sie war die Dame von Welt: kühl und formvollendet. »Meine Tochter ist noch in Basel.« – »Ach nein«, sagte Peter. »Ach nein. Nicht in Basel.« Da stand er – nicht beschwingt, ach, nicht der Bote mit den Flügelschuhen, ein plumper Herold der Trauer, die braven Augen verweint, und die Zunge, die das Schreckliche sprechen sollte, schien ihm im Munde zu schwellen. In der Faust aber, die er mühsam hob, hielt er Tillys Brief. Da begriff Frau von Kammer, wußte alles; schrie auf, taumelte und langte nach dem Papier wie nach einem Halt. »Was ist geschehen?« brachte sie hervor; aber dies war wieder nur floskelhaft nach ihrer konventionellen Art. Sie empfand, bei allem Jammer: eine solche Frage war nun am Platze. Ach, sie wußte ja, was geschehen war.

Den Brief in der Hand, stand sie dem Unglücksboten gegenüber – nun wieder starr, den Mund geöffnet zu einem Jammerlaut, der stumm blieb. Der klagend aufgerissene Mund – schwarze Öffnung in der weißen Starrheit der entstellten Miene – gab dem Antlitz der Mutter das Aussehen einer tragischen Maske. Peter erinnerte sich, daß Tilly, wenn sie sehr traurig und sehr betroffen war, auf ganz ähnliche Art den Mund geöffnet hatte. Vom Schmerze geschlagen wie von einer Faust, glich Frau von Kammer zum ersten Mal ihrer Tochter.

»Kommen Sie!« bat sie heiser – denn sie und der Unglücksbote standen immer noch vor der offenen Türe der Wohnung. Und sie zerrte den jungen Mann, der Tilly geliebt hatte, mit einer Gebärde, die durch ihre Heftigkeit fast unzüchtig wirkte, in den dämmrigen Flur.

Tilly ist tot, niemand kann ihr mehr helfen, niemand hat ihr helfen können, als sie noch umherging oder an der Schreibmaschine saß und Schmerzen litt und sich Sorgen machte, wegen der Polizei, wegen des verschollenen Geliebten, wegen des Kindes, das sie nicht bekommen wollte. Tilly ist wächsern verklärt, schaurig verzaubert, und übrigens unheimlich klein geworden – eine kleine Leiche, wie eine Kinderleiche sieht sie aus. Unnahbar und hold, den Lebenden ganz entfremdet, schläft ihr kindliches, streng gewordenes Antlitz zwischen den weißen Rosen. Die Augen, die soviel Tränen vergießen mußten, geruhen nicht mehr hinzuschauen, da nun die anderen weinen. Denn jetzt wird reichlich geweint.

Schluchzend sitzen die alten Ottingers in ihrer stattlichen guten Stube; sie haben das kleine Fräulein von Kammer gern gehabt wie ein Töchterchen. Herrn Ottingers Werk, die »Lebensbeichte eines Eidgenossen«, ist fast abgeschlossen – »und das letzte Kapitel kann ich ihr nicht mehr diktieren!« jammert der alte Herr. – Peter Hürlimann weint, vor Kummer, aber auch aus Reue. ›Ich hätte sie heiraten sollen! Warum habe ich es nicht getan?! Aus lauter dummer Vorsicht und Ängstlichkeit! Weil ich erst mein festes Einkommen haben wollte! Ach, ich Narr! Sie wäre zu retten gewesen. Ich hätte eine gute Schweizerin aus ihr gemacht; sie hatte das Zeug, eine brave Bürgerin unseres Landes zu werden.‹ – Peter Hürlimann ist kein maßloser Patriot oder hat sich doch Gefühle solcher Art niemals eingestanden. Nun aber, da Tilly tot ist, empfindet er: ›Ich hätte eine gute Schweizerin aus ihr machen können.‹ Denn er liebt sein Land, er ist stolz auf die Heimat. Es ist ein freies, gutes, redliches Land, Tilly hätte hier glücklich sein können, sie hat ja kein eigenes Land mehr gehabt – ach, es muß weh tun, ohne Heimat zu leben, auf die Dauer hält es wohl niemand aus. – So denkt Peter, schmerzlich bewegten Herzens, und er schwört sich: ›Ich würde mein Land tapfer verteidigen, wenn es zum Äußersten kommt. Solange aber Friede ist, will ich schöne Musik machen, zu Ehren der Schweiz; gediegene und doch kühne Musik, die der kleinen Schweiz große Ehre machen soll in der Welt. Und auch zur Erinnerung an Tilly soll sie klingen, die schöne Musik, die ich machen will. Das wird niemand wissen; aber ich weiß es: daß alles, was ich von jetzt ab mache, im Gedanken an sie geschrieben ist, und zu ihrem Gedenken.‹

 

Wenn jemand genug hat und Abschied nimmt, weinen die, so zurückbleiben. Warum weinen sie denn? Wird dieser Mensch, der weggegangen ist, ihnen wirklich so fehlen? – Sie werden ihn bald vergessen: dies ahnen sie wohl, und deshalb vergießen sie Tränen. Auch sind sie traurig, weil sie noch ein wenig weiterleben müssen. Wenn von uns einer erlöst und frei geworden ist, wird es den Zurückbleibenden, den Noch-zum-Leben-Verdammten ein paar Minuten lang schreckhaft klar, was unser Dasein auf diesem Stern bedeutet. Es ist Fluch und Jammer von Anbeginn. Aus Blut und Tränen sind die Spuren, die wir hinter uns lassen; von Blut und Tränen ist das Gesicht des Menschen besudelt: das jammervolle Antlitz der Sterblichen ist an Augen und Lippen, auf Stirne und Wangen mit Blut und Tränen beschmiert. Denn wir werden in Schmerzen geboren, und wir gehen hin unter Qualen. Dazwischen aber ist große Traurigkeit und ein langes Entbehren. Auf unseren Mienen stehen die Zeichen des Fluches. Mit Blut und Tränen suchen wir sie abzuwaschen; aber das Zeichen bleibt. – Wir meinen, fliehen zu können, indem wir sterben. Vielleicht ist auch dies noch ein Irrtum, und wir sind fester gebunden, als unsere Unwissenheit es annehmen möchte. Sind uns neue Zustände der Verdammnis vorbehalten, wenn wir uns von diesem frei gemacht haben? Findet unsere Gier nach dem Nichts sich enttäuscht, noch im Tode? Erwarten uns andere Formen der Existenz? Setzt der Fluch sich fort? Geht es weiter? – Wir wissen es nicht, tun auch besser daran, nicht zu dringlich zu fragen. Tilly weiß es. Die wächsern Verklärte hat keine Zweifel mehr. Hingegen schluchzen einige andere, die zurückgeblieben sind; sie legen das Gesicht in die Hände, lassen Tränen durch die Finger rinnen oder in ein kleines Taschentuch. Sie bekommen rote, etwas schmerzende Augen; ihr Mund verzerrt sich wie bei kleinen Kindern; vielleicht werfen sie auch die Arme in die Höhe, gleich Schauspielern auf einer Bühne, bewegen tragisch die Häupter und rufen Worte mit ihren dummen, schweren, irdischen Stimmen: »Warum hast du uns das getan, liebe Schwester? Weshalb mußte dies sein, süße Braut? Wehe, wehe – warum bist du fortgegangen? Du hast dich aus dem Staube gemacht, das war unfair; denn wir sind noch hier. Als hätten wir nicht schon genügend Anlaß zum Weinen gehabt, gibst du uns noch einen neuen – du Schlimme! Du Leichtsinnige! Du Leichtfüßige! Springst uns, mir nichts dir nichts, auf und davon! Hinterläßt ein paar Briefe – meinst wohl, damit sei alles getan – und wir haben das Nachsehen; wir starren hinter dir drein … O Pfui und Wehe! Wir haben dich doch geliebt, und nun spielst du uns solche Streiche! Wir schleppen uns dahin, und du flatterst: welche Ungerechtigkeit! Du wurdest klein und hold, eine wächserne Puppe; wir aber sind dick und schwer und voll Flüssigkeit, gar nicht vornehm; müssen trinken und essen, schlafen und sprechen, weinen und bluten, Blut und Tränen vergießen – und du bist ausgetrocknet, eine reizende Mumie. O Pfui und Wehe über dich, unsere kleine Gespielin, kleine Leidensgefährtin, kleine Gefährtin der Freuden – wie konntest du unsere Gemeinschaft nur so verraten! Wir gehörten zueinander, und nun hast du dich so fürchterlich distanziert!«

Ein Bursche namens Ernst, Vagabund und Berliner Schupomann außer Dienst, der eine Nacht mit Tilly geschlafen hatte und dann von der Polizei abgeholt worden war, weinte nicht oder doch nicht über den Tod seiner Geliebten; denn er wußte nicht, daß sie gestorben war. Er trieb sich irgendwo auf den Landstraßen von Finnland umher und bekam keine Post. Im Laufe der letzten Monate war er aus sechs Ländern ausgewiesen worden und hatte sechs Grenzen ohne gültige Ausweispapiere zu nächtlicher Stunde überschritten. Das Problem, wo er etwas zu essen und ein Bett für die nächste Nacht finden könne, beschäftigte ihn weit mehr als der Gedanke an das kleine Mädchen mit den schrägen Augen und dem schlampigen Mund, der er ein Kind gemacht hatte – was er übrigens auch nicht wußte. Wenn Ernst also weinte, dann geschah es aus Hunger oder Müdigkeit oder aus allgemeinem Ekel vor der Welt, nicht aus Gram über Tilly.

Hingegen saßen, die Köpfe nah beieinander über Kinderbildern der Toten, Frau von Kammer und Marion; ihre Tränen benetzten die alten, steifen Photographien. »Sieh dir diese Aufnahme an!« rief die Mutter. »Wie sie da lacht! Und diese Grübchen in ihren Backen! Sie ist reizend gewesen – von euch allen die Hübscheste: findest du nicht?« – »Ja, Mama«, sagte Marion, »von uns allen die Hübscheste!« – »Aber auf diesem Bild muß sie mindestens schon zwölf Jahre alt sein.« Welche Zärtlichkeit, wieviel wehmutsvolles Entzücken in Frau von Kammers Stimme, die sonst so scharf und trocken geklungen hat. »Wie schmal ihr Gesicht damals war!« Und die Mutter erinnerte sich: »Sie hatte eine schwere Grippe hinter sich. Ihr hattet alle die Grippe, aber bei ihr trat sie am schwersten auf. Das Fieber war schrecklich hoch, ich dachte, sie müßte sterben … Mein Gott, ich weiß noch, wie ich sie nachts in mein Bett holte, weil sie in ihrem eigenen nicht schlafen konnte …« – »Ja, Mama«, sagte Marion wieder, und ihre Finger klammerten sich plötzlich um die Photographie, als ob sie sie in Stücke reißen wollten. »Was machst du?« fragte die Mutter. »Du zerreißt ja das Bild!« Da ließ Marion den Kopf nach vorne sinken, fassungslos – und während die Bilder aus ihren Händen zur Erde glitten, stöhnte sie auf: »O Mutter, Mutter – ich kann nicht mehr – ich will nicht mehr – ich mag nicht mehr leben …«

Die Mutter nahm zwischen ihre Hände Marions tränennasses Gesicht. »Sprich nicht so! Sei still! Weine! Sage nicht solche Dinge – bitte nicht! Denke nicht solche Sachen! Sei still!« – Welche Veränderung war vorgegangen mit Frau von Kammer, der geborenen von Seydewitz? Wohin waren ihre Haltung, die adlige Reserviertheit, die starre Form? Der Schmerz hatte ihr Antlitz weich gemacht und es menschlich belebt; auch jünger schien es geworden. Wann waren Mutter und Tochter sich je so nahe gewesen? – Noch niemals. Großes Leid mußte kommen und eine Erschütterung, von der das Herz sich nicht mehr erholt, damit sie einander schluchzend in die Arme sanken.

Schluchzend und eng beisammen saßen sie, als Susanne eintrat – das jüngste Fräulein von Kammer; sie war aus dem smarten Mädcheninstitut herbeigereist, um der Bestattung ihrer Schwester Tilly beizuwohnen. Da stand sie nun, eine veritable von Seydewitz: hoch aufgeschossen, sportlich trainiert, immer noch etwas zu mager. Das braun gebrannte, straffe Gesicht wäre hübsch gewesen ohne den mürrischen Ausdruck und jene ein wenig bitteren Falten, von denen die Mundwinkel abwärts gezogen wurden. Das dünne, aschblonde Haar trug sie, wie als kleines Mädchen, zu steifen Zöpfen frisiert, von denen man den Eindruck bekam, daß sie hart und kühl anzufühlen sein müßten, wie Metall. Sie schaute streng aus wasserblauen Augen; ihr Blick drückte Tadel aus, über das unpassende Halbdunkel in der Stube, und weil die beiden Damen auf dem Kanapee in so inniger Pose beieinander saßen. »Was treibt ihr denn da?« fragte die junge Susanne scharf – als hätte sie Mutter und Schwester bei etwas Unanständigem ertappt. »Es ist ja stockfinster. Ihr könnt gar nichts mehr sehen.«

Marion und die Mutter wandten langsam die Köpfe, ohne sich aus ihrer Umarmung zu lösen. Hinter ihnen stand die junge Susanne – drohend aufgerichtet in der offenen Tür, blank und hart beschienen vom Licht, kühl und ehrgeizig, nicht sehr intelligent, eine Fremde, das Kind einer fremden Zeit.

9

Martin ist krank, »eine Lungenentzündung«, sagt Dr. Mathes. Und David Deutsch gegenüber erklärt er: »Das kommt nicht selten vor im letzten Stadium des Morphinismus.« – Bald scheint eine Besserung zu konstatieren; sie hält nicht an, der Rückfall stellt sich ein. – »Ich möchte die Verantwortung nicht mehr alleine tragen.« Das Gesicht des Doktors ist recht düster geworden. »Wir wollen ihn in ein Krankenhaus transportieren. Auch tut man gut daran, seinen Eltern Nachricht zu geben.«

David hat es Martin beizubringen: »Du mußt in ein Krankenhaus.« Der nimmt es aber nicht schwer. »Natürlich«, meint er nur. »Das ist gewiß vernünftiger.« – Woher kommt ihm dieses Vertrauen? Wie erklärt sich solche Euphorie? Er bekommt kleinere Dosen Morphium als sonst; sein Herz hielte die starken nicht aus. Nicht das Gift also kann es sein, das seinen Blick derart leuchten macht; wohl auch nicht nur das Fieber. – »Es ist hübsch hier«, sagt er, da man ihn im Hospital gebettet hat. »Ich fühle mich wohl. Ja, rücke mir das Kissen zurecht! Vielen Dank, lieber David.«

Martin, der den Tod gewollt hat, nun, da er ihm so nahe ist, erkennt er ihn nicht. So lange hatte er ihn herbeigerufen, ihn gelockt, jetzt aber will er seine Zeichen nicht verstehen, und er scheint unempfindlich für die Liebkosung seiner dunklen Hand. »Wenn ich wieder gesund bin«, versichert er dem David Deutsch, der fast den ganzen Tag an seinem Krankenbett verbringt, »wenn es mir ein bißchen besser geht, dann reise ich mit Mama in die Schweiz. Soviel Geld wird mein alter Herr schon noch auftreiben. Er ist ja gar nicht so schrecklich arm, wie er immer tut. Eigentlich ist er wohl noch ziemlich wohlhabend, weißt du …« Das »weißt du« auf die etwas selbstgefällig-doktrinäre Art zerdehnt, die man an ihm kennt. – Das Sprechen macht ihm Schwierigkeiten, er muß husten.

»Sicher, Martin, die Schweiz wird dir guttun.« Welche Anstrengung kostet es David Deutsch, zu lächeln! »Aber du sollst jetzt nicht soviel reden!« – Und Martin behauptet: »Ich fühle mich heute viel besser.« Ach, er hat ihn gelockt, er hat sich so tief mit ihm eingelassen, so zärtlich-gründlich hat er sich mit ihm beschäftigt, und nun erkennt er ihn nicht … Martin liegt in einem billigen Hospital; das Geld, welches sein Vater, auf Davids dringliche Bitten, aus Berlin geschickt hat, reicht nicht aus, um den Aufenthalt in einer guten Privatklinik zu bezahlen. David hat ohnedies seine geringen Ersparnisse angreifen müssen, damit Martin ein Einzelzimmer bekommen konnte. David hätte es nicht ertragen, den Freund in einem Raum mit fremden, kranken, vielleicht übelriechenden, boshaften Leuten zu sehen … Ein bescheidenes Zimmer: nur das Bett, zwei Stühle, ein kleiner Nachttisch und Waschgeschirr. Auf dem Nachttisch stehen immer Blumen. David bringt jeden Tag gelbe Rosen oder bunte Tulpen mit und vielleicht etwas Obst oder ein Buch mit Bildern, in dem der Fiebernde blättern kann.

Die Krankheit zieht sich hin; übrigens ist ihr Verlauf ungewöhnlich, gegen die Regeln: eine Lungenentzündung mit atypischen Komplikationen. David möchte Einzelheiten wissen, aber der Professor, ein schweigsamer und zurückhaltender Herr, gibt keine Auskunft. Es tritt eine Besserung ein, eine trügerische kleine Erholung; David meint schon aufatmen zu dürfen, aber dieser günstige Zustand hält sich nur wenige Tage, und da das Fieber wieder steigt, wird das Gesicht des Professors bei der Morgenvisite sehr ernst. »Ich habe beinah keine Hoffnung mehr für Ihren Freund«, erklärte er David.

Ließe nur Kikjous Adresse sich feststellen! Aber Kikjou scheint vom Erdboden verschwunden, niemand weiß, wo er sich aufhält. Martin fragt manchmal nach ihm – nicht sehr oft; aber doch mit einer Dringlichkeit, einer Gier, die zu verbergen er sich nicht mehr die Mühe nimmt oder nicht mehr fähig ist. »Hast du nichts von Kikjou gehört?« – »Doch, er ist in Lausanne, bei seinen Verwandten, er hat eine recht unangenehme Grippe, sowie es ihm besser geht, wird er kommen.« David Deutsch ist so erfinderisch geworden, es fällt ihm so vieles ein, um Martin nur die schlimme Wahrheit zu ersparen: daß Kikjou völlig unauffindbar ist; daß er sich ganz und gar von Martin und von allen, die mit Martin zusammenhängen, zurückgezogen hat. – »So, so, eine Grippe«, sagt Martin, der es zu glauben scheint. »Armer Kikjou, er hat immer Pech. Aber warum schreibt er denn nicht? Das könnte er doch wirklich mal tun.« – »Er hat mir eine Karte geschrieben«, erzählt David flink. »Er läßt dich schön grüßen, und er verspricht dir einen langen, netten Brief.« – »Das ist brav von ihm.« Martin lächelt matt und froh zur Decke hinauf. »Wenn ich mit Mama in der Schweiz bin, soll er mitkommen; dafür wird das Geld meines alten Herrn schon noch langen …«

 

Kikjou hält sich rätselhaft verborgen. Marion reist wohl gerade durch die Böhmischen Bäder. Marcel ist in Spanien. Keiner von den nächsten Freunden ist da. Nur aus der »Schwalbe« spricht ab und zu jemand vor: das Meisje oder die Proskauer. Einmal erscheint sogar die Frau Wirtin selbst: energisch, von etwas polternder Munterkeit, dabei gemütvoll – und David kann sie nur mit Mühe daran hindern, sich im Krankenzimmer ihre dicke, kurze Zigarre anzuzünden. »Aber es würde doch gar nichts schaden«, meint Martin mit einer Stimme, die so schwach geworden ist. – Es ist gerade während der kurzen Zeit, da sein Zustand sich zu bessern und das Schlimmste überstanden zu sein scheint. »Ich könnte ja auch selber mal wieder eine Zigarette rauchen … David, hast du keine Chesterfield da?« – »Der Junge ist richtig!« ruft die aufgeräumte Schwalbe und kratzt sich mit Behagen das kurze, borstige, graue Haar. Aber ein bittender, fast drohender Blick Davids bestimmt sie dazu, auf ihre Zigarre dieses Mal zu verzichten.

Da Martins Befinden sich noch einmal verschlimmert, telegraphiert David an Frau Korella, Nürnberger Straße, Berlin – und sechsunddreißig Stunden später trifft die Mutter ein. »Ich wäre ja noch schneller gekommen«, entschuldigt sie sich, gleich auf dem Bahnhof, bei David Deutsch, der sie abgeholt hat. »Aber ich mußte mir erst ein französisches Visum besorgen, das ist alles so umständlich heutzutage.«

Frau Korella bittet immer um Entschuldigung; sie wirkt, als wolle sie beständig um Pardon ersuchen für die simple Tatsache ihrer Existenz. Herr Korella sagt es ihr oft: »Du mußt mehr Selbstbewußtsein zeigen, Hedwig. Nur mit Selbstbewußtsein kommt man durch diese harte Zeit.« Aber weder ihr Junge, Martin, noch ihr Gatte haben durch das Benehmen, das sie ihr gegenüber an den Tag legen, dazu beigetragen, Frau Hedwigs innere Sicherheit zu kräftigen und zu stützen.

Frau Korella sieht stets verweint aus, sie hat immer etwas verschwollene und gerötete Augenlider. Jetzt erscheint ihr Gesicht ganz verwüstet von wahren Exzessen des Schluchzens; sie hat während der ganzen Reise, vom Bahnhof Zoo, Berlin, bis zu der Pariser Gare du Nord, ohne jede Unterbrechung geschluchzt. Die Tränen haben ihre Züge aufgelöst, sie haben sie weggewaschen, wie ein nasser Schwamm die Kreideschrift von einer schwarzen Tafel wäscht. »Aber er lebt noch?« ruft flehend die Mutter, und sie klammert sich mit einem Griff, der überraschend hart und heftig ist, an Davids Arm. – »Er lebt noch«, bestätigt der junge Deutsch, mit einer Stimme, die Frau Hedwig keine Zweifel darüber läßt, daß ihr Sohn nur noch eine kurze Zeit, vielleicht nur noch Stunden wird atmen dürfen.

Die Mutter besteht darauf, sofort ins Hospital zu fahren, obwohl David sie dringend dazu auffordert, sich erst im Hotel etwas auszuruhen. »Es gibt keine unmittelbare Gefahr für den Augenblick«, versichert er ihr. Aber die Verweinte bleibt hartnäckig: »Ich will keine Minute verlieren. Gleich muß ich ihn sehen …«

Martin ist gar nicht besonders erstaunt, daß die Mutter plötzlich vor ihm steht. »Bist du auch einmal nach Paris gekommen, Mama?« ist alles, was er sagt, und er lächelt, während er ihr seine schrecklich mager gewordene Hand hinhält. Wie sie glüht, wie heiß und trocken sie ist, die arme schöne Hand ihres Sohnes! Frau Korella muß sich ungeheuer beherrschen, um nicht schon wieder in Tränen auszubrechen. Sie nimmt alle Kräfte zusammen, und ihr Gesicht bekommt einen harmlos-ruhigen, fast vergnügten Ausdruck. Mit einer Stimme, die wirklich beinah unbefangen klingt, sagt Frau Korella: »Ich wollte doch einmal nach meinem alten Jungen sehen – ob er mir in Paris auch keine Dummheiten macht.« Martin geht ein auf das Spiel; er spielt es weiter; er flüstert: »Du siehst doch, ich bin ganz brav …« – Seit einigen Tagen ist er nicht rasiert worden; ein blonder Bart – der auf der Oberlippe nicht mehr wächst – rahmt seine sanfte, strahlend bleiche Miene. ›So sind junge Märtyrer auf Heiligenbildern dargestellt‹, denkt stolz die Mutter. ›Was muß er alles durchgemacht haben, daß er so schön werden konnte!‹

Eine halbe Stunde lang unterhält Martin sich bei ganz klarem Bewußtsein, fast angeregt, mit seiner lieben Mama. Mühsam flüsternd erkundigt er sich nach allerlei: »Wie sieht es denn aus in Berlin? – Ich kann es mir schon gar nicht mehr vorstellen … Überhaupt«, fällt ihm plötzlich ein, »ich weiß ja gar nicht mehr, was los ist; seit Wochen habe ich keine Zeitungen gesehen. Warum bringt man mir eigentlich keine Zeitungen mehr?« fragt er mit einer gewissen Gereiztheit. David Deutsch lächelt um Verzeihung bittend, wobei er sich seitwärts verneigt. Aber Martin winkt schon wieder ab: »Du hast ja ganz recht. Was soll ich mit Zeitungen? Steht ja doch immer nur derselbe Schwindel drin. – In Deutschland wird es nie mehr besser werden … Du kannst froh sein, daß du jetzt in Paris bist, Mama … Paris ist sehr hübsch, bist du denn schon auf der Place de la Concorde gewesen? Eine großartige Sache … Ich werde dich nächstens mal hinführen …« – »Ja, ja«, sagt die Mutter, »du wirst mich nächstens mal hinführen.«

Martin verstummt, Schleier scheinen sich vor seine Augen zu senken, ihr Blick gleitet ab ins Leere. Nach einer langen Pause sagt er noch: »Früher konnte es in Berlin sehr nett sein … Reizend … Warum bin ich eigentlich so lang nicht dort gewesen? Zu dumm, so lang von zu Hause fort sein … Ich möchte Kikjou einmal Berlin zeigen … Wo ist Kikjou?!« schreit er plötzlich. »Ich will Kikjou suchen! Ich muß nach Berlin, mit dem kleinen Kikjou!!« Er wirft die Decken von sich, David muß ihn halten, damit er nicht aus dem Bette springt. Die Mutter legt die Arme um seinen Hals. Er wird ruhiger. »Kikjou glaubt an Gott«, erzählt er der Mutter, die gar nicht weiß, wer das Wesen, das diesen sonderbaren Namen – Kikjou – trägt, eigentlich ist. »Er glaubt ganz fest an Gott, an die Erzengel und an alle Heiligen … Kikjou hat jetzt Grippe, ich weiß, deshalb kann er nicht hier sein. Aber sowie er wieder gesund ist und mich wieder besuchen kommt, muß ich alle diese Dinge ausführlich mit ihm besprechen, alle diese Dinge vom lieben Gott …«

Es dauerte noch mehrere Stunden lang. Der Kranke kam nicht mehr zu einem klaren Bewußtsein. Er phantasierte ohne Unterbrechung. Seine wirren Reden kreisten um Kikjou und den lieben Gott; auch gewisse Verse des verruchten Lieblingsdichters kamen vor. Einmal schrie er: »Kikjou hat den lieben Gott entdeckt – eine enorme Entdeckung! Aber ich stehe nicht in Gunst bei Ihm. Kein Lichtstrahl trifft mich aus Seinen großen, schönen, fürchterlichen Augen. Ich gehe. Ich gehe ja schon … Wenn du die Mythen und Worte entleert hast, sollst du gehen … Niemand wird weinen, wenn du verschwunden bist … Der liebe Gott, den Kikjou entdeckt hat, kennt keine Tränen …«