Klaus Mann - Das literarische Werk

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Der wurde immer energischer und immer geübter, was die politisch propagandistische Aktivität betraf. Ein großer Teil der aufklärenden, warnenden, zum Widerstand rufenden Texte, die den geheimen, schwierigen, gefahrvollen Weg nach Deutschland fanden, stammte von ihm. Ein geheimnisvoller Nimbus begann, sich um seine Person zu bilden. Niemand wußte im Grunde genau, was er alles organisierte; wieviel wichtige und unsichtbare Fäden in seinen Händen zusammenliefen. Er trat häufig kleine Reisen an, deren Ziele unbekannt blieben. War er nach Prag unterwegs, oder nach Kopenhagen, oder gar nach Berlin? Richtete er einen Schwarzsender in Straßburg ein, dessen aufrührerische Verlautbarungen von deutschen Proleten, nachts und unter Lebensgefahr, abgehört wurden, oder konspirierte er mit Gesinnungsgenossen in Wien …? Theo Hummler redete nicht viel. Seine Miene wurde immer verschlossener, fast unheilverkündend vor lauter Energie und Geheimnis.

Bei anderen war es deutlicher, was sie taten und womit sie etwas erreichten. Ilse Ill zum Beispiel, die Kabarettistin, hatte plötzlich einfach Erfolg – in allen Zeitungen stand es zu lesen. Monate und Jahre war sie arbeitslos umhergegangen, fast verzweifelt und schon halb zerlumpt, und jedem, der nicht davonlief, hatte sie es erzählt: »Schon wieder hat ein Direktor zu mir gesagt, ich sie ihm zu häßlich. Dabei hat er mir zugegeben, ich hätte Talent. Wenn ich aber Talent habe, dann habe ich ein Gesicht. Und wenn ich ein Gesicht habe, dann bin ich doch nicht häßlich …« Gleichsam über Nacht hatte man es entdeckt, ihr Gesicht, und nun leuchtete ihre Photographie aus den Illustrierten. Sie hatte es geschafft, freilich unter Verwendung radikaler Mittel. Der Einfall war ihr gekommen, sich das Haar grasgrün zu färben. Dazu schminkte sie sich die Lippen schwärzlich, die Wangen violett, und wählte zu einem schwarzen engen Kleid eine scharlachrote Pierrotkrause. Es fiel immerhin auf. Außerdem hatte sie sich ein Programm einstudiert, das an fürchterlicher Kraßheit nichts zu wünschen übrig ließ. Zunächst durfte sie es nur in einem sehr bescheidenen Nachtlokal zum Vortrag bringen. Dort fanden sich Leute, die es interessierte; daraufhin machte sie einen Selbstmordversuch. Die Pariser wurden neugierig. Die Direktion eines großen Montmartre-Kabaretts bot ihr einen Vertrag an. Sie wand sich schlangenhaft zwischen den Tischen, an denen Sekt getrunken ward, warf die schwarzen Arme gen Himmel, verzerrte das bläuliche Gesicht über dem makabren Putz der Scharlachkrause und schrie tragische Obszönitäten. Dieses war der Erfolg.

Auch Bobby Sedelmayer hatte es noch einmal geschafft. Dem charmanten, unverwüstlichen und gutmütigen Burschen zeigte sich in Shanghai das Glück wieder treu, das ihn an der Avenue de l’Opéra vorübergehend verlassen hatte. Seine Berichte aus China hatten begeisterten Ton. »Meine Bar ist die schönste des Fernen Ostens!« meldete er enthusiastisch – und alle, die dort gewesen waren, bestätigten es. »Nur Ihr fehlt mir!« versicherte Bobby den alten Freunden. »Sonst wäre ich restlos froh.« – Er hatte sein Lokal in einem der ersten Hotels der Stadt etablieren können. Es war ein geselliges Zentrum dieser Weltgegend. Bobby verdiente in so hübschen Mengen, daß er dem jüdischen Comité, für das Dora Proskauer arbeitete, eine runde Summe überweisen konnte. An den Bankier Bernheim schrieb er, nicht ganz ohne Spott: »Wenn Sie in dieses Unternehmen Geld investiert hätten, verehrter Freund, wären Sie fein heraus!«

Übrigens hatte der Finanzier die Verluste, die seine Beteiligung an der »Rix-Rax-Bar« für ihn bedeutet hatte, leicht verschmerzen können. Ihm ging es vortrefflich; sein geschäftliches Genie bewies sich auch unter den abnorm erschwerten Umständen seiner jetzigen Existenz. Die prachtvolle Wohnung in Passy hatte schon wieder fast ebensoviel mondäne Anziehungskraft wie einst die Grunewaldvilla. Die Elite der Emigration – Künstler, Politiker und die Herren von der Börse – begegneten sich dort mit dem höheren Personal der Botschaften, Pariser Zeitungsbesitzern und den halb deklassierten Mitgliedern des Faubourg St.-Germain. Bernheim genoß die allgemeine Achtung. Einen Teil des Jahres verbrachte er in einem kleinen Ort bei Palma, auf der Insel Mallorca, wo er eine Villa gekauft hatte.

Dort hielt sich Professor Samuel auf, auch während der Hausherr abwesend war. Samuel hatte sich verliebt in Mallorca, in die Landschaft und in die Menschen. Außerdem hatte er dort ein sorgenloses Leben. Der Bankier schätzte ihn als Künstler wie als Causeur; großzügig und ohne gar zuviel Wesens davon zu machen, stellte er ihm Haus und Garten, Dienerschaft und Weinkeller, Küche und Bibliothek zur Verfügung. Wenn Samuel sich bedanken und die Großmut seines Freundes preisen wollte, sprach Bernheim schlicht: »Ich bin stolz darauf, mein Lieber, daß in meinem Hause Meisterwerke entstehen.« – Wirklich gerieten dem Maler auf Mallorca Bilder von ungewöhnlicher Qualität: Ansichten von Meer und Bergen in starken, hart leuchtenden Farben und reizende Porträts von Fischerknaben, Stierkämpfern oder Bauernfrauen. Eine kleine Gruppe von Künstlern – Schriftstellern oder Malern – begann sich um das mallorquinische Idyll von Samuel und Bernheim zu bilden. Man verbrachte unschuldsvolle, blaue Tage am Strande und wilde Nächte in Palma. In Bernheims Villa war der Tisch stets für viele gedeckt. Wenn der Bankier in Paris weilte, vertrat ihn Samuel: schalkhaft und würdig, mit Grandezza, milder Klugheit und gepfeffertem Witz.

Die Zeit verging, auch für die Emigranten. Schriftsteller schrieben Bücher – manche davon waren gut, andere ließen zu wünschen übrig; Politiker entwarfen ihr Programm und stritten mit den Kollegen darüber; Zeitschriften wurden gegründet und gingen ein; Frauen gaben sich hin, erwarteten ein Kind, ließen es abtreiben oder bekamen es; Geschäftsleute spekulierten; Ärzte und Rechtsanwälte hatten keine Praxis, aber doch ab und zu Klienten; Schauspieler hatten kein Engagement, aber durften sich doch hier und dort öffentlich zeigen. Das Leben stagniert nicht, geht weiter, bringt Überraschungen, Veränderungen, Sensationen, Schmerzen, kleines Glück, heftigen Kummer, Langeweile, Lust, Müdigkeit, Hunger, Schreck, Enttäuschung.

Sogar für die arme Friederike Markus sollten schließlich Abenteuer kommen. Wie lange Zeit hatte sie nun, einsam und abgetrennt von allen übrigen, in ihrer tristen Wahnwelt gelebt? Jahre waren vergangen … Sie ging immer noch mit ihrem gelben Handtäschchen umher, in dem die Parfümflaschen an die Tuben mit Zahnpasta klapperten, und immer noch verfaßte sie ihre endlosen Epistel an britische Politiker, italienische Dirigenten oder deutsche Dichter. Tag und Nacht aber, ob sie schrieb oder Eau de Cologne verkaufte, träumte sie von jenem Gabriel, der sie verlassen hatte. Da erschien er ihr.

Als sie wieder einmal in einem Bistro saß und im Begriffe war, eine ausführliche Klage an Frau Lagerlöf abzuschließen, mußte sie plötzlich aufschauen vom Papier. Ein Windhauch hatte sie angerührt; aber diesmal war er nicht frostig böse, vielmehr tröstlich mild: Hauch, Glanz und Wohlgeruch in einem. Friederike, die ihren Blick sehnsüchtig ausschickte, erkannte Gabriel; in höchst anmutiger Pose stand er gegen die Theke gelehnt. Er trug einen grauen Sportanzug mit weiten Pumphosen; von den Schultern aber wuchsen ihm silbrigblaue Flügel, starr und leuchtend, wie angefertigt aus einem biegsamen, starren und spröden Metall. Unter einer schicken englischen Schirmmütze, die er tief in die Stirn gezogen trug, glänzten die Augen des huldreichen Engels derartig stark, daß Frau Viola sich zugleich entsetzt und beseligt fühlte. Ach, ihr Gabriel war wiedergekommen, alles konnte gut werden. Siehe – er hielt ein kleines Glas, gefüllt mit golden bräunlicher Flüssigkeit, auf kokette Art in der Hand. Den rechten Fuß hatte er lässig vorgestellt, wie ein Tänzer, der ausruht von seinen herrlichen Sprüngen und der, noch in der Ruhe, den hohen Anstand, die spielerische Grandezza des Tanzes bewahrt. Strahlenglanz umfloß ihn; die arme Viola zitterte davor, es könnte jene Rosenwolke wieder herbeigeschwebt kommen, auf der die Götter ihre Lieblinge entführen. »Gabriel!« rief sie schluchzend und reckte die hageren Hände nach ihm.

Ein mürrischer alter Kellner wunderte sich darüber, daß die eifrig schreibende Dame plötzlich mit weinerlich-schriller Stimme einen Herrn anrief, den sie vorher gar nicht beachtet hatte. Er befand sich schon seit einer Viertelstunde im Lokal und trank gerade seinen dritten Cognac. Als die Dame unvermittelt »Gabriel!« schrie, wandte er sich ihr zu und lächelte wie jemand, der dergleichen gewohnt ist. »Wie beliebt, bitte?« fragte er mit einer Stimme, die sowohl kräftig als auch einschmeichelnd war.

Die Frau am Tisch schien aus einem tiefen Traum zu erwachen. »Entschuldigen Sie!« brachte sie mühsam hervor. »Ich habe Sie … mit einem Bekannten verwechselt …« Die Hände und die Lippen zitterten ihr. ›Sie sieht ja besorgniserregend aus‹, dachte der junge Mann. Während er federnden Schrittes auf sie zutrat, sprach er mit einer galanten Neigung des Oberkörpers: »So etwas kann passieren!« Und er fügte hinzu – wobei er sich ein geübtes Don-Juan-Lächeln wie eine feine seidene Maske übers Gesicht zog: »Mein Name ist Walter Konradi. Sind Gnädigste auch Emigrantin?«

Monoton zugleich und dramatisch bewegt verlief das Leben der beiden Knaben, Martin und Kikjou. Immer noch bewohnten sie miteinander das zu teure Atelier, Rue Jacob, mit dem schönen Blick aus dem großen Fenster über die Dächer und in die winkligen Straßen des Quartiers. Immer noch vergingen ihnen die langen Nächte mit den Gesprächen und den Liebkosungen; die kurzen Tage aber verschliefen sie beinah ganz. Dazwischen gab es Szenen, Auftritte mit Tränen, Schreien und wilden Worten. Manchmal trennten sie sich; aber niemals länger als für einige Wochen. Es war immer Kikjou, der abreiste: zu den Verwandten nach Belgien oder Lausanne, oder mit einer älteren Dame, die ihm nachstellte, nach London, oder mit einem jungen Amerikaner nach Biarritz. Martin blieb – und eines Tages trat auch Kikjou wieder ein, das lieblichbleiche Affengesichtchen starr vor Zärtlichkeit, Hysterie und einer Freude des Wiedersehens, in die sich Verzweiflung mischte: »Me voilà, da bin ich wieder, alles kann von vorne anfangen – wir kommen voneinander nicht los.«

 

Und alles fing wieder von vorne an. Ewig wiederholten sich Martins Vorwürfe: »Du betrügst mich! Wie eine kleine Hure bist du, im Gesicht und am ganzen Körper, auch deine Frömmigkeit ist nur eine besonders unappetitliche Form deiner maßlosen Geilheit.« Darauf Kikjou: »Du bist es, der mich täglich und stündlich betrügt – mit dem Gift, mit dem Teufelszeug!« – Und Martin, nicht ohne Hohn: »Du nimmst es ja selber! Heuchler du! Du kannst ja selbst gar nicht mehr auskommen ohne deine chose infernale!« – Kikjou: »Spotte auch noch! Triumphiere auch noch! Du hast mich zum Morphinisten gemacht!«

Er hatte nicht widerstehen können. Die Zeiten, da er mit einer etwas grausamen Neugierde Martins Exzesse beobachtet hatte, waren dahin. Die Fremdheit, in die ihm Martin entglitt, wenn die Droge sein Gesicht und seinen Blick veränderte, hatte anfangs für Kikjou einen Reiz bedeutet. Schließlich wurde es unerträglich. Zwei Menschen, von denen der eine intoxikiert ist, der andere nicht, können auf die Dauer nicht zusammen sein. Sie leben in verschiedenen Welten: Kikjou begriff dies bald. Eines Nachts verlangte er danach, la chose infernale zu kosten. Wie geschwind gewöhnte man sich! Er konsumierte sie in kleineren Dosen als Martin, auch noch nicht mit der gleichen Regelmäßigkeit. Aber er spürte doch schon, wie er verfiel. Er beichtete, sowohl dem Onkel in Belgien als auch dem Priester. Aber er konnte nicht aufhören. Der Teufel hatte ihn fest in den Krallen. Der Teufel vermag mannigfache Gestalt anzunehmen. In einem winzigen Paketchen aus festem, rotem Papier findet er Platz …

Die beiden magerten ab. Ihre Gesichtsfarbe wurde grau, die Haltung schlaff, der Appetit ließ nach, auch die sexuelle Potenz. Es gab Zeiten, da Kikjou beinah gar nichts mehr bei sich behalten konnte; er übergab sich fast nach jeder Mahlzeit. Oft blieb er den ganzen Tag im Bett liegen, während Martin wenigstens abends sich für einige Stunden erhob. Er ging zur Schwalbe und plauderte mit David Deutsch oder den anderen Freunden. Nach einer gewissen Weile freilich begann er zu gähnen, apathisch, schlapp und melancholisch zu werden. Dann zog er sich auf die Toilette zurück – um nach einer Viertelstunde frisch und munter wieder zu erscheinen. Mit neuen Kräften mischte er sich ins Gespräch, das er bald beherrschte. Er war amüsanter denn je; auf seine kokett gedehnte, zugleich pedantische und brillante Art formulierte er Aperçus über Politik, Menschen oder Literatur. Alle Blicke hingen an seinem schönen, trägen und bleichen Gesicht. Seine graugrün verschleierten Augen, in denen die Pupillen hart und winzig klein waren, hatten eine neue Macht, eine geheimnisvoll starke Beredsamkeit bekommen. David liebte und bewunderte ihn. Er war seinerseits tief versponnen in seine soziologisch-philosophischen Arbeiten; Martin war fast der einzige Mensch, für den er noch ein echt lebendiges Interesse fühlte. Mit keinem war das Gespräch so anregend – fand David – wie mit diesem jungen Poeten, der fast nichts schrieb und sich selbst allmählich zugrunde richtete. David arbeitete an einem Institut für soziale Forschung und war Mitherausgeber einer wissenschaftlichen Monatsrevue. »Wie gut könnten wir dich dort brauchen!« sagte er Martin oft. »Dir fällt mehr ein als den meisten Professoren.« – »Ich kann nicht.« Martin hob nur müde die Schulter. »Du mußt mir ein bißchen Geld leihen, David. Pépé will nicht länger warten. Morgen oder übermorgen bekommst du es ganz bestimmt wieder.«

Pépé war die große, herrschende Figur in Martins Leben geworden. Der Händler hatte inzwischen häufig sein Stammlokal wechseln müssen. Auch verhaftet war er einmal gewesen. In dieser Zeit hatte sein Cousin »das Geschäft« geführt. Aber mit dem war nicht auszukommen; statt Morphine zu nehmen, trank er Schnaps – was viel unbekömmlicher war und ihn jähzornig machte. Pépé hingegen war ein Gentleman; in seiner Art fast ein Weiser. Übrigens hatte er für Martin und Kikjou die zärtlichste Sympathie; er nannte sie »meine Lieblingskinder« und räumte ihnen längere Kredite ein als den übrigen Kunden.

Trotzdem gab es ständig finanzielle Schwierigkeiten – nicht nur mit Pépé, sondern auch mit der Patronne des Hotels. Alte Korellas schickten immer weniger und immer unregelmäßiger: die komplizierten und strengen Devisenbestimmungen waren schuld, wie sie behaupteten. Martin glaubte es nicht; er sagte, es fehle an gutem Willen: »Sie lassen ihren kranken Sohn glatt verhungern.« Kikjou seinerseits war mit dem Papa, der seinen Lebenswandel permanent mißbilligte, immer noch nicht versöhnt. Die Verwandten in Lausanne ließen ihn zappeln, wenn sie irgend Lust dazu hatten. Der belgische Oheim kam einzig und allein als Spender geistlichen Trostes in Frage. Oft waren die beiden Knaben in der Rue Jacob ganz verzweifelt. Wenn David Deutsch und der hilfsbereite Marcel nicht gewesen wären, hätte man sie längst aus dem Hotel gewiesen.

Martin versuchte zu arbeiten. Der große Roman, von dem er sich soviel versprochen hatte, kam nicht zustande. Hingegen plante er nun eine kleine Serie von Prosastücken, teils hymnischer, teils analytischer Art – Tagebuchseiten, Bekenntnis, politische Aphorismen, philosophische Lyrik. Als Motto hatte er eine Stelle von André Gide gewählt:

»Il y a dans tout aveu profond plus d’éloquence et d’enseignement qu’on peut croire tout d’abord.«

Veröffentlicht hatte er in all der Zeit nichts, außer einer kritischen Studie über den »verruchten Lieblingsdichter«, den deutschen Lyriker, Arzt und Denker, der, in einer Mischung aus irrationaler Berauschtheit, Hysterie und Opportunismus, ein Mitläufer des Naziregimes geworden war. Martins Artikel, dem die intime Kenntnis des Gegenstandes, Liebeshaß, Gram und Enttäuschung eine gewisse intellektuelle Beschwingtheit, einen zornig-zärtlichen Impetus verliehen, war in einer der neugegründeten literarischen Monatshefte erschienen und hatte in Kennerkreisen Aufsehen gemacht. Nun erst recht sagte man allgemein, wenn man von Martin sprach: »Es ist schade um den Jungen.«

Im Februar 1936 waren die beiden gerade in einem besonders deplorablen Zustand. Sie beschlossen, für einige Wochen nach Südfrankreich zu fahren; Kikjou hatte eine größere Überweisung aus Lausanne erhalten. Pépé lieferte ihnen den Heroinvorrat, mit dem sie auskommen wollten. Denn ein Zweck der Reise war, mit den Dosen »herunterzugehen«.

Der kleine Ort Villefranche liegt in der Nähe von Nice. Sie wohnten in einem Hotel am Hafen. Ihr Zimmer hatte hellblau getünchte Wände und den hübschen Blick auf die Bucht. Die Tage waren sehr milde, Himmel und Wasser schimmerten, vor dem blauen Hintergrund ließen Boote das starke Braun ihrer Segel leuchten. Martin und Kikjou waren ein paar Tage lang glücklich. Sie liebten den Ort mit seinen engen und stillen Gassen, die steil zum Berg hinaufstiegen und deren Schläfrigkeit sich festlich belebte, wenn ein amerikanisches Schiff anlegte. Dann füllten sich die Pfade, die Bars und die Plätze mit den Matrosen; sonst gab es aber hier nur bleiche Kinder, die schwermütig in der Nase bohrten, und fahle Katzen, die lautlos durch die gehäuften Abfälle huschten. – Martin und Kikjou liebten einander. Sie versprachen, daß sie sich niemals verlassen wollten. Sie waren nicht »heruntergegangen« mit den Dosen, sondern konsumierten reichlicher denn je. Nach acht Tagen war ihr Vorrat zu Ende.

Sie telegraphierten an Pépé; er antwortete nicht. Sie versuchten ihn telefonisch zu erreichen; umsonst. Vielleicht war er wieder einmal verhaftet worden. Sie liefen zum Apotheker in Villefranche und bettelten um einige Ampullen Morphine. Der Apotheker wurde grob, schrie sie an, mit solchem Gesindel wolle er nichts zu tun haben, und schmiß sie aus seinem Laden. In Nice fanden sie einen, der höflicher war; er verkaufte ihnen aber nur eine kleine Dosis Eucodal und ein paar Pantopon-Tabletten. Das stillte nur den ersten, gierigsten Hunger. Nach ein paar Stunden fing der Jammer wieder an.

Es war beinah nicht auszuhalten. Sie stürzten wie die Irrsinnigen durch das Zimmer; schrien sich Beleidigungen zu. Beide aufs äußerste gereizt, beide furchtbar erbittert; den halben Tag verbrachten sie in einer Wanne voll heißem Wasser, weil es dort noch am erträglichsten war. Im warmen Naß hilflos aneinandergeschmiegt, schluchzten sie lange. Wie wir leiden! Armer Kikjou! Ärmster Martin! Wie wir leiden müssen! – Abends setzte sich Martin in den Zug nach Marseille. Am nächsten Vormittag kam er mit neuem Vorrat zurück.

Sie labten sich beide; Kikjou zog das Zeug durch die Nase hoch – er hatte eine nervöse Angst vor dem Einstich der Spritze – während Martin sich die Injektion »intravenös« – nicht »subkutan« – in den Arm applizierte. Dazu bedurfte man eines gewissen Talentes und langer Übung. Der Arm wurde abgebunden, wie zu einer Operation. Das Instrument, dessen Nadel in der Ader steckte, füllte sich mit schäumend-trüber, roter Flüssigkeit: es war Blut, Martins Blut – Kikjou beobachtete den Vorgang mit Ekel und Interesse. Die Wirkung war, dank der intravenösen Injektion, wesentlich stärker und schockhafter. Martin, übermüdet von der nächtlichen Reise, betäubt von der Droge, verfiel in sehr schweren Schlaf. Auch Kikjou, der mehr als gewöhnlich durch die Nase hochgezogen hatte, schlief ein. Als er Stunden später erwachte, fand er den Freund neben sich, weiß im Gesicht und ganz leblos. Er hielt ihn für tot und schrie leise auf. Kurz entschlossen schrieb er einen Zettel – »Ohne dich kann ich nicht leben! Niemals!« – und schluckte neun Veronaltabletten, um möglichst schnell seinerseits zu sterben. Pathetische Mißverständnisse, wie im letzten Akt von Romeo und Julia – den armen Kikjou hätten sie leicht das Leben kosten können. Er wurde gerettet; ein Arzt kam herbei, es war vier Uhr morgens, der Doktor schimpfte, aber er pumpte Kikjou den Magen aus.

Nun hatte Kikjou genug. Er hatte dem Tod ins Auge geblickt, um Martins willen, seine Geduld war am Ende, er rief aus: »Alles, was wir tun, ist Greuel und Schande. Ich verlasse dich, Martin. Morgen beginne ich eine Entziehungskur, die ich durchzuführen gedenke. Dich schaue ich nicht mehr an, ehe auch du völlig los bist von der chose infernale. Dies ist Teufelsdreck!« Er schleuderte ein Paketchen mit dem kostbaren Heroin aus dem Fenster. Martin raste, teils wegen der vergeudeten Droge, teils weil der Geliebte ihn verlassen wollte. »Das kannst du nicht tun!« heulte er auf; unklar blieb, worauf es sich bezog.

Sie standen sich vor der hellblau getünchten Wand gegenüber, zwei kampfbereite Jünglinge, beide zitternd, beide mit weißen Lippen.

»Ich kann es!« schrie Kikjou. »Denn ich will leben. Gott hat mich nicht dazu geschaffen, daß ich mich zugrunde richte. Was wir treiben, das ist die Sünde wider den Heiligen Geist.«

»Unsinn!« Martin war aufs äußerste erregt und zornig. »Gesteh doch gleich, daß du mich nicht mehr liebst! Habe doch den Mut, es mir ins Gesicht zu sagen! Ich aber liebe dich noch.« Es klang schrecklich, wie eine Kampfansage. »Und ich lasse dich nicht. Du kannst mich nicht töten.«

Kikjou, etwas leiser: »Ehe ich mich von dir töten lasse …« Dann scheuchte er Martin, der sich ihm nähern wollte, von sich, wie man einen bösen Geist verscheucht.

Beide fühlten: diesmal war es ernst. Sie hatten sich mancherlei dramatischen Spaß und viel hysterisches Amüsement gegönnt. Diesmal ging es ums Ganze. Die Pantomime ihres bitteren Abschiedes hatte sich vom Hintergrund der hellblauen Wand gelöst. Nun wurde sie vor dem geöffneten Fenster zu Ende gespielt; dahinter leuchtete das Meer mit den braunen Segeln. – Keine Umarmung mehr; kein Gruß mehr; stummes, blindes Auseinandergehen.

Martin kehrte alleine nach Paris zurück.