Klaus Mann - Das literarische Werk

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7

Marion setzte sich durch.

Es war nicht leicht gewesen; mit dem Erfolg ihres ersten Pariser Abends war keineswegs schon etwas Wesentliches erreicht. Applaus von ein paar hundert Freunden oder Gesinnungsgenossen – das bedeutet nicht viel. Eine literarische Rezitatorin findet auf die Dauer kein Publikum; dies bekam Marion immer wieder zu hören. Die Leute gehen ins Kino; kaum sind sie in ein Theater zu bringen; ganz gewiß nicht in einen Saal, wo eine Schauspielerin ohne Engagement Verse von Goethe und Hölderlin spricht. »Und überhaupt: welches Wirkungsgebiet kommt für Sie in Frage, da Sie in Deutschland selber nicht auftreten dürfen? Die paar tausend Emigranten werden Ihre Säle nicht füllen …«

»Es gibt Länder, wo man mich verstehen wird«, sagte Marion zuversichtlich. »Es gibt die Schweiz, Holland, Österreich, Skandinavien, die Tschechoslowakei …«

Sie ließ sich nicht einschüchtern oder mutlos machen. Zunächst veranstaltete sie noch einige Abende in Paris, trat auch in politischen Versammlungen auf. Dann wurde in Straßburg ein literarisches Kabarett eröffnet, dessen Attraktion sie zwei Monate lang war. Von dort aus fuhr sie nach Zürich, wo sie im Rahmen einer politisch-satirischen Revue vier Gedichte rezitierte, zwei klassische und zwei moderne. Sie war beim Publikum bald so beliebt, daß drei eigene Abende, die sie selbst riskierte, starken Zulauf hatten. Daraufhin bewarben sich um sie die Bühnen verschiedener Schweizer Städte. Auch aus Österreich und der Tschechoslowakei kamen Angebote. Sie lehnte ab. Es lockte sie nicht mehr, schien ihr kaum noch lohnend, Ehebruchskomödien oder die Maria Stuart zu spielen. Das Repertoire der Stadttheater oder privaten Bühnen interessierte sie nicht; es hatte zu wenig Zusammenhang mit den Dingen, die ihr Herz und ihren Geist beschäftigten. Ihr Ehrgeiz war in anderer Richtung fixiert. Sie wollte politisch wirken. Sie glaubte eine Sendung zu haben, und mit stolzem Glück spürte sie: ›Ich bin ihr gewachsen.‹

Am meisten war ihr an den eigenen Abenden gelegen, deren Programm sie allein bestimmte. Mit einem Kabarett oder einem Revuetheater schloß sie nur dann ab, wenn man ihr die Auswahl der Gedichte, die sie bringen wollte, ohne Vorbehalt überließ. Viele der Direktoren machten anfangs Einwände. Bald aber stellte sich heraus, daß sie »zog«; daß um ihretwillen die Leute kamen und das Haus immer voll war, wenn Marion von Kammer angekündigt wurde. Man räumte ihr also die Freiheiten ein, auf denen sie bestand.

Sie gab Abende in Zürich, Basel, Bern, St. Gallen, Luzern, Olten und anderen Orten der Schweiz. Ihre stärksten Erfolge hatte sie in der Tschechoslowakei. In Prag, Brünn und Preßburg, Karlsbad und Marienbad wurde sie vom Publikum und von der Presse gefeiert. »Die antifaschistische Jungfrau von Orléans am Vortragspult!« schrieb ein Prager Literat über sie. Zunächst meinte er es wohl ironisch; aber Marions Bewunderer griffen die Wendung auf, und schließlich benutzte sie sogar ihr Manager in seinen Annoncen. – Im Sommer 1935 arbeitete sie in den böhmischen Badeorten; dann wieder in der Schweiz, in Davos, Arosa, St. Moritz. Zum Schluß der Sommersaison stellte sie sich noch dem internationalen Publikum der Salzburger Festspiele vor. Für die Herbstmonate hatte der Agent ihr eine große Tournee in Holland eingerichtet. Daran schlossen sich Engagements in Belgien und Luxemburg; dann wieder in der Schweiz und der Tschechoslowakei. Es war ein anstrengender Winter. In Wien durfte sie nicht auftreten, weil die österreichische Regierung auf die Empfindlichkeiten des Dritten Reiches Rücksicht nahm. In Zürich machten faschistische Studenten Skandal, als sie das Gedicht eines Autors sprach, der in einem deutschen Konzentrationslager ermordet worden war. Die Polizei warf die Ruhestörer – von denen sich später herausstellte, daß sie Geld vom deutschen Konsulat bekommen hatten – aus dem Saal. Seit diesem Zwischenfall hatte Marion Schwierigkeiten, die Arbeitserlaubnis in der Schweiz zu bekommen; von einigen besonders vorsichtigen Kantonen wurde sie ihr verweigert. Nicht nur in der Schweiz, auch in der Tschechoslowakei und in Holland interessierten sich nun die Behörden für die Auswahl der Verse, die sie sprechen wollte. Überall vermied man mögliche Schwierigkeiten mit den reizbaren deutschen Gesandtschaften oder Konsulaten. Marion kämpfte wie eine Löwin um jede Zeile ihres Programms. Manches mußte sie opfern. Was stehen blieb, war immer noch genug, um den Nazispionen, die von ihren Vorgesetzten in den Saal geschickt worden waren, den kalten Schweiß auf die Stirnen zu treiben.

Deutsche Dichter im Exil schrieben Verse, eigens für die Vortragskünstlerin Marion von Kammer. Oft waren es nur gereimte Leitartikel, politische Manifeste in »freien Rhythmen«, denen Marion durch ihre Stimme, durch das Pathos ihrer Haltung und ihres Blickes erst die Würde und das Gewicht verlieh. Aber inniger war sie bei der Sache, wenn sie Gedichte oder Prosa der Klassiker sprach. Am populärsten war der Heinrich-Heine-Abend. Alle im Saal erschauerten, wenn die Zürnende rief:

»›Nicht gedacht soll seiner werden …!‹

Ausgelöscht sein aus der Menschen

Angedenken hier auf Erden,

Ist die Blume der Verwünschung –

Nicht gedacht soll seiner werden!

Herz, mein Herz, ström aus die Fluten

Deiner Klagen und Beschwerden,

Doch von ihm sei nie die Rede –

Nicht gedacht soll seiner werden!

Nicht gedacht soll seiner werden,

Nicht im Liede, nicht im Buche –

Dunkler Hund im dunklen Grabe,

Du verfaulst mit meinem Fluche!

Selbst am Auferstehungstage,

Wenn, geweckt von den Fanfaren

Der Posaunen, schlotternd wallen

Zum Gericht die Totenscharen.

Und alldort der Engel abliest

Vor den göttlichen Behörden

Alle Namen der Geladenen –

Nicht gedacht soll seiner werden!«

Jeder begriff, wen diese fürchterliche und schöne Stimme, die jetzt wie eine große Glocke drohend läutete, meinte und verdammte. Marions Gesicht war sehr starr, wenn sie diese schauerliche Formel des Fluches sprach. Aber unter der lockigen Purpurfülle des Haars brannten grausam die schräggestellten Katzenaugen.

Ihre Stimme wurde berühmt in Europa. Junge Schauspielerinnen begannen, ihre stürmischen und zärtlichen, zornigen und schmelzenden, aufrührerischen und süßen Akzente zu kopieren. Sie wurde viel bewundert und viel geliebt. Ihr Blick erschreckte; aber es verführte ihr großer, leuchtender Mund, und Lyriker oder hysterische junge Mädchen schrieben Hymnen auf ihre mageren, nervösen und kraftvollen Hände. – Sie wurde sehr geliebt und bitterlich gehaßt. Die Zeitungen im Reich brachten Schmähartikel gegen sie. In den Witzblättern von Berlin und München erschien ihre Karikatur: das kurze Gesicht unter dem wilden Haar, die gespreizten Hände, die mageren Glieder im eng anliegenden schwarzen Kleid. Hatte man Angst vor ihr und vor ihrer Stimme, daß man sich so viel und zornig mit ihr beschäftigte? Die Naziregierung entzog ihr die deutsche Staatsbürgerschaft: sie ward »ausgebürgert« – was wiederum nur eine Reklame für sie bedeutete. Schon ehe ihre Feinde sie mit dieser hilflosen und etwas komischen Geste zu züchtigen und erniedrigen meinten, hatte sie ihrerseits öffentlich erklärt, daß sie ihren deutschen Paß nicht mehr benutzen wolle. Sie reiste mit einem provisorischen tschechischen Papier, einem »Fremdenpaß«, den man ihr in Prag zur Verfügung gestellt hatte. Ihre Popularität in den Kreisen, auf die sie wirken wollte, steigerte sich noch dank den Beleidigungen, mit denen die Herren aus Berlin sie verfolgten. Niemals war Marion so gefeiert worden wie in den ersten Wochen nach der »Ausbürgerung«. Damals kam sie gerade in die Tschechoslowakei zurück. Es war im Januar des Jahres 1936.

Immer zahlreicher, immer inniger wurden die dankbaren, enthusiastischen Briefe. Häufig kamen sie von Deutschen – Feinden des Naziregimes, die es aber im Reiche aushalten mußten und nur für kurzen Aufenthalt im Ausland waren. »Wir hatten angefangen, unsere Heimat zu hassen«, schrieben sie. »Das Deutschland, in dem wir leben müssen, ist hassenswert. Sie haben uns wieder an ein anderes erinnert, haben ein besseres Deutschland für uns lebendig werden lassen. Das vergessen wir Ihnen nie.«

Marion beantwortete viele Briefe, vermied es aber, halb aus Scham, halb aus Trägheit, mit ihren Bewunderern persönlich in Berührung zu kommen. Manche waren von bemerkenswerter Insistenz. Als sie einen Monat lang in einem Prager Kabarett auftrat, gab es eine Dame, die ihr jeden Abend Blumen schickte: dreißig kleine rote Rosensträuße. Als das Engagement zu Ende ging, am 31. Januar endlich, schickte Marion dieser zähen Verehrerin einen Zettel ins Parkett: es würde ihr eine Freude sein, sich persönlich für die vielen schönen Blumen bei ihr zu bedanken. Drei Minuten später war die Dame da und sah düster aus. Sie trug ein streng geschnittenes dunkles Kostüm und das glatte schwarze Haar sehr kurz geschoren. »Ich heiße Emma von Barlow«, sprach sie und verneigte sich knapp. »Von Beruf bin ich Bildhauerin. Ich möchte Sie modellieren, Marion von Kammer.« Ihre Stimme tönte sonor und tief; auf der Oberlippe lag ein starker Flaum von brünettem Schnurrbart. »Ich möchte Sie modellieren«, fuhr sie fort, ohne auf Marions Antwort zu warten, »ehe ich Europa verlasse. Denn hier bleibe ich nicht!« versicherte sie, fast zornig, als hätte jemand sie zurückhalten wollen. »Was soll ich noch in Europa? Niemand interessiert sich mehr für Skulpturen. Europa ist fertig, aus, zu Ende – das weiß ich schon lang. Ich gehe nach Ekuador.« Dies erklärte sie nicht ohne einen düsteren Triumph, und sie fügte leiser hinzu: »Ganz allein.« Geld habe sie gerade genug für die Reise und um ein paar Monate drüben auszuhalten, erklärte sie noch. »Dann wird man weitersehen.« Das Leben in jener Gegend sei billig – hatte man ihr berichtet. »Ein reiches Land; keine Staatsschulden.« Sie sprach fast drohend vor Sachlichkeit. »Ölschätze!« rief sie, als ob dies alles für sie bedeutete. »Und ein schöner Menschenschlag – was mich übrigens kaum noch zu interessieren braucht; denn ich wechsle meinen Beruf. Sie, Marion von Kammer, sollen mein letztes Modell sein! Vielleicht werde ich nun Pianistin in einer Jazzkapelle. Ich spiele recht gut Klavier.«

 

Als Marion endlich zu Worte kommen durfte, suchte sie der Besucherin plausibel zu machen, daß es ihr leider nicht möglich sei, sie im Atelier aufzusuchen. »Ich habe morgen einen Abend in Bratislava; übermorgen einen in Brünn. Wenn man nur etwas mehr Zeit hätte …« Es tat ihr wirklich leid, Emma von Barlow enttäuschen zu müssen. Die stand einen Augenblick sprachlos; blieb indessen gefaßt. »Es macht nichts.« Die Stimme klang etwas heiser. »Es macht wirklich gar nichts. Denn ich kenne Sie ja. Ich habe Sie lange genug beobachtet, um Ihr Porträt aus dem Kopfe zu schaffen. Ich weiß jede Linie an Ihrem Körper.« Dabei funkelte es in ihren Augen, die dunkel waren und sehr nah beieinanderlagen, unter einer trotzig vorspringenden, niedrigen Stirn. Marion, etwas beunruhigt, zog sich einen Schritt von ihr zurück. »Jetzt muß ich wirklich gehen«, sagte sie. »Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Reise.« Während sie dies vorbrachte, schnürte ihr plötzlich ein großes Mitleid die Kehle zu. Sie meinte, schluchzen zu müssen. Sie sah diese Frau – diese einsame Frau, die vielleicht eine echte Künstlerin war – auf dem Deck eines kleinen Schiffes, das sie wochenlang über den Ozean trug. Schließlich würde es sie absetzen in einem Lande, wo sie niemanden kannte. Wen hatte sie in Deutschland zurückgelassen? Eine alte Mutter? Einen Mann? Eine Freundin? – Eine Freundin, taxierte Marion. Und warum mußte diese Dame, Emma von Barlow, in die Einsamkeit und in die Fremde? Warum hatte sie es in der Heimat nicht aushalten können? Durch was wurde sie so empört und so abgestoßen? – »Danke!« sagte sie nun, und dies war der Abschied. Sie neigte sich über Marions Hand – Kavalier vom pomadisierten Scheitel bis zu den dicken Gummisohlen ihrer breiten Halbschuhe. »Danke! Nun nehme ich doch eine gute Erinnerung an Europa mit, da ich Sie gehört – und gesehen habe, Marion von Kammer!« Dann war sie hinaus, eiligen, festen Ganges und ohne sich noch einmal umgedreht zu haben.

Ein anderes Mädchen, das von Marion ausnahmsweise empfangen wurde, eine junge Kommunistin, kam direkt aus einem deutschen Gefängnis. Dort hatte sie sich zwei Jahre lang aufhalten müssen. Zwei Jahre! – welch eine Zeit! Und wie überstand man dergleichen? Diese hatte es in guter Form überstanden. In der Tat, sie schien beinah munter. Ihr Gesicht, das Marion mit Angst und Neugier prüfte, war nicht entstellt; nicht einmal besonders mager sah es aus. Das Mädchen war sogar etwas verächtlich, weil Marion sich bestürzt zeigte. »Zwei Jahre? Was ist denn das?« Sie zuckte die Achseln. »Ich hatte noch Glück, daß ich nicht ins Lager gekommen bin.« Das Geld, das Marion ihr schenkte, nahm sie wie etwas Selbstverständliches hin. Sie war nicht sehr liebenswürdig, wirkte aber vertrauenerweckend. »Sie tun gute Arbeit«, lobte sie Marion, ohne Enthusiasmus, fast erstaunt, wie eine Lehrerin, die schwer zufriedenzustellen ist und nun sagt: Die Leistung ist besser, als ich sie von dir erwartet hätte, mein Kind. »Gerade daß Sie den Leuten so klassisch kommen, ist geschickt. Damit fangen Sie das bürgerliche Publikum.« Sie tat, als wäre es nur natürlich und angebracht, daß Marion nach kalten Berechnungen und politischem Kalkül ihr Programm zusammenstellte. »Gegen Goethe und Schiller läßt sich kaum etwas einwenden«, sagte sie noch. »Man muß eben jetzt mit solchen Tricks arbeiten.« Marion ärgerte sich; übrigens war ihr das Mädchen nicht unsympathisch. Sie hatte ein intelligentes, offenes Gesicht; sie wußte, wofür sie kämpfte; meinte, unbedingt im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, und wäre, wenn es sein mußte, bereit gewesen, für diese Wahrheit zu sterben, ohne von ihrem Martyrium viel Aufhebens zu machen.

Es wechselte um Marion die Szenerie der Städte; es wechselten die Menschen, die ihr Briefe schrieben oder an den Theaterausgängen auf sie warteten: »Wir müssen Ihnen die Hand drücken, Fräulein von Kammer, es ist wieder gar zu schön gewesen!« Aber die Schlafwagen waren immer die gleichen, auch die Hotelzimmer blieben sich überall ähnlich – oft wußte Marion nicht, wenn sie am Morgen aufwachte, ob sie in Rotterdam oder in Basel, in Antwerpen oder Graz geschlafen hatte – und schließlich waren auch die Menschen, die sich überall zu ihr drängten, nicht so sehr voneinander verschieden. Viele kamen traurig und hoffnungslos; andere hatten Pläne, Vorschläge, ein politisches Programm. Einer erwartete sich alles Heil von Paneuropa; der nächste war anspruchsvoller und wollte den Weltstaat gründen: eine ganze Nacht lang erklärte er Marion, wie der Weltstaat auszusehen habe. Er war früher Professor an einer deutschen Universität gewesen – ein gescheiter Mann. Marion hörte ihm achtungsvoll zu. Er hatte die Insistenz des Fanatikers. »Der Weltstaat!« rief er immer wieder, und seine Faust, die auf den Tisch schlug, zitterte. »Nur er kann uns retten, und sonst nichts. Der ganze Begriff der Nation ist ein Schwindel – gar nichts dran, lauter Trick und Lüge. Solange die Menschen nicht dahintergekommen sind, ist für sie nichts zu hoffen …«

In Salzburg war es ein bayrisch-österreichischer Graf, der Marion stundenlang unterhielt. Er sah ziemlich leichtfertig aus, mit schwarzem Schnurrbart in einem fetten, lustigen Gesicht. »Meine Freunde nennen mich Count Bubi«, erklärte er gleich, mit kokettem Lachen, und bat darum, auch Marion möge ihn so anreden. Er war Katholik, Royalist, haßte die Nazis und wollte eine neue Partei gegen sie gründen, eine »Partei der Jugend«, Marion sollte zu den Führern gehören. »Dann machen wir eine kleine Revolution!« rief er animiert mit seiner näselnden süddeutschen Aristokratenstimme. »Eine kleine antipreußische Revolution in Bayern – das ist gar nicht so schwer! Ich brauche nur etwas Geld dazu, mit einer halben Million Pfund ist es zu schaffen, wir müssen handeln, Verehrteste, eine halbe Million Pfund müßte schließlich aufzutreiben sein, wir gründen einen katholisch-sozialistischen Staat, der Vatikan gibt uns seinen Segen, es kann eigentlich gar nicht schiefgehen …« Count Bubi war nicht beleidigt, als Marion lachte. »Natürlich lachen Sie!« bemerkte er ohne Bitterkeit. »Alle lachen zunächst. Sie werden es aber erleben: ich komme zum Ziel.« Merkwürdigerweise hielt sie dies wirklich nicht für ausgeschlossen. Der Graf mit seinem schlauen Kindergesicht schien besessen von Energien, die unter Umständen kostbar und selbst entscheidend sein mochten. Marion plauderte lange mit ihm. Die Idee, daß »eine kleine Revolution in Bayern« das Gesicht Europas verändern könnte, amüsierte sie und wirkte ermutigend.

Sie brauchte Ermutigung. Denn während sie vor ihrem Publikum oder im Verkehr mit Menschen stets zuversichtlich und beinah munter schien, kannte sie in Wahrheit die Stunden der Anfechtung, der verzweifelten Müdigkeit. Oft kam es ihr sinnlos vor, durch die Länder zu reisen – eine pathetische Missionarin – und schöne Verse zu deklamieren. Was soll es? – fragte sie sich, sooft die Stunde der Anfechtung kam. Wenn sie abends mit ihren Handkoffern und Blumensträußen zum Zug fahren mußte, fühlte sie sich manchmal derart matt und zerbrochen, daß sie erwog, den Rest der Tournee telegraphisch abzusagen und einfach zu bleiben, wo sie gerade war; in irgendeinem Hotelbett liegen zu bleiben, keine Zeitung mehr anzuschauen, keinen Telefonanruf mehr zu beantworten, die Augen geschlossen zu halten, zu schlafen …

Die D-Zug-Nächte konnten auf die Dauer kaum bekömmlich sein. Marion träumte zuviel, und fast immer waren es arge Träume. Früher hatte es so schlimme nicht gegeben. Damals hatte sie nur geträumt, daß sie wieder auf der Schulbank sitzen müsse und eine gar zu schwere Prüfung zu bestehen habe; oder sie stand auf der Bühne, ohne ein Wort Text zu wissen; oder sie mußte nackt über den Potsdamer Platz. Jetzt träumte sie einfach, daß sie sich in Deutschland befinde, und es war tausendmal beängstigender. Sie schlenderte über eine Berliner Straße; zunächst fiel ihr nichts daran auf. Allmählich kamen Bedenken: ›Warum bin ich eigentlich so lang nicht hier gewesen? Das muß doch einen Grund gehabt haben …‹ Mit dieser Frage setzte die dumpfe, quälende Beunruhigung ein; der eigentliche Alptraum begann. ›Ich habe wohl Feinde hier, sehr grausame Feinde, wahrscheinlich verfolgen sie mich – ich muß ein recht sicheres, unauffälliges Wesen zur Schau tragen und langsam gehen, dann bleibe ich vielleicht unbemerkt. Warum schauen mir denn die Leute so nach? Mein Gott, ich habe ja eine von diesen Emigrantenzeitungen in meiner Tasche, die sind hier doch verboten, es gilt als ein Verbrechen, sie mit sich zu führen – ich kann die Zeitung nicht mehr verstecken, alle haben sie schon bemerkt. Jetzt muß ich aber machen, daß ich davonkomme – wohin fliehe ich nur? Da steht ein SA-Mann, und dort noch einer – ich bin umzingelt … Man weist mit Fingern auf mich …‹

Keuchend und in Schweiß gebadet wachte sie auf, wissend übrigens, daß der Schreckenstraum sich keineswegs nur ihr so häufig wiederholte. Die Refugiés träumten ihn alle, er war der Alptraum par excellence der Emigration.

Kikjou ist fort. In Martins Zimmer mit den schönen großen Fenstern ist es still geworden. Keine Wutausbrüche mehr, keine Versöhnungsszenen mit endlosen Tränen und Schwüren. Kikjou hat versprochen zurückzukommen – wenn Martin frei sein wird von der Droge.

Sich befreien von der Droge – Martin verspricht es jeden Tag sich selbst und den drängenden Freunden: Es muß sein! David Deutsch, liebevoll und besorgt, hat einen ganzen Kriegsplan ausgearbeitet. Martin soll zur Entziehungskur nach Zürich fahren; dort kennt David einen guten Schweizer Arzt, mit dem er schon seit langem befreundet ist und zu dem er unbedingtes Vertrauen hat. Der ist bereit, die Kur in einem kleinen Privatsanatorium vorzunehmen. Es soll relativ wenig kosten. Wann wird Martin reisen?

Die Tage vergehen, es vergehen die Wochen – er bemerkt es fast nicht. Der Heroinkonsum steigert sich: ein Gramm, anderthalb Gramm, fast zwei Gramm pro Tag … Die Zeit hat keine Realität, wenn man sie nur noch mit Träumen füllt. Zuweilen erschrickt Martin, tief im Herzen, wenn er konstatieren muß, bis zu welchem Grade er sich von der Wirklichkeit schon entfernt hat. ›Ich bin der Welt abhanden gekommen‹, denkt er entsetzt. ›Fehle ich ihr? Sie kommt ohne mich aus … Das Entscheidende aber für mich ist, daß sie mir kaum fehlt und daß ich sehr leicht ohne sie auszukommen weiß …‹

Bei der Schwalbe kann es ihm geschehen, daß er mitten in einer politischen Diskussion – an der er übrigens mit Intelligenz und Lebhaftigkeit teilnimmt – mit einem Schauder, in dem Hochmut und Grauen sich mischen, empfindet: ›Wovon sprechen die guten Leute? Warum regen sie sich so auf? Illegale Arbeit in Deutschland … Interne Schwierigkeiten der Spanischen Republik … Italiens Raubzug gegen Abessinien: Was ist dies alles? Wie berührt es uns? – Warum schreien sie so? – Der wackere Theo Hummler schwitzt ja schon wieder vor Enthusiasmus, und nun schlägt er mit der Faust auf den Tisch, das ist komisch … Ich will zurück in mein Zimmer. Dort ist es friedlich. Ich will heim zu meiner süßen Sache …‹ Aber dann nimmt Martin sich mit einem Ruck zusammen und spricht seinerseits, mit Schwung, Witz und Temperament, über die englisch-italienische Spannung, über die Sanktionen gegen Mussolini, die hysterische Angst vorm »Bolschewismus« in London, und schließlich erzählt er sogar einen neuen Witz über den Fliegergeneral Göring.

Daheim in seinem Zimmer ist’s friedlich. Oh, süße Seligkeit der Stunden von ein Uhr nachts bis sechs Uhr morgens! Oh, Rausch der einsamen, der belebten Nacht! Ob man ein Buch aufschlägt – etwa das, in dem die Verse des verruchten Lieblingspoeten stehen – ob man aus dem Fenster blickt oder in einen Spiegel, oder einfach ins Leere: von überall her kommen die reizenden, verlockenden, verdächtigen Gestalten. Es müßte doch möglich sein – so meint der Benommene, zugleich Betäubte und fiebrig Angeregte – ach, es sollte gelingen, wenigstens einen Teil der zärtlichen und originellen, tiefen und überraschenden, wahrscheinlich ungeheuer wichtigen Einfälle, die jetzt wie eine Schar von wundersamen Vögeln durch mein Haupt ziehen, auf dem Papiere festzuhalten. Es sollte gelingen. Hier ist weißes Papier … Martin bedeckt es mit Zeichen. Seine Hand zittert. Er schreibt mit zitternder Hand. Und am nächsten Nachmittag, wenn er aus abgrundtiefem Schlaf erwacht, weiß er selber nichts mehr anzufangen mit den mystischen Chiffren, die er nächtens oder zur frühen Morgenstunde aufs Papier geworfen hat. Aber gähnend erinnert er sich, wie schön und köstlich es gewesen ist, als das sanfte Grau im großen Fenster sich allmählich rosig verfärbte.

 

Weniger reizend als die verschwommenen Reminiszenzen sind die realen Andenken, die ihm an die nächtliche Verzauberung bleiben. In den Schenkeln und Armen tun die Einstichstellen weh; einige sind entzündet – es wird doch nicht wieder ein Furunkel geben? Neulich hat Martin lange an einem garstigen Abszeß zu laborieren gehabt. Doch ertappt er sich dabei, daß er die schmerzenden Male liebkost, die er dem Gift zu verdanken hat. Sie sind wie die kleinen Wunden, die man von einer wilden Liebesnacht zurückbehält. Hier hat ein Mund sich gierig festgesaugt, und dort sind noch die Spuren der Zähne. Auf Schultern, Armen und Brust brennen die Zeichen, wie die neuen Tätowierungen eines jungen Matrosen … Ärgerlicher findet Martin es schon, daß er wieder mehrere Löcher ins Leintuch, in die Kopfkissen und die Bettdecke gebrannt hat. Es sind ziemlich große Löcher, häßlich braun umrandet. ›Man soll eben nicht Zigaretten rauchen, wenn man nicht den Willen und die Kraft hat, sie festzuhalten. Sie schmecken ja ganz besonders gut, im selig benommenen Zustand. Aber man vergißt sie; man läßt die Hand sinken, die sie eben noch zum Munde führen wollte; die Zigarette ist ein Teil der Hand geworden, ein elfter Finger. Man meint, mit dem Finger das Bett zu berühren, aber die Flamme liegt auf dem Kissen, sie frißt sich ein, hat ihr eigenes Leben – so entstehen im weißen Zeug die großen Löcher mit den braunen Rändern. Jean, der gute Jean, wird schimpfen, wenn er es bemerkt. Und die Patronne wird einen saftigen Schadenersatz verlangen. Der Teufel soll die Zigaretten, die Leintücher, das Heroin und das Leben holen!

Wie fahl der Tag heute ist! Welche Zeit haben wir denn? Mein Gott, schon beinah fünf Uhr nachmittags …‹ Er greift zur Spritze. Nach fünf Minuten hat der trübe Tag sich bis zu einem gewissen Grade verschönt, der es erträglich scheinen läßt, ihn zu überleben.

So geht es nicht weiter – sagten die Freunde. David Deutsch, der sich jeden Tag um Martin kümmerte, sagte es mit Inständigkeit. Zuweilen erschien auch Marcel; der wilde Vogelschrei, das jauchzend-klagende »Uhuu …« auf dem Korridor meldete ihn an. »Was du treibst, das sind gefährliche Kindereien«, schalt er, die vielfarbigen, wunderbaren Augen drohend aufgerissen. »Der Spaß geht zu weit – tu comprends, mon vieux? So weit darf man sich nicht gehen lassen, es ist unwürdig. Schluß damit!« – »Schluß damit!« riet und verlangte mit dem stärksten Nachdruck Marion, als sie wieder einmal nach Paris kam. »In Zürich ist alles vorbereitet. Dieser brave Doktor Rüteli erwartet dich längst. Nimm dich zusammen! Fahre endlich hin!«

Martin schaute die warnenden, beschwörenden, zornigen, manchmal sogar angewiderten Freunde schläfrig, zärtlich und verhangen an – und er blieb. Eines Morgens aber kam ein Telegramm von Kikjou: »Wenn du nicht in dieser Woche nach Zürich zur Kur fährst, sehen wir uns nie wieder.« Da entschloß sich endlich der Vergiftete. Übrigens waren auch die Geldschwierigkeiten inzwischen fast unleidlich geworden. Der kleine Wechsel, den der Pariser Geschäftsfreund des alten Korella immer noch monatlich ausbezahlte, langte knapp für die Hotelrechnung. Es gab Schulden bei der Schwalbe und, was schlimmer war, bei Pépé, der sich immer häufiger weigerte, die Droge auf Kredit zu liefern. – Marcel und David finanzierten gemeinsam die Reise nach Zürich.

Doktor Rüteli, der von Paris aus benachrichtigt worden war, holte Martin vom Zuge ab. Er hatte ein großes, rasiertes Gesicht mit etwas hängenden Wangen und nachdenklichen braunen Augen. Stimme, Blick und Antlitz wirkten weichlich; der Händedruck aber war überraschend fest und herzlich. »Ich denke, wir fahren gleich zum Haus Sonnenruh«, sagte der Arzt. Martin hatte noch gar nicht gewußt, daß der Ort, wo die Entziehungskur durchgeführt werden sollte, einen so idyllischen Namen trug. Übrigens kam er sich vor wie ein Schüler, der in einer fremden Stadt ankommt, wo er vom Leiter eines sehr strengen Internats – einer Art von Strafanstalt für Jugendliche – erwartet wird. Für den Anfang ist der Herr Lehrer freundlich, um es dem Jungen nicht gar zu schwer zu machen.

»Wann haben Sie sich die letzte Injektion appliziert?« erkundigte sich Doktor Rüteli im Taxi.

»Vor einer Stunde etwa, im Zug.« Martin erklärte es nicht ohne einen gewissen Trotz, als wollte er sagen: Damals war ich noch ein freier Mann, und niemand hatte mir etwas dreinzureden!

Doktor Rüteli nickte düster. »Man kann es Ihren Augen ansehen. – Übrigens hatte ich Sie schon vor vierzehn Tagen erwartet. Vor genau vierzehn Tagen hatte mir unser Freund, Doktor Deutsch, Ihren Besuch angekündigt.« Es klang ziemlich drohend. Martin sagte schläfrig: »Ich war in Paris durch wichtige Arbeiten festgehalten.« Doktor Rüteli machte höhnisch: »Aha.« Martin ärgerte sich. Der Arzt merkte es; schien es gutmachen zu wollen und bot Zigaretten an. Martin hatte wieder das Gefühl, ein Sträfling zu sein, dem man aus Mitleid – oder vielleicht zum Spott – unbedeutende kleine Vergünstigungen gewährt, ehe die eigentliche Bitterkeit des Strafvollzuges beginnt.

Während der Wagen in einer stillen, recht soigniert wirkenden Straße hielt, sagte Doktor Rüteli noch, mit freundlich-ernster Nachdrücklichkeit: »Haus Sonnenruh ist keine geschlossene Anstalt, Herr Korella; sondern ein privates, fast wie ein Hotel geführtes Erholungsheim. Ich persönlich ziehe geschlossene Häuser für Entziehungskuren ganz entschieden vor. Ja, ich muß gestehen, daß ich zunächst die stärksten Bedenken hatte, dem Rate Ihres Freundes Deutsch zu folgen, der dahin ging, Ihnen jede irgendwie überflüssige Kontrolle, alle Peinlichkeiten eines vorübergehenden Freiheitsentzuges zu ersparen. – Nun ist es freilich höchst fragwürdig«, fuhr der Doktor pedantisch fort – der Chauffeur hatte schon den Motor abgestellt; aber Rüteli schien entschlossen, seinen kleinen Vortrag im Wagen sitzend zu beenden – »bis zu welchem Grade der Freiheitsentzug bei einer Kur, wie sie Ihnen bevorsteht, als entbehrlich zu bezeichnen ist. – Jedenfalls, von einer regulären Entziehung kann unter diesen Umständen natürlich gar nicht die Rede sein«, erklärte er, plötzlich fast zornig. Dann fügte er sanfter hinzu: »Der Erfolg des Experimentes hängt durchaus von Ihrem eigenen guten Willen ab, lieber Herr Korella!« Er versuchte, seinem Gesicht einen ermunternden Ausdruck zu geben.

Martin bezahlte das Taxi, während Doktor Rüteli zerstreut in die Luft blickte.

An der Haustüre erwartete eine hübsche junge Person in Pflegerinnentracht den neuen Patienten. Der Arzt stellte vor: »Schwester Rosa.« Sie wirkte sowohl mild als adrett; das Lächeln ihres sehr kleinen und roten Mundes war keusch und sanft, doch nicht ohne Koketterie.

In der Dämmerung des Korridors, durch den Schwester Rosa die Ankömmlinge geleitete, tauchte noch ein zweites weibliches Wesen auf: Fräulein Bürstel, die Direktrice des Hauses. Sie hatte auffallend rote Backen und hellblaue, wässerige Augen. Martin konstatierte sofort, daß sie ungewöhnlich dumm war. »Mögen Sie sich recht wohl bei uns fühlen!« rief sie, beide Hände innig ausgestreckt. Martin erwiderte eisig: »Ich danke Ihnen, gnädige Frau.« Daß er sie gnädige Frau titulierte, war die pure Bosheit, da Rüteli die Dame ja soeben als »Fräulein« vorgestellt hatte. Die Bürstel schickte denn auch einen halb pikierten, halb nachsichtigen Blick über ihn hin, als fände sie sich einem Irrsinnigen gegenüber, dessen Unarten zwar lästig sind; jedoch bleibt nichts übrig, als sich gütig mit ihnen abzufinden. »Ich denke, wir geben dem Herrn Zimmer vier«, wisperte die Direktrice dem Doktor zu, als handelte es sich um ein Geheimnis, in das eingeweiht zu sein für den Kranken gefährlich, ja, verhängnisvoll werden müßte.