Klaus Mann - Das literarische Werk

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Zu ihnen gesellten sich Nathan-Morelli und die Sirowitsch, die längst zueinander gehörten. Der Sirowitsch wegen – an die er sich bis zu dem Grade gewöhnt hatte, daß man beinah von Liebe sprechen durfte – hatte Nathan-Morelli seine Londoner Wohnung aufgegeben und war ganz nach Paris übergesiedelt. »Marions Programm verspricht interessant zu werden«, sagte er zu Bobby und blickte klug aus den schräggestellten Mongolenaugen.

Das Programm stand unter dem Motto »Zeitgemäße Klassik«. Angekündigt waren Stücke von Schiller, Lessing, Goethe, Heine, Victor Hugo, Gottfried Keller, Nietzsche und Walt Whitman.

Als Marion das Podium betrat, wurde es still im Saal. Die Schwalben-Mutter flüsterte noch: »Wie schön sie aussieht!« Dann verstummte auch sie. Marion begann mit Schillers Gedicht »An die Freunde«. Ihre Stimme rief:

»Liebe Freunde, es gab schönre Zeiten

Als die unsern – das ist nicht zu streiten!

Und ein edler Volk hat einst gelebt.

Könnte die Geschichte davon schweigen,

Tausend Steine würden redend zeugen,

Die man aus dem Schoß der Erde gräbt.

Doch es ist dahin, es ist verschwunden,

Dieses hochbegünstigte Geschlecht.

Wir, wir leben! Unser sind die Stunden,

Und der Lebende hat recht.«

Sie stand regungslos, während sie sprach – noch sparte sie die Gebärden – nur die Finger bewegten sich und die lockige Mähne, wenn sie das Haupt ein wenig in den Nacken sinken ließ. Das überanstrengte Leuchten ihres Blickes war sowohl beängstigend als bezaubernd. Durch den gereckten Körper schienen Schauer zu laufen wie elektrische Schläge. Auch die im Saale unten wurden von ihnen berührt; zuerst und am stärksten David Deutsch, der vernehmbar seufzte. – »Wir, wir leben …« Die Schwalbe nickte bedeutungsvoll. Da strömten die Verse schon weiter.

Die Verse strömten. Marions Stimme gab die schönsten, überraschendsten Töne her. Sie drohte und lockte, grollte und jubelte, jammerte und sang, wehklagte und triumphierte; sie leuchtete, blendete, rührte, verführte, erschreckte. Sie kam dumpf aus Tiefen, um sich gleich danach zu ungeahnter Höhe emporzuschwingen. Alle saßen gebannt; auf manchen Mienen spiegelte sich sogar Bestürzung. Wie konnte eine einzelne Menschenstimme so beängstigend abwechslungsreich sein und soviel Erschütterung bringen? Gerade hatten noch die meisten feuchte Augen gehabt, und nun lachte der ganze Saal. Auch Marcels französische Freunde, die nur mangelhaft Deutsch verstanden, amüsierten sich, und selbst der Neger, dessen Daseinszweck es war, Madame Poiret zu schockieren, ließ ein Grunzen hören. Marion rezitierte aus dem Gedicht Heinrich Heines: »Deutschland, ein Wintermärchen«.

In jedem Vers und jeder Prosazeile, die sie ausgewählt hatte, gab es die Beziehung zum Heutigen. Sie war niemals aufdringlich; immer deutlich. Die verewigten Meister schienen an dieses Jahr und an diese Stunde – an dieses Publikum und seine besonderen Leiden schienen sie gedacht zu haben, als sie gewisse Dinge schrieben, die Marion nun zum Vortrag brachte. Die im Saale unten begriffen: Weder unsere Leiden noch unsere Erkenntnisse sind so unerhört und so neu, wie wir in der ersten Aufregung oft meinen wollten. Andere vor uns haben schon gelitten und schon nachgedacht und sind von den gleichen Problemen berührt worden wie wir. Aus ihren Erkenntnissen und Schmerzen aber ist Schönheit geworden. Uns hinterließen sie das große Erbe ihrer Weisheiten und der gestalteten Schmerzen. Dieses Mädchen dort auf dem Podium belebt es neu, mittels ihrer erstaunlichen, sehr abwechslungsreichen und höchst rührenden Stimme. Was für ein Genuß, ihr zuzuhören! Und übrigens ist es auch tröstlich. Es erinnert uns daran, daß wir nicht einsam sind. Erstens haben wir diese Freundin dort oben auf dem Podium – das Mädchen, in dessen Blicke und Stimme wir uns alle verlieben – und dann, die erhabenen Toten, die schon soviel durchdacht und ausgestanden haben, längst ehe wir von all dem etwas wußten. Plötzlich sind sie in unserer Nähe. Wie verklärte Brüder schauen sie uns ernst und freundlich an. Geisterhafte Zusammenhänge stellen sich her; aus den großen Toten sind neue Freunde geworden.

Auch die jungen Leute, die aus Deutschland kamen und die Köpfe voll politischer Neuigkeiten hatten, waren ergriffen. Als Marion den ersten Teil ihrer Darbietung mit einem Gedicht von Gottfried Keller, »Die öffentlichen Verleumder«, effektvoll geschlossen hatte, waren es die jungen Deutschen, die am lautesten applaudierten.

Während der Pause durfte nur Marcel zu Marion kommen. Er sagte ihr, wie schön es gewesen war; er küßte sie, sie saßen beieinander. In dem kleinen Raum, der hinter der Szene lag, konnten sie nicht hören, wie unruhig es drunten im Saale geworden war. Irgend jemand hatte neue Zeitungen von der Straße mitgebracht. Die Nachrichten waren wirr. Niemand wußte noch genau, worum es sich handelte. Aber Unglaubliches schien sich vorzubereiten, in Deutschland drüben, oder war schon im Begriff zu geschehen. Eine Art von Palastrevolution – so hieß es – war ausgebrochen im Dritten Reich. Hatte es schon Tote gegeben? Kam es zu einem Massaker? Und wer würde fallen …? Alles redete durcheinander. Bedeutete dies die große Revolte? Den Zusammenbruch des Regimes? »Jedenfalls ist es der Anfang vom Ende!« riefen viele. Man hörte den Namen des Hauptmanns Röhm nennen. Er hatte zu den Getreuen des Führers gehört. War er aufgestanden gegen seinen Herrn und Meister?

Auch als Marion wieder auf der Bühne erschien, wollte das Reden und Flüstern noch nicht gleich verstummen. Sie stand vor den Draperien des Hintergrundes, sehr schmal und aufrecht in ihrem langen schwarzen Kleid, und wartete, bis die erregten Stimmen schwiegen. Da sie spürte, daß die Aufmerksamkeit ihr noch nicht völlig gehörte, begann sie den Vortrag mit besonderer Vehemenz. Sie sprach eine Hymne von Walt Whitman an die Demokratie. »Oh Demokratie, ma femme!« Dabei breitete sie enthusiastisch die Arme, und aus ihren Augen leuchtete es stärker denn je. Der Zauber ihrer Stimme wirkte wieder; er beruhigte und erschütterte. Besänftigt zugleich und auf schönere Art erregt, lauschten die Menschen, die eben noch besessen gewesen waren von den wirren Neuigkeiten des Tages. Eine Stunde lang vergaßen sie den General von Schleicher, den Hauptmann Röhm und jenen Hitler, der die beiden anderen vielleicht schon hatte umbringen lassen. Sogar der Präsident von Hindenburg sollte ermordet sein, wie manche besonders Eingeweihte wissen wollten – und die Reichswehr stand in offener Rebellion. All dies war beispiellos sensationell; nur schien es plötzlich weniger bedeutsam, da die Klagen und Weisheiten der längst Verstorbenen so nahe herangebracht wurden und eine so schön beredte Sprache führten, durch das Medium von Marions Stimme, die aufrührerisch oder zärtlich war, tödlich betrübt oder überschwenglich heiter, gellend oder zart.

Nach dem Vortrag war der Beifall heftig, aber dauerte nicht sehr lang. Während in den vorderen Parkettreihen noch ein paar Dutzend Menschen standen und leidenschaftlich in die Hände klatschten, wurden hinten schon wieder die Blätter mit den wilden, ungenauen Neuigkeiten herumgereicht und gierig diskutiert. Der General von Schleicher – lautete die Nachricht – marschierte an der Spitze der empörerischen Armee gegen Berlin. Es war zu schön und zu sensationell, um die Wahrscheinlichkeit für sich zu haben. Doch wollten alle es sehr gerne glauben. Niemand erkundigte sich, woher die Gerüchte kamen. Sie schienen durch die Luft heranzuschwirren, noch unkontrollierbar, noch unbeweisbar, verwirrend, Hoffnung und Entsetzen erweckend …

Eine schwerhörige alte Dame, die sich im Gefolge der Proskauer bewegte und lange nicht verstand, wovon die Rede war, wurde ganz ausgelassen, als sie endlich begriff. »Aber das ist ja großartig!« rief sie mit einer Stimme, die vor Munterkeit krähte. »Dann ist ja der ganze Spuk vorüber, und wir können alle nach Berlin zurück!«

Ein paar Sekunden lang sagte keiner ein Wort. Jeder starrte auf die alte Dame, die es gewagt hatte, dies auszusprechen. Dann lachten einige – als wollten sie bekunden: Uns kann man nicht bluffen! Wir bleiben skeptisch! Aber in den Augen glitzerte es.

Das war am 30. Juni 1934.

Martin schrieb. Von dem großen Roman, den er plante und von dem er sich soviel versprach, war noch nicht viel mehr da als ein paar Notizen. Nun aber wollte er das Vorwort machen.

Es war still im Zimmer. Kikjou schlief. Nach den langen Gesprächen und den Liebkosungen ohne Ende waren ihm endlich doch die Augen zugefallen. Schon lichtete sich die Dunkelheit hinter dem großen Atelierfenster. Die Dunkelheit erbleichte, wurde fahl, hellgraue Töne mischten sich in die Schatten; der neue Tag kam wohl bald. Wenn er heraufgezogen ist, wird Martin sich niederlegen, um ihn fast ganz zu verschlafen. Am besten sind die Stunden der Dämmerung.

Während Martin sich die Papiere zurechtlegte, lächelte er bei dem Gedanken, daß ihm früher einmal schlecht geworden war, wenn er nach dem Genuß der Droge aufrecht am Tisch saß. Jetzt mußte er schon eine ungewöhnlich große Dosis konsumieren, damit Übelkeit sich einstellte. – ›Es wird mir wohl vom Gifte, nicht schlecht.‹

Er hörte Kikjou atmen. Er sah das lichte Grau der Dämmerung sich rosig verfärben. Er schrieb:

»Es ist eine große Unruhe in der Welt. Nicht nur die, welche ihr Vaterland haben verlassen müssen, irren wie Heimatlose umher.

Mit einer Dringlichkeit und einer Angst, mit einer Verzweiflung und einer Hoffnung, wie seit Jahrhunderten nicht mehr, stellt der Mensch sich die Frage nach seiner Bestimmung, seinem Schicksal, seiner Zukunft auf diesem Stern. Zu einem Gott, dessen Antlitz sich uns verhüllt, steigt zu jeder Stunde eines jeden Tages hunderttausendmal der Schrei: Herr, wohin führst du uns? Was hast du vor mit uns, Herr? Welches ist der Weg, den wir gehen sollen? Siehe: wir sind im Begriffe, uns sehr schlimm zu verirren!

 

Das Herz eines jeden Menschen in dieser Zeit ist berührt und ergriffen von der großen Unruhe. Mein eigenes Herz ist berührt und ergriffen; es schlägt angstvoll in meiner Brust.

Deshalb will ich von den Ruhelosen und Heimatlosen erzählen. Mein Ehrgeiz ist es, der Chronist zu sein ihrer Abenteuer und Niederlagen, ihrer Aufschwünge und Zusammenbrüche, ihrer Trostlosigkeit und ihrer Zuversicht. Ich wiederhole die ewige Frage: Herr, wohin führst du uns? Welches ist unser Weg, und wo kommen wir an? Nicht nur die Verbannten, nicht nur die Heimatlosen fragen so; aber bei ihnen – von denen jede Bindung, jede Sicherheit gefallen ist – hat die Frage den dringlichsten Ernst, die meiste Inständigkeit.

Mir ist es aufgetragen, die tausend Formen und Gebärden, in denen diese Frage sich ausdrückt, die Aufschreie und das Gespräch, die Gelächter und das Gebet, das Stöhnen und noch das trostlose Verstummen aufzuzeichnen und festzuhalten.

Für wen schreibe ich diese Chronik der vielen Wanderungen und Verirrungen? Wer wird mir zuhören? Wer wird Anteil nehmen? Wo ist die Gemeinschaft, an die ich mich wenden könnte … Unser Ruf geht ins Ungewisse – oder stürzt er gar ins Leere? Bleibt ein Echo aus? Irgend etwas wie ein Echo erwarten wir doch – und sei es auch nur ein undeutliches, weit entferntes. Ganz stumm darf es nicht bleiben, wo so heftig gerufen wurde.

Und wenn auch noch nicht die Gemeinschaft da ist, von der wir uns verstanden wüßten – einzelne sollte es doch geben, hier und dort Verstreute, die helfen – nicht, indem sie auf die Frage Antwort wüßten; aber dadurch, daß sie die Frage hören und mit uns auf die Antwort warten.

Dringt unsere Stimme zu ihnen? Erreicht sie der Ruf – dieser Angst-und-Not-Schrei, den wir ins Ungewisse, vielleicht ins Leere senden?

Für wen schreibe ich? – Immer haben Dichter sorgenvoll darüber nachgedacht. Und wenn sie es gar nicht wußten, dann haben sie wohl – hochmütig und resigniert, stolz und verzweifelt – behauptet: Für die Kommenden! Nicht euch, den Zeitgenossen, gehört unser Wort; es gehört der Zukunft, den noch ungeborenen Geschlechtern.

Ach, was weiß man aber von den Kommenden? Welches werden ihre Spiele, was ihre Sorgen sein? Wie fremd sind sie uns! Wir wissen nicht, was sie lieben oder was sie hassen werden. Trotzdem sind sie es, an die wir uns wenden müssen.

Die Horizonte unseres Daseins sind verfinstert. Die drohend geballten Wolken künden schon lange das Gewitter an. Es könnte ein Gewitter ohnegleichen werden. Die Katastrophen aber sind kein Dauerzustand. Die Himmel, die wir heute so tief verschattet sehen, erhellen sich wieder. Werden wir, die wir jetzt kämpfen und leiden, von diesem neuen Licht noch beschienen werden?

Es sind andere unterwegs: jüngere Kameraden, jüngere Brüder – wir hören schon ihren leichten Schritt. Denken wir an diese, wenn wir müde werden wollen! Lieben wir die noch Namenlosen! Ihre Stirnen sind noch blank von einer Unschuld, die wir längst verloren. Unsere jungen Brüder sollen nicht schuldig werden, wie unsere Väter und wie wir es gewesen sind. Sie sollen eine bessere Welt kennenlernen als wir. Sie sollen sich freier entwickeln, besser und schöner, kühner und frommer, klüger und sanfter werden dürfen, als es uns gestattet war.

Das Lächeln einer flüchtigen, zerstreuten Dankbarkeit, mit der die jüngeren Kameraden unserer vielleicht gedenken werden, muß des Lohnes genug für uns sein. Irgendwo werden sie – von denen wir uns so gerne vorstellen, daß sie glücklicher sind als wir – auf Spuren stoßen, die von unseren Leiden und Kämpfen zeugen – diesen Kämpfen, die uns heute ganz in Anspruch nehmen, von deren Gewicht und Bitterkeit jenen Knaben aber wahrscheinlich die Vorstellung fehlen wird. Dann werden sie, für eine ganz kurze Weile, innehalten in ihren Spielen und in ihrem Werk. Ein paar gerührte Sekunden lang beschattet Nachdenklichkeit ihre Stirne, einer Wolke gleich, die schnell vorüber ist. Sie blättern, nicht ohne Mitleid und vielleicht nicht ganz ohne Achtung, in dieser Chronik von den vielen Wanderungen und den vielen Fragen. Dann kommt ihnen wohl eine Ahnung, was von uns gesündigt und bereut, durchkämpft und gelitten worden ist – und wir sind nicht vergessen.«

Zweiter Teil 1936—1937

Wer das verlor,

was du verlorst,

macht nirgends halt.

NIETZSCHE

»VEREINSAMT«


fen und das »Staatsoberhaupt eines befreundeten Landes« mit derben Worten beleidigt. Auch Ernst hatte sich in die Diskussion gemischt und seinerseits manch saftige Grobheit über die hohen Herren in Berlin laut werden lassen. Die Spitzel im Saal wußten natürlich genau, daß diese beiden unverschämten Redner Deutsche waren, die sich ohne Erlaubnis in der Republik aufhielten. Die diplomatische Vertretung des Dritten Reiches beschwerte sich bei den Prager Behörden über Hans Schütte und seinen Freund Ernst. Die zwei erkannten: Es gibt dicke Luft! – »Wir machen uns dünn!« beschloß Hans.

Es fiel ihnen gar nicht leicht, sich von der Stube zu trennen, die sie nun seit drei Jahren miteinander geteilt hatten. Aber gerade dort wären sie gleich geschnappt worden. Sie zogen es vor, bei einem Kameraden zu übernachten. Der verschaffte ihnen auch falsche Pässe. Übrigens wollten sie diese nur im äußersten Notfall benutzen. Was sie für die nächste Zeit vorhatten, war eine Art von Fußtour durch Europa. Über die Grenzen hofften sie ohne Papiere heimlich zu gelangen – ohne echte Pässe und ohne Benutzung der gefährlichen falschen. »Irgendwo werden wir schon bleiben dürfen«, meinten sie beide – immer noch zuversichtlich, trotz allem, was an trüben Erfahrungen schon hinter ihnen lag.

Sie verabschiedeten sich von den Kollegen, die ihnen manchmal Arbeit verschafft hatten oder ein bißchen Geld oder ein warmes Abendessen. Während all der Jahre war man wöchentlich mindestens einmal in dem kleinen Bierlokal zusammengekommen, um Gespräche über Politik zu führen. Man hatte sich oft gezankt; aber schließlich war man doch immer irgendwie einig geworden. Es trafen sich Deutsche, die Sozialdemokraten waren, mit solchen, die zu den Kommunisten gehörten, und auch Tschechen aus den beiden Lagern fanden sich ein. Die Meinungen gingen auseinander; Sozialdemokraten und Kommunisten, Deutsche und Tschechen gerieten sich in die Haare. Am Ende aber stellte sich heraus, daß zwischen allen diesen das Gemeinsame stärker war als das Trennende. Die Tschechen räumten den Deutschen ein: »Natürlich, wir haben auch Fehler gemacht, bei der Behandlung von den Minoritäten. Man versteht das, wenn man weiß, was wir früher auszustehen hatten. – Fehler lassen sich aber korrigieren.« – Die Deutschen erklärten: »Wenn bei uns zu Hause anständige Kerle regierten, dann würde alles in Ordnung kommen, auch zwischen eurem Land und dem unsern. Alles eine Frage des guten Willens! Aber den Nazis ist es doch gar nicht um die Sudetendeutschen zu tun. Es kommt ihnen nur drauf an, eure Republik kaputt zu machen.« Die Tschechen nickten drohend. »Gerade das aber werden wir ihnen nicht erlauben.« Über soviel Entschlossenheit freuten sich auch die Deutschen. Man vertrug sich, und die Streitigkeiten, die es zwischendurch gab, wurden vergessen.

Fast drei Jahre lang hatte man debattiert – welch eine lange Zeit, wieviel Ereignisse, wieviel großen Gesprächsstoff hatte sie gebracht! Im Februar 1934 waren die Flüchtlinge aus Wien gekommen; dort hatte der Bundeskanzler Dollfuß auf die Arbeiter schießen lassen. Noch nicht ein halbes Jahr später ließen die Nazis auf den Bundeskanzler schießen; er verblutete, nicht einmal ein Priester ward zu ihm gelassen. Die Nazis wollten Österreich haben. Mussolini mobilisierte am Brenner. Die Nazis zuckten zurück. – Viel Gesprächsstoff für die Männer am Prager Stammtisch, von denen die meisten beinah nichts besaßen; aber alle hatten sie doch das Recht, frei zu reden und nach Kräften nachzudenken. Von diesem Rechte machten sie Gebrauch, und sie wußten es hoch zu schätzen.

Das Jahr 1935 war noch nicht alt, da trafen schon wieder neue Flüchtlinge ein. Es waren solche, die an der Saar gegen den Anschluß des Gebietes ans Dritte Reich agitiert hatten. Die Saar wurde deutsch. Hitler hatte seinen Triumph – der auch jeder anderen Reichsregierung zugefallen, aber von keiner so dröhnend ausgenutzt worden wäre.

Kurze Zeit danach führte das Dritte Reich die allgemeine Wehrpflicht ein. Erst war die Aufregung kolossal, und am Stammtisch schien man auf das Äußerste gefaßt; dann stellte sich heraus: die großen Demokratien ließen es sich gefallen. Nun fragte man sich besorgt: Wie weit wollen die Nazis gehen, damit England und Frankreich die Geduld verlieren? – Irgendwo aber muß eine Grenze sein – empfanden sie alle. Wird Hitler vor ihr zurückscheuen? Kann er das Letzte und Gräßlichste wagen? – Manche meinten: Die Grenze ist Österreich. Wien bekommt er nicht. Andere blieben skeptisch: England würde auch Wien opfern, um des lieben Friedens willen. – Aber Mussolini? – Antwort: Dem bleibt nichts anderes übrig. – Da erklärten die Tschechen: Wenn es keine andere Grenze gibt – unsere ist unüberschreitbar. Wenn er uns angreift, ist es der europäische Krieg. Der Weltkrieg ist es, wenn er sich an uns wagt.

Die Leute, die aus Deutschland kamen, berichteten von der Unzufriedenheit, die dort wuchs. Kein Amüsement, das man den Massen bot – weder die allgemeine Wehrpflicht noch die Judenhatz, noch die hübschen Feiern anläßlich des Saarplebiszits – konnte darüber hinwegtäuschen, daß viele verbittert waren. Auch fürchteten alle den Krieg. Man suchte, die Arbeiter mittels »Kraft durch Freude« bei Stimmung zu halten; aber am Schluß sollten sie doch nur Kanonenfutter sein, damit Deutschland die Ukraine und das Elsaß bekam; für den Augenblick gab es wenig Butter. Alle Nachrichten aus deutschen Städten sagten das gleiche: die Stimmung ist miserabel. Viele sind in der Opposition – Christen und Sozialisten, bürgerliche Intellektuelle und Proletarier. – Man hörte es gerne, und es ward eifrig besprochen. Übrigens gehörten viele von denen, die sich am Stammtisch trafen, selber zu den politisch Aktiven und Organisierten. Sie fuhren nach Deutschland, arbeiteten mit der illegalen Opposition. Sie hatten Freunde, Verbindungsleute, Mitverschworene in den großen deutschen Betrieben. Sie kannten die Gefahren und die Möglichkeiten dieses unterirdischen, geheimen Kampfes. Sie wußten auch: Man gewinnt ihn nur, wenn man ihn gemeinsam kämpft. In Deutschland, wo es keine Parteien mehr gab, nur noch Machthaber und Unterdrückte, wurde die Einheitsfront aller Antifaschisten fast zur Selbstverständlichkeit.

Jetzt war man im Januar des Jahres 1936. Seit einigen Monaten besprach man die Entwicklung des italienischen Zuges gegen Abessinien. Man breitete afrikanische Karten aus auf dem Holztisch des Prager Bierlokals. Wie weit waren die Räuber schon vorgedrungen? Welche Ortschaften würden jetzt bombardiert werden? Wie lange konnte der Negus sich halten? Würde England Ernst machen mit den Sanktionen gegen die Angreifer? Und kam dann der europäische Krieg?

Kommt der Krieg? Dies blieb immer die letzte Frage. – Werden die Diktaturen stürzen können ohne den Krieg? Und werden sie sich nicht ihrerseits zum Kriege eines Tages gezwungen finden, sogar wenn sie eigentlich viel lieber immer nur erpressen wollten, statt zu kämpfen? – Manche am Stammtisch wünschten sich schon fast die finale Katastrophe, und waren für das blutige Aufräumen – »damit nur endlich Schluß wäre!« Andererseits fürchteten sich alle. Sie erzählten sich Schauerliches über die neuen Erfindungen auf dem Gebiete der Giftgastechnik. »Die Deutschen würden Typhus- und Cholerabazillen aus ihren Flugzeugen werfen«, wußte Hans. »Wir gehen alle kaputt.« Dies war das letzte Wort in ihren Diskussionen.

In Österreich hielten Hans und Ernst sich nicht lange auf. Dort war man gerade jetzt besonders unliebenswürdig zu verdächtigen Gesellen ihrer Art: paßlosem Gesindel, Emigrantenpack, dem die aufsässige Gesinnung, die revolutionären Vorsätze und Ideen auf den ungewaschenen Gesichtern geschrieben standen. – Ein paar Tage blieben sie bei Wiener Kameraden versteckt. Sie bekamen Aufträge für Genossen in der Schweiz. Der Post wagte man wichtige Nachrichten nicht mehr anzuvertrauen. Man verständigte sich durch Parolen, die vertrauenswürdige Boten überbrachten – wie in Zeiten des Krieges. Dann ging die Wanderung weiter.

Manchmal nahm ein freundlicher Automobilist sie ein Stück Weges mit; aber es geschah ziemlich selten. Die meisten fuhren hochmütig vorüber und ließen die zwei Vagabunden auf der Landstraße stehen. Wenn ein Gendarm in die Nähe kam, mußte man sich unsichtbar machen. Es war kein gutes Leben. Manchmal hatten sie sich genug Geld erbettelt oder verdient, um eine kleine Strecke im Zug zu fahren.

 

In Basel trennten sie sich. Sie waren beide relativ guter Dinge. Schweizer Freunde hatten ihnen zu essen gegeben und etwas anzuziehen; denn die Anzüge, die sie unterwegs getragen hatten, sahen schon unerlaubt aus. Hans wollte nach Frankreich. – »Und wenn sie dich dort erwischen?« fragte Ernst. Hans gab zurück: »Und wenn sie dich hier erwischen? – Nach Deutschland können sie uns doch nicht schicken, wir sind politische Flüchtlinge, so was läßt sich beweisen. Sie befördern uns bei Nacht und Nebel über die nächste Grenze. Dann sind wir wieder in einem Land, wo wir eigentlich nicht sein dürften – und so wird das wohl ewig mit uns weitergehen.« Hans brachte es fast mit Munterkeit vor. Er war guter Laune; denn er hatte Bier und Wurst im Leib und ein frisches Hemd darüber. Die Schweizer Freunde waren nett zu ihm gewesen, obwohl er kein Parteigenosse von ihnen war. – »Europa ist ein gastlicher Erdteil!« rief er aus – halb wirklich dankbar wegen Wurst und Bier; halb bitter im Gedanken an die Schikanen, die wahrscheinlich bevorstanden. »Irgendwo wird man schon Verwendung für mich finden«, meinte er. »Ich habe an die Fremdenlegion gedacht … Aber erstens soll das so eine gemeine Schinderei sein; zweitens würden die mich wahrscheinlich auch nicht nehmen – und drittens hat es überhaupt keinen Sinn. Vielleicht wird es bald mal eine bessere Gelegenheit geben, sich totschießen zu lassen …«

Ernst hoffte, noch eine Weile in der Schweiz bleiben zu können. Er hatte ein paar Empfehlungen nach Zürich und genug Geld, um im Zug dorthin zu fahren. Nun hieß es Abschied nehmen von Hans.

Sie waren fast drei Jahre lang miteinander gewesen. Sie dachten beide an ihr enges Zimmer in Prag, und an die Mädchen, die sie mitgenommen hatten, und an die ersten schönen Spaziergänge durch die Stadt, und an all das weniger Schöne, das gefolgt war, im Laufe dieser Monate, dieser Jahre. Sie hatten so viel, woran sie sich erinnerten, daß sie lieber nicht davon sprachen. Sie sagten nur: »Mach’s gut, Hans.« Und: »Mach’s gut, Ernst. Hoffentlich sehen wir uns bald einmal wieder.« – Als sie sich die Hände schüttelten, sahen sie sich nicht dabei an. Drei Jahre sind eine lange Zeit.

Dann fiel dem Hans noch was ein: »Wenn du schon in Zürich bist, könntest du eigentlich dieses Mädel anrufen, das mir seit 1933 Briefe schreibt. Sie heißt Tilly Kammer. Warte, ich weiß ihre Adresse auswendig … Grüße sie schön von mir und sag ihr, es tut mir leid, daß ich sie jetzt nicht kennenlerne. Vielleicht besuche ich sie ein anderes Mal – sag ihr das von mir.« – Ernst notierte sich die Adresse. Dann gaben sie sich nochmals die Hand. »Und schreib mir mal ’ne Ansichtskarte!« – »Wohin?« fragte der andere. – »An Hans Schütte, Europa.«

Zum Schluß ein Gelächter – damit man die Tränen nicht sah.

In Zürich meldete sich Ernst telefonisch bei Tilly von Kammer. »Ich bin nämlich ein Freund von Hans Schütte«, erklärte er. »Der hat mir Grüße an Sie aufgetragen.« – Ein Freund von wem? Tilly verstand nicht gleich. Sie hatte ja immer nur an H.S., poste restante, geschrieben. Weiß Gott, warum Schütte während all der Zeit auf das romantische Geheimnis um seinen Namen nicht hatte verzichten wollen … Als Tilly dann begriff, wurde sie ziemlich aufgeregt. »Aber H.S. selber – ich meine Hans Schütte, kommt nicht hierher?« fragte sie. – Ernst, ein bißchen beleidigt: »Entschuldigen Sie, daß nur ich es bin!« Da Tilly lachte, sagte er noch, gleich wieder munter: »Na, wir werden uns schon vertragen, Fräulein!«

Sie trafen sich in einer Teestube, nahe dem Hauptbahnhof. Ernst erklärte: »Von Ihnen habe ich schon kolossal viel gehört!« Tilly wurde ein bißchen rot. Dann erkundigte sie sich heuchlerisch: »Von wem denn? – In Prag kennt mich doch niemand …« – »Na, vom Hans doch«, erklärte er gutmütig. »Vom Schütte. Er hat immer Freude mit Ihren Briefen gehabt.« – »Ich habe mit seinen Briefen auch viel Freude gehabt«, sagte sie. Und Ernst: »Er ist ein feiner Kerl! Sie müssen ihn unbedingt kennenlernen! Einen feineren gibt es gar nicht!« – Tilly, mit züchtig niedergeschlagenen Augen – als spräche sie etwas Unpassendes aus: »Ich habe mir schon lange gewünscht, ihn mal kennenzulernen.« – »Aber zunächst dürfte keine Gelegenheit dazu sein!« Ernst sagte es nicht ganz ohne Schadenfreude. »Er ist nach Frankreich. Von dort will er wohl nach Belgien und Holland weiter, und später vielleicht nach Skandinavien, wenn’s geht …« Tilly erwiderte eine Weile nichts. Dann bat sie den Ernst, er solle ihr etwas von seinem Prager Leben mit Hans erzählen.

Er wurde verlegen. Wenn man plötzlich etwas erzählen soll, fällt einem natürlich nichts ein. »Wir hatten ein recht nettes kleines Zimmer, Hans und ich«, fing er umständlich an. »Manchmal kam auch Besuch.« Da stockte er schon. »Was für Besuch?« wollte Tilly wissen. Ernst, anstatt auf diese Frage näher einzugehen, schilderte in möglichst schön gewählten Worten die Reize und Kuriositäten der Stadt Prag. Er kam auf den Stammtisch zu sprechen, wo mit den Kameraden politische Diskussionen geführt worden waren. Er berichtete auch von den vielen und sonderbaren Arbeiten, mit denen sie sich ein bißchen Geld verdient hatten. »Das ist ja eigentlich nicht erlaubt gewesen«, sagte Ernst. »Es war uns auch nie so richtig wohl zumute dabei. Denn, schließlich – die Regierung bei den Tschechen ist doch ganz anständig; anständiger jedenfalls als in den meisten andern Ländern. Und außerdem waren wir nur geduldet. Da hätten wir wohl nichts machen sollen, was gegen die Gesetze ist. – Aber was blieb uns übrig?«

Ernst gefiel Tilly. Sie mochte sein Gesicht: die gespannte, etwas fleckig angegriffene Haut auf den slawisch breiten Wangenknochen; die hellen und engen Augen; das blonde Haar, preußisch kurz geschoren am Nacken und an den Schläfen. Sogar von seiner Kleidung war sie gerührt. Die Sachen, die er in Basel geschenkt bekommen hatte, waren keineswegs so neu und hübsch, wie er im ersten Vergnügen hatte meinen wollen. Der graue Anzug war recht dünn und abgeschabt, er glänzte speckig, und die Farbe spielte trüb ins Gelbliche. Auch mit den Schuhen war kaum viel Staat zu machen. Am besten war noch das dicke, rote Wollhemd. Er trug es ohne Krawatte; unter dem breiten geöffneten Kragen baumelte ziemlich melancholisch eine kleine gedrehte Kordel. Das Hemd war schon zu lange im Dienst, man sah es ihm an. Der Verdacht drängte sich auf, daß es unfrisch roch. – Einen Überzieher besaß Ernst nicht. Als sie auf die Straße traten, bemerkte Tilly: »Aber Sie müssen frieren!« Und sie nahm seinen Arm.

Sie aßen miteinander zu Abend; dann gingen sie für eine Stunde ins Kino. Die Nacht war schön; Tilly hatte Lust, zu Fuß nach Rüschlikon zu gehen. Ernst begleitete sie. Beim Abschied verabredeten sie etwas für den nächsten Abend. Als Tilly schon in der Haustüre stand, sagte sie plötzlich, mit einem auffallend weichen, schräg abgleitenden Blick: »Sie sind also der H.S.« Es schien, daß sie alles durcheinanderbrachte. Vielleicht hatte sie ein Glas Wein zuviel getrunken, vielleicht war sie nur müde. Er fand es taktvoll, sie nicht zu korrigieren. »Gute Nacht, Tilly«, sagte er.

Während sie sich auszog, fiel ihr ein, daß für morgen abend Peter Hürlimann sie in ein Konzert eingeladen hatte. ›Ich muß ihm absagen‹, beschloß sie. ›Morgen abend bin ich besetzt. Konnis Freund, der H.S., ist ja hier …‹