Preußen bewegt die Welt

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Das Zeitalter der Aufklärung

Am Nachmittag des 28. März 1757 wurde auf der Place de Grève in Paris der Attentäter Robert François Damien vor den Augen einer zahlreich erschienenen Menge zu Tode gebracht.

Seitdem der 42-jährige Damien zwei Monate zuvor dem König beim Verlassen des Schlosses von Versailles mit einem Messer eine, wie sich bald zeigte, ungefährliche Wunde zugefügt hatte, war er regelmäßig verhört und gefoltert worden.78 Ohne dadurch zu weiteren Erkenntnissen über etwaige Hintermänner zu gelangen, hatten ihm die Folterknechte die Füße verbrannt, sodass er jetzt in einem Sack zur Hinrichtungsstätte gebracht werden musste.

Die Aussicht auf das nicht alltägliche Spektakel der Vierteilung hatte zum Erstaunen des Henkers Henri Sanson auch zahlreiche vornehme Damen der Gesellschaft zur Hinrichtungsstätte gelockt,79 wo insgesamt sechs Scharfrichter ihres grausamen Amtes walten sollten. Die Schaulustigen, unter denen sich auch der Abenteurer und Schriftsteller Giacomo Casanova befand, wurden nicht enttäuscht. Nachdem man dem Delinquenten die Täterhand mit Schwefelfeuer verbrannt hatte, wurden ihm mit glühenden Zangen große Fleischstücke aus dem Körper gerissen und die Wunden mit flüssigem Blei gefüllt. Erst dann begann der Hauptakt, dessen desaströsen Verlauf keine noch so sadistische Regie sich hätte ausdenken können. Unter dem alles übertönenden Gebrüll Damiens versuchten ihm vier, später sogar sechs starke Pferde etwa anderthalb Stunden lang die Gliedmaßen abzureißen, was aber erst gelang, als die Henker mit Genehmigung des Gerichts mit Axthieben die Sehnen von Armen und Beinen durchtrennten. Als es daraufhin endlich gelang, das linke Bein abzureißen, klatschte das Publikum erleichtert Beifall.80 Das Opfer schien noch zu leben, nachdem ihm der letzte Arm abgerissen worden war, und so schlug ihm der Henker auch den Kopf ab und warf alle bluttriefenden Körperteile einschließlich des Torsos auf einen brennenden Scheiterhaufen. Der Gestank des schmorenden Fleisches verursachte einige Ohnmachtsanfälle in der Menge, wo man zwischenzeitlich lebhaftes Bedauern für die armen Pferde geäußert hatte.81


Die Hinrichtung Robert François Damiens am 28. März 1757.

Der König war zwar der Hinrichtung ferngeblieben, zeigte sich aber über alle Einzelheiten des schauerlichen Spektakels genau informiert und irritierte wohl auch mit seinen allzu ausführlichen Schilderungen etliche der ausländischen Botschafter.82 Wie der etwas unbedarfte Herzog Emmanuel von Croy sah die Mehrzahl der schaulustigen Pariser in dem durch die Staatsgewalt zu Tode Gequälten nur einen »elenden Menschen«, der sein grausames Schicksal vollkommen verdient hatte. Tatsächlich war Damien ein gewalttätiger Einzelgänger und Vagabund gewesen, dessen bescheidene Lektüreerlebnisse ihn wohl zu seiner wirren Tat verleitet hatten. Selbst der unbestrittene König der Philosophen, François Marie Arouet, genannt Voltaire, bezeichnete aus seinem fernen Genfer Exil den Pariser Attentäter wiederholt als »Monster« und mokierte sich über die bei ihm eingehenden Fragen des »literarischen Europas«. Sei Frankreich denn noch die große Nation, die er aller Welt als so liebenswert dargestellt hatte, und war dies noch das Jahrhundert, das von ihm als so weise gerühmt worden war? Voltaires Antwort an seine Briefpartner fiel nicht eben überzeugend aus. Es gebe nun einmal Menschen wie Damien oder Ravaillac (der Mörder König Heinrichs IV.), die in ihrem aufgehetzten Wahnsinn weder diesem Jahrhundert angehörten noch ein Teil Frankreichs seien.83 Zivilisiertheit, so seine Botschaft, könnten eben nur jene erwarten, die sich selbst der Zivilisiertheit einfügten. Man muss dem großen Selbstdarsteller Voltaire zugutehalten, dass er sich in seinem Schweizer Exil nichts sehnlicher wünschte, als in das Rampenlicht von Paris zurückkehren zu dürfen, aus dem er seit mehr als 20 Jahren verbannt war. Auch nur der Hauch einer Kritik an den hauptstädtischen Behörden hätte ihn, dessen »skandalöse« Lettres philosophiques schon an derselben Stelle wie Damien vom Henker zerrissen und verbrannt worden waren und der selbst mehrere Monate in der Bastille hatte zubringen müssen, weit von seiner Rehabilitierung entfernt.

An dem verzweigten Netz von Kontakten, das der Aufklärer, Schöngeist und Dichter Voltaire damals selbst mit gekrönten Häuptern wie Friedrich von Preußen oder Elisabeth von Russland unterhielt, lässt sich der Erfolg einer Bewegung ermessen, dessen prominentester Repräsentant wie auch wohl ihr größter Profiteur der reiche Exilant von Genf war.

Während die Pariser Behörden am 28. März 1757 den Place de Grève noch einmal für einen Nachmittag in ein Schlachthaus verwandelt hatten, waren die Ideen der Aufklärung längst über die arkanen Zirkel in den Pariser Kaffeehäusern und feinen Salons hinaus in die Breite der Gesellschaft vorgedrungen. Die Ansichten der aufklärerischen Philosophen zu Staat, Kirche und Gesellschaft prägten inzwischen sämtliche Debatten und stießen sogar bei einem Teil der adligen Elite auf Sympathie. Schon 1739 hatte René Louis de Voyer de Paulmy, Graf von Argenson, den König Ludwig XV. fünf Jahre später zu seinem Außenminister ernannte, in seinen »Betrachtungen über das alte und gegenwärtige Regime« Frankreich als »ein übertünchtes Grab« bezeichnet, in dem der äußere Glanz die innere Fäulnis kaum noch verdecken könne. Das Manuskript wurde zwar erst 1764 veröffentlicht, sieben Jahre nach dem Tod des Grafen, kursierte aber schon vorher als Handschrift in den Kreisen seiner philosophischen Freunde.84

Aufklärer wie Locke, Diderot oder Montesquieu vermieden allerdings jede direkte Kritik an den herrschenden Verhältnissen und Vorstellungen. Gewiefte Autoren präsentierten ihre gefährlichen Ansichten nach dem Vorbild des Hugenotten Pierre Bayle, einem frühen Enzyklopädisten, gerne in Dialogen, in denen die Vorwürfe durch die Gegenrede der Vertreter der Tradition scheinbar widerlegt wurden. Oder sie kritisierten Elemente des Christentums wie etwa die Jungfrauengeburt am unverfänglichen Beispiel des ägyptischen Isiskultes, der eine ähnliche Vorstellung aufwies.85

Bis zu einem gewissen Grad versprachen sich Monarchen wie Friedrich von Preußen oder Kaiser Joseph II. (1765–1790) vom Kampf der Aufklärer gegen Aberglauben, Unwissenheit und religiöse Dogmen auch Impulse für ihr Projekt einer begrenzten Rationalisierung der Regierungspraxis. Spätere Historiker bezeichneten diese Haltung als aufgeklärten Absolutismus, das 18. Jahrhundert selbst kannte den Begriff nicht. Von Beginn seiner Herrschaft an bemühte sich Friedrich der Große um Aufklärer wie etwa den französischen Arzt Julien Offray de La Mettrie, der am Potsdamer Hof völlig frei seinen Materialismus vertreten konnte. Dass der flüchtige Franzose dabei den Staat mit einer Maschine verglich, wird dem Roi Connétable und Befehlshaber über eine wohl gedrillte Armee durchaus eingeleuchtet haben.86

Friedrichs Interesse an den Ansichten der Aufklärer ging weit über ein höfisches Bedürfnis nach feingeistigen Plaudereien über Literatur, Malerei und Musik hinaus. Der preußische Monarch schien sogar die revolutionäre Lehre des Gesellschaftsvertrages zu akzeptieren, wenn er in einer seiner späteren Schriften anmerkte: Die Aufrechterhaltung der Gesetze sei der einzige Grund gewesen, der die Menschen bewogen hat, sich Obere zu geben. Dies allein sei der wahre Grund aller Herrschergewalt.87 Die Forderung der Aufklärer nach konfessioneller Toleranz deckte sich sogar vollkommen mit seinen Ansichten, zumal dem »Philosophenkönig« die Religion ohnehin unwichtig erschien. Schwerer tat er sich allerdings mit der Legitimierung seines Königtums. Friedrich hatte zwar erkannt, dass die barocke Berufung auf das eigene Gottesgnadentum schon längst zu einer Leerformel geworden war, doch sein Ansatz, sich selbst als erster Diener des Staates zu inszenieren und die Mängel etwa des britischen Parlamentarismus zu betonen, konnte auf Dauer die Kritiker der Monarchie nicht wirklich überzeugen.88

Während Friedrich sich offen und durchaus ernsthaft mit den Ansichten der Aufklärer auseinandersetzte, führten in Frankreich Königshaus und Kirche einen jahrzehntelangen Kampf gegen die neue Bewegung. Die Behörden verbrannten öffentlich die gefährlichen Bücher, verbannten ihre Autoren, sofern sie sich ermitteln ließen, oder steckten sie, wie etwa den ehemaligen Jesuitenzögling Denis Diderot, auf unbestimmte Zeit in das Verließ von Vincennes.89 Die Front der Aufklärungsgegner war jedoch alles andere als geschlossen. Zu den Unterstützern Jean-Jacques Rousseaus zählte mit François I., dem Prinzen von Conti, sogar ein Vetter des Königs. Den besorgten Verlegern der großen Enzyklopädie ebnete wiederum der langjährige Kriegsminister und Leiter des staatlichen Buch- und Verlagswesens Pierre Marc de Voyer de Paulmy, Graf von Argenson, ein jüngerer Bruder des Außenministers, den Weg zur Veröffentlichung. Schließlich versprach das gigantische Projekt, eine der Schlüsselpublikationen der Aufklärung, guten Gewinn und Hunderte von Arbeitsplätzen.90 Die hohen Erwartungen der Enzyklopädisten wurden auch nicht enttäuscht. Die in Frankreich zunächst erschienenen sieben Bände verkauften sich hervorragend. Allerdings versagte der besorgte Versailler Hof seit 1759 den Druck weiterer Folgen und zwang damit die Herausgeber in die Niederlande auszuweichen. Erst 1772 konnte das auch heute noch beeindruckende Werk, an dem Hunderte von Autoren mitgearbeitet hatten, zum Abschluss gebracht werden. Seine insgesamt 25 Bände vereinigten 73 000 Artikel zu den verschiedensten Themen, in denen die renommierten Beiträger den damals neuesten Erkenntnisstand der Wissenschaften zusammengefasst hatten. Allein schon die alphabetische Ordnung der Artikel stellte einen klaren Bruch mit der bisherigen hierarchischen Struktur des Wissens dar. Es war daher keine Übertreibung, wenn der exzellente Mathematiker und Mitherausgeber der Enzyklopädie, Jean le Rond d’Alembert, schon 1758 stolz verkündete, dass der Gebrauch einer neuen Methode des Philosophierens »eine lebhafte Gärung der Geister« erzeugt habe. Die Aufklärung wirke nach allen Seiten und habe alles gleich einem Strom mit Heftigkeit ergriffen, der alle Dämme breche.91

 

Bei allen bedeutsamen Unterschieden beruhte das Denken der Aufklärung im Kern auf einem Paradox. Indem die Aufklärer den Menschen von seinem metaphysischen Sockel stießen, befreiten sie zugleich seine Vernunft aus dem Gefängnis scholastischer Weltbilder und erhöhten ihn damit zu einem neuen Prometheus. Aus der naturrechtlich begründeten Eigenständigkeit des Menschen ergab sich ein völlig neues Staatsverständnis. Männer wie der Engländer John Locke, der nach der Glorious Revolution von 1688/89 in kurzer Folge seine drei wichtigsten Werke über die Toleranz, die Regierung und die menschliche Erkenntnis veröffentlicht hatte, definierten die Aufgaben des Staates und das menschliche Erkenntnisvermögen nun völlig neu. So beerdigte Locke, der als enger Vertrauter des ehemaligen Kanzlers Anthony Ashley Cooper, des 1. Lords von Shaftesbury, fünf Jahre lang im niederländischen Exil hatte verbringen müssen, in seiner Erkenntnistheorie die Vorstellung der mittelalterlichen Scholastiker von den eingeborenen Ideen. Erst dadurch, so die bis dahin herrschende Lehre, sei es den Menschen überhaupt möglich, die göttliche Schöpfung zumindest in ihren groben Umrissen zu erkennen. An die Stelle einer kosmologischen Gesamtschau setzten Locke und die sogenannten Empiristen die sinnliche Wahrnehmung und das Vermögen der Menschen, aufgrund von Einzelbeobachtungen und induktiver Schlüsse zu echten Erkenntnissen zu gelangen.92 Als Vorbild dienten dem ausgebildeten Arzt namhafte Vertreter der Naturwissenschaften wie Robert Boyle, Isaac Newton und William Harvey, der Entdecker des menschlichen Blutkreislaufs.

Die greifbare Folge dieser Revolution des Denkens war eine beispiellose Explosion des menschlichen Wissens, ein Gefühl von Aufbruch und Fortschritt und der sich rasch verbreitende Glaube an eine ständige Verbesserung der menschlichen Verhältnisse.93

Obwohl die meisten Aufklärer sich als Deisten sahen, die Idee eines Schöpfergottes aufrechterhielten und auch die Monarchie nicht grundsätzlich infrage stellten, gestaltete sich ihr Verhältnis zur staatlichen Ordnung und zur Macht der Kirchen schwierig. Nach Auffassung Lockes hatte sich die Obrigkeit von ihrer traditionellen Rolle als Bewahrerin einer angeblich von Gott gestifteten politischen Ordnung zu verabschieden. Die Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts hatten gezeigt, dass die alte Glaubenseinheit durch staatlichen Zwang nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Die konfessionelle Spaltung der europäischen Christenheit ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Unabhängig davon bezweifelte Locke überhaupt, dass der Staat in diese intimste Sorge seiner Bürger um ihr Seelenheil eingreifen dürfe. Die Religion der Bürger sei Privatsache und der Staat sei sogar verpflichtet, die Anhänger der unterschiedlichen Konfessionen zu schützen, sofern sie ihrerseits die Staatsgewalt respektierten. Aus diesem Grund glaubte er auch, Katholiken und Atheisten aus seinem Toleranzpostulat ausschließen zu müssen. Die einen verdächtigte er als illoyale Umstürzler, die im Auftrag Roms handelten, die anderen überhaupt als sittenlose Gefährder jeder staatlichen Ordnung.94 Alle Regierungen hatten sich nach den Vorstellungen Lockes darauf zu beschränken, Leben, Freiheit und Eigentum ihrer Bürger zu schützen. Eine andere Legitimation staatlicher Gewalt gab es für ihn nicht mehr.

Analog zu den Naturwissenschaften versuchten die Aufklärer, den Staat zu verstehen, indem sie ihn in seine Bestandteile zergliederten. Das wichtigste Instrumentarium dazu war die Idee des Gesellschaftsvertrages.95 Diese Fiktion war der Kern der gesamten Bewegung. Von Natur aus freie Menschen fassten in einem fiktiven Naturzustand den einhelligen und freien Beschluss, zum Schutz ihres natürlichen Anspruchs auf Leben und Eigentum einen Teil ihrer Rechte der Staatsgewalt zu übertragen. Die Vorstellung, dass alle Menschen gleich und mit gleichen Rechten ausgestattet seien, leiteten Aufklärer wie der Jurist Charles Louis de Secondat Montesquieu ganz aus dem Naturrecht ab. Wie die Gesetze der Mathematik nach dieser Vorstellung auch unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung existierten, so gäbe es in Analogie dazu auch ein natürliches Recht, das die Vernunft erfassen könne, welches aber eben nicht von ihrem Erfassen abhängig sei.96 Damit widersprachen die Aufklärer auch klar dem düsteren Menschenbild des Engländers Thomas Hobbes, der eine ursprüngliche Sittlichkeit des Menschen im Naturzustand noch bestritten hatte und die Staatsbildung aus einem Akt der Notwehr herleitete.

Mit ihrer Befreiung des Naturrechts aus der Vormundschaft von Staat und Religion hatten die Aufklärer dem Menschen eine bis heute wirksame autonome Eigenrechtlichkeit verschafft, wie sie wohl am deutlichsten in der amerikanischen Verfassung von 1776 formuliert wurde. Sie übersahen dabei allerdings, dass ihre Überzeugung, jeder Mensch besitze unveräußerbare Rechte, selbst nur ein Glaube war.

Dass die »Vernunft« sich schließlich auch gegen den zu befreienden Menschen wenden konnte, wenn dieser etwa gar nicht vernünftig sein wollte, zeigte sich schon in dem milden Tadel, mit dem Immanuel Kant 1784 seine Definition der Aufklärung verknüpfte. Das Verharren in einem nicht aufgeklärten Zustand bezeichnete er in seiner Schrift als »selbstverschuldete Unmündigkeit« und wandte sich mit aller Schärfe gegen die Oberflächlichkeit der Franzosen, wo sich der anfängliche Impetus der Aufklärung häufig nur noch in seichten Tischgesprächen wiederfand.97 Bei keinem anderen Autor aber zeigte sich die Ambivalenz zwischen Befreiung und neuer Unterdrückung so deutlich wie in den radikalen Ideen von Jean-Jacques Rousseau. Der aus Genf stammende Verfasser des Contrat social hatte sich schon in den 1750er-Jahren mit seinen früheren Weggenossen überworfen und war zu einem vehementen Kritiker der neuen bürgerlichen Gesellschaft geworden, in der nach seiner Ansicht das Streben nach Besitz und das Bedürfnis nach Anerkennung die Menschen dominierten und von ihren wahren Interessen ablenkten. Rousseau glaubte dagegen an die Möglichkeit einer völlig neuen Gemeinschaft, in der die Beziehungen der Menschen von einer neuen patriotischen Bescheidenheit geprägt sein würden. Der Philosoph aus der Stadt Johannes Calvins stellte der Vernunft die Tugend zur Seite. Er glaubte, der natürliche Mensch, der an seinen überkommenen Interessen festhalten wollte, könne durch beharrliche Umerziehung zum Mitglied einer neuen Gesellschaft gemacht werden, in der allein der »allgemeine Wille« maßgebend sein sollte. Rousseaus Contrat social war ein komplexes analytisches Modell, an eine Umsetzung in die politische Praxis hat er nie gedacht, ebenso wenig wie an eine gewaltsame Unterdrückung anderer. Er wäre daher wohl erstaunt gewesen über den Vorwurf, dass sein Contrat social die Blaupause für den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts geliefert habe. Doch die Tür dazu hat seine Lehre weit aufgestoßen. Zu den Männern, die in den 1770er-Jahren den alternden Philosophen in Ermenonville bei Paris besuchten, gehörte auch ein begeisterter junger Anwalt aus Lille, dessen Name wie kein anderer zum Symbol für die spätere Terrorherrschaft der Jakobiner werden sollte.

Nur ein Waffenstillstand – Der Friede von Aachen

Die Londoner Festlichkeiten zum Abschluss des Aachener Friedens fielen am 27. April 1749 dem britischen Wetter zum Opfer. Am Nachmittag des zunächst klaren Tages setzte Dauerregen ein, der das vom »Generalmeister der Feuerwerke seiner Majestät« aufwendig vorbereitete pyrotechnische Spektakel erheblich in seiner Wirkung schmälerte. Das zahlreich erschienene Publikum verließ die Veranstaltung im Green Park mit eher gemischten Gefühlen. Horace Walpole, Sohn des ehemaligen Außenstaatssekretär Robert Walpole, erfolgreicher Literat, aufmerksamer Chronist der Georgianischen Epoche und darüber hinaus Stil prägender Gartenarchitekt, teilte einem Freund seine Eindrücke in einem Brief mit. »Die Raketen, und was sonst in die Luft geschossen wurde, waren ein großer Erfolg; aber die Räder und alles, was den Hauptteil darstellen sollte, waren eintönig und schlecht bedient, kaum ein Besucher wollte bis zum Ende bleiben.«98

Trotz des starken Regens geriet durch das Feuerwerk der rechte Flügel des großen hölzernen Pavillons in Brand, der in monatelanger Arbeit unter Leitung von Giovanni Servandoni im aufwendigen Palladiostil errichtet worden war. Die Aufregung war groß und die beiden Verantwortlichen gerieten vor Angst und Scham sogleich in Rage. Servandoni, der in Wirklichkeit ein Franzose namens Jean Nicolas Servan war, ging mit gezogenem Degen auf den Generalmeister der Feuerwerker, Charles Frederic, los, der seinerseits nicht zögerte, die Klinge zu ziehen. Während der operettenhafte Streit glimpflich endete, waren durch das Feuer zwei Tote zu beklagen. Dies sei aber, wie Walpole versicherte, ein weit geringerer Schaden gewesen als die 40 Toten und 300 Verletzten bei den Friedensfeiern von Paris, wo es aus ähnlichem Anlass zu einer Massenschlägerei gekommen war.99

Allein Georg Friedrich Händels eigens für das Ereignis komponierte Feuerwerksmusik rettete den Tag. Der Wahlbrite aus Halle, der schon seit fast vier Dekaden in der britischen Hauptstadt lebte und dort dank spektakulärer Erfolge zur europäischen Berühmtheit aufgestiegen war, hatte sich mit seinem musikalischen Konzept selbst gegen seinen König und Landsmann, Georg II., durchgesetzt, welcher ausdrücklich mehr Trompeter und weniger Streicher gewünscht hatte.100

Der Monarch hätte einen triumphalen Stil mit »weniger Gefiedel« bevorzugt, gerade da das Ende eines Krieges zu feiern war, der für das Inselreich keineswegs erfolgreich verlaufen war.

Skeptiker hätten dann auch die Pannen der Feierlichkeiten im Green Park als ungünstiges Omen für die Dauerhaftigkeit des Aachener Friedenswerkes deuten können. Nur in äußerster Zwangslage hatte Großbritannien im Oktober 1746 nach einer neuerlichen Niederlage gegen die Franzosen bei Rocoux unweit von Lüttich erste Verhandlungen mit Frankreich aufgenommen. Der Siegeszug der französischen Armeen unter dem Marschall Moritz von Sachsen, der als größter Feldherr seiner Zeit galt, hatte der britischen Regierung unter Staatssekretär Henry Pelham keine andere Wahl gelassen. Schon waren fast sämtliche belgischen Festungen, darunter Namur, Tournai und Mons, verloren gegangen. Brüssel hatten die Franzosen bereits im Februar 1746 eingenommen. Die Aussichten auf eine militärische Wende waren mit jedem Monat weiter gesunken, während die britischen Staatsschulden inzwischen von 49 Mio. auf mehr als 76 Mio. Pfund geklettert waren.101

Doch auf der anderen Seite des Kanals hatte die französische Krone mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Zur Überraschung und Erleichterung des britischen Kabinetts zeigte sich Frankreich bereit, die in mühsamen Kämpfen und Belagerungen eroberten österreichischen Niederlande zurückzugeben. Auf der Grundlage einer Wiederherstellung des Status quo ante waren die Diplomaten beider Mächte sehr schnell in vorerst noch geheime Verhandlungen eingetreten. Ende April 1748 hatten sich dann Großbritannien und Frankreich in Aachen auf einen Vorfrieden geeinigt, der im Oktober, fast auf den Tag genau ein Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden, zu einem endgültigen Abschluss gebracht werden konnte. Bis zum folgenden Februar hatten ihn schließlich auch die anderen sechs am Krieg beteiligten Mächte ratifiziert. Für die Räumung ganz Belgiens, eine der reichsten Regionen Europas, erhielt Frankreich im Gegenzug Louisbourg am Kap Breton zurück. Die bescheidene Festung auf der öden Atlantikinsel war im Juni 1745 von Kolonisten aus Massachusetts im Zusammenwirken mit britischen Flotteneinheiten nach mehrwöchiger Belagerung eingenommen worden. Es war einer der wenigen Erfolge für die Briten, die im zurückliegenden Krieg in Indien auch noch den Verlust von Madras zu beklagen hatten.102

 

Nur auf den ersten Blick war es ein außergewöhnlicher Tausch. Denn Louisbourg schützte den Ausgang der St.-Lorenz-Bucht und war damit der Schlüssel zu ganz Kanada. Hinter der Rückgabe Belgiens, für dessen Besitz Ludwig XIV. immerhin ein halbes Jahrhundert gekämpft hatte, steckte daher nicht, wie der französische Hof damals gerne behauptete, die tiefe Überzeugung des Monarchen, dass Frankreich territorial saturiert sei. Es zeigte sich darin vielmehr ein neues strategischen Denken, das der britisch-französischen Rivalität in Nordamerika nun erstmals gegenüber Europa Priorität einräumte. Frankreichs hegemoniale Rolle in Europa, so das neue Kalkül, könne in Zukunft nur noch durch sein Überseeimperium behauptet werden. Gingen seine Kolonien in Nordamerika verloren, so wären auch seine Besitzungen in der Karibik gefährdet, die französische Krone würde ihren lukrativen Überseehandel einbüßen und schließlich wie die inzwischen bedeutungslosen Generalstaaten völlig von der Willkür der Briten abhängen.


Allegorie auf den Frieden von Aachen.

In Westminster teilten daher auch längst nicht alle Politiker Pelhams Begeisterung über den Rückgewinn Belgiens. Da Louisbourg als Sprungbrett zur Eroberung Quebecs und aller anderen französischen Territorien in Kanada galt, war seine Rückgabe an Frankreich vielen Abgeordneten als ein zu hoher Preis erschienen. Es erhoben sich nicht zum letzten Mal gewichtige Stimmen im Vereinigten Königreich, welche die allzu engen kontinentalen Bindungen des deutschstämmigen Königs kritisierten. Wie sein Vater war Georg II. immer noch in Personalunion Kurfürst von Hannover, und das Misstrauen, dass vielleicht britische Interessen der Sicherung des Stammlands der deutschen Dynastie zum Opfer fallen könnten, ließ nicht nach. Abgeordnete wie der Tory Venters Cornwall aus Herefordshire warnten daher auch, dass Großbritannien sich unbedingt aus den Streitigkeiten der europäischen Fürsten heraushalten solle, andernfalls mache es sich zum »Don Quichote« Europas. Dagegen betonte Kriegsminister Henry Fox im Unterhaus, dass Frankreich unbedingt auf dem Kontinent beschäftigt werden müsse. Würde Großbritannien diese Aufgabe vernachlässigen, könnte der Rivale jenseits des Kanals den Großteil seiner Ressourcen nutzen, um seine Flotte auszubauen, und die britische Seemacht ernsthaft bedrohen. Der Schlüssel zum britischen Imperium in Übersee läge daher in Europa.103

Besonderes Kopfzerbrechen aber bereitete der britischen Regierung nach dem Aachener Friedensschluss, dass die alte Allianz zwischen Reich, Generalstaaten und Großbritannien ganz offensichtlich nicht mehr die Kraft besaß, die belgische Barriere gegen Frankreichs Großmachtambitionen zu verteidigen. Unübersehbar waren die alten Generalstaaten, im 17. Jahrhundert noch eine Respekt einflößende Großmacht, zu einem unbedeutenden Randstaat im Nordwesten Europas herabgesunken. Die Vereinigten Provinzen seien durch ihre Form der Regierung machtlos geworden, hatte Kabinettssekretär Philip Stanhope, der 4. Lord von Chesterfield und langjährige Gesandte in Den Haag, schon während des Krieges notiert und zugleich prophezeit: Durch Missmanagement und eine lange Kette von Fehlschlägen verarmt werden die Holländer unausweichlich einmal unter französische Vorherrschaft geraten.104

Österreich wiederum schien nur noch wenig Interesse an der Aufrechterhaltung des europäischen Gleichgewichts zu haben. In Wien trauerte die junge Herrscherin Maria Theresia vor allem der Provinz Schlesien nach, deren Raub durch Preußen der Aachener Frieden ausdrücklich noch einmal bestätigt hatte. Schlesien war vor 1740 Habsburgs ertragreichste Provinz gewesen und ihr Verbleib in preußischer Hand musste Österreichs Vormachtstellung im Reich dauerhaft gefährden. Belgien dagegen war in den Augen der österreichischen Minister nur ein weit im Westen gelegener isolierter Außenposten der Monarchie, der mehr und mehr als politischer Mühlstein empfunden wurde und dessen Verteidigung kostbare Truppen band. Nur zu gern hätte die österreichische Politik diese ungeliebte Erbschaft aus der alten spanischen Ländermasse gegen Gebietszuwächse in Italien oder im Reich eingetauscht.105

Doch Großbritannien wollte das seit der Glorious Revolution von 1688 bestehende Bündnis mit Österreich nicht vorschnell aufgeben. London brauchte unbedingt einen Festlandsdegen gegen Frankreich und seine gewaltigen Landstreitkräfte, die jederzeit in der Lage waren, die belgische Festungskette zu durchbrechen. Preußen hielt zwar ebenfalls eine beachtliche Armee unter Waffen, doch der aufstrebende Hohenzollernstaat erschien als Alternative zu Österreich zu unzuverlässig. Gerade Friedrichs eigenmächtiger Einmarsch in Ostfriesland, wo 1744 die regierende Dynastie ausgestorben war, hatte bei Hof erhebliche Sorge ausgelöst, dass der als unberechenbar geltende Preußenkönig auch das Kurfürstentum Hannover, das Stammland der britischen Dynastie, einmal okkupieren könnte.

Daher setzte die britische Politik weiterhin auf Österreich. Der alte Kaiserstaat musste aber unbedingt stabilisiert werden, wenn er noch als Verbündeter gegen Frankreich von Nutzen sein sollte. London verfiel daher auf den Gedanken, die vorzeitige Wahl Erzherzogs Josephs, des ältesten Sohnes der Kaiserin, zum Römischen König durch die Zahlung von Subsidien zu unterstützen.106 Stünde erst einmal die Mehrheit der Reichsfürsten wieder hinter Österreich, würde das, so Außenstaatssekretär Newcastles Kalkül, die Monarchie stärken. Zum Erstaunen der Briten reagierte Wien auf die britischen Bemühungen jedoch eher skeptisch und monierte zunächst, dass man die deutschen Kurfürsten nicht durch britische Subsidien noch unabhängiger machen sollte. Zudem empfand die Kaiserin die finanziellen Forderungen des in Mannheim residierenden Pfalzgrafen Karl IV. Theodor als arg überzogen107 und argumentierte, durchaus realistisch, dass einzig ein einhelliges Votum aller Kurfürsten des Reiches dem Ansehen Habsburgs im Reich wirklich nützen würde.108

Auch in der Hofburg war die Unzufriedenheit mit dem Aachener Frieden groß. Schon Londons eigenmächtige Aufnahme von Verhandlungen mit den Franzosen in Breda und der einseitig ausgehandelte Vorfrieden von Aachen hatten zu einer Entfremdung zwischen den beiden Verbündeten geführt. In Wien war man erbost, von London derart übergangen worden zu sein.109 Ihre Feinde würden ihr bessere Bedingungen bieten als ihre Freunde, hatte Maria Theresia noch im April 1748 dem langjährigen britischen Gesandten in Wien, Sir Thomas Robinson, geklagt und dabei den Briten noch einmal ausführlich eine Mitschuld am Verlust Schlesiens gegeben.110 Zwar übersah man nicht, dass Großbritannien mit Louisbourg seine einzige Kriegsbeute an Frankreich zurückgegeben hatte, um die Räumung des habsburgischen Besitzes in Belgien zu erwirken. Zugleich aber hatte London dem Preußenmonarchen gegen den energischen Widerstand Wiens seine schlesische Akquisition ausdrücklich bestätigt.

Am Wiener Hof war man sich darüber klar, dass ein neuerlicher europäischer Krieg, den Österreich unter günstigen Umständen zur Rückgewinnung dieser Provinz führen würde, entschieden britischen Interessen widersprach. Maria Theresia konnte daher von London mit keinerlei Unterstützung ihres Herzensanliegens rechnen. Die Weichen für einen grundlegenden Kurswechsel der österreichischen Politik schienen damit gestellt.

Einen Monat vor den Londoner Feierlichkeiten zum Aachener Frieden hatte die Kaiserin ihre Minister und Berater zu einer Geheimen Konferenz, dem obersten Rat der Krone, zusammengerufen, um über die Neuausrichtung der österreichischen Politik zu beraten. Zu den Teilnehmern der Sitzung am 18. März 1749 zählte auch ein junger Diplomat, der in den kommenden Dekaden den politischen Kurs Österreichs maßgeblich prägen würde. Wenzel Graf Kaunitz-Rietberg war der Sohn eines mährischen Landeshauptmanns und einer westfälischen Adligen. Der junge Kaunitz hatte in Leipzig studiert und war 1735 nach der damals üblichen Kavalierstour durch Frankreich, die Niederlande und Italien im Alter von 24 Jahren in kaiserliche Dienste getreten. 1742 durfte er seinen ersten Botschafterposten in Turin antreten und war zwei Jahre später als Minister des habsburgischen Statthalters in Brüssel, Prinz Karl von Lothringen, nach Brüssel gekommen. Da der Statthalter selbst als Heerführer in Böhmen kämpfte und seine Gattin, Maria Anna, schon bald nach Kaunitz’ Ankunft verstorben war, ging die Gesamtverantwortung in den österreichischen Niederlanden auf den jungen Diplomaten über. Obwohl er sich mit allen Mitteln gegen die drohende Niederlage stemmte, musste er am 21. Februar 1746 Brüssel an die Franzosen übergeben. Seither war Kaunitz davon überzeugt, dass die militärische Kraft Österreichs allein nicht mehr genügen würde, um Belgien gegen die französische Armee zu verteidigen und gleichzeitig einen Krieg gegen Preußen zur Rückeroberung Schlesiens zu führen. Nicht Frankreich, sondern Preußen war nunmehr in Kaunitz’ Augen der tatsächliche Hauptfeind der Monarchie, da es im Besitze von Schlesien jederzeit in der Lage war, ins Herz der Monarchie vorzustoßen. Ein Arrangement mit Frankreich, das zumindest die Neutralität des Bourbonenstaats in einem erneuten preußisch-österreichischen Krieg sicherte, schien ihm daher der einzige Ausweg. Schon 1745 hatte es Geheimverhandlungen mit den Franzosen gegeben, die aber vorerst ohne konkrete Ergebnisse geblieben waren. Drei Jahre später war Kaunitz zum österreichischen Verhandlungsführer in Aachen ernannt worden und wusste durch seine Unterredungen mit den Franzosen, dass in Versailles längst nicht mehr die Protagonisten der traditionellen Frontstellung gegen Habsburg dominierten. Es bestand also politischer Spielraum. Die Idee einer Allianz mit Frankreich war nicht neu, doch Kaunitz war der erste österreichische Politiker, der sie zum Kern eines neuen diplomatischen Systems machen wollte.111 Dessen Grundzüge präsentierte er an diesem 18. März 1749 in einer umfänglichen Denkschrift der Kaiserin und den sechs anderen Mitgliedern der Geheimen Konferenz.