Preußen bewegt die Welt

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

1. Europa im 18. Jahrhundert – Mächte, Armeen und Koalitionen
Von der Hegemonie Frankreichs zur Pentarchie – Europas Staatenwelt im Zeitalter der Aufklärung

»Das christliche Europa ist wie eine Republik von Souveränen, die sich in zwei mächtige Parteien teilt. England und Frankreich haben seit einem Jahrhundert zu allen Bewegungen den Anstoß gegeben. Wollte ein kriegerischer Fürst etwas unternehmen, wenn jene beiden einverstanden sind, den Frieden zu erhalten, so würden sie ihm ihre Vermittlung anbieten und ihn nötigen, sie anzunehmen. Einmal bestehend, hindert das System alle großen Eroberungen und macht die Kriege unfruchtbar, wenn sie nicht mit überlegener Macht und unausgesetztem Glück geführt werden.«

Friedrich der Große, Politisches Testament von 17521

Drei politische Ereignisse veränderten um die Wende zum 18. Jahrhundert die Staatenwelt Europas tief greifend. Von der englischen Oligarchie gerufen, landete am 5. November 1688 der Generalstatthalter der Niederlande, Wilhelm III. von Oranien, in Torbay in der Grafschaft Devon und beendete nach kurzem Bürgerkrieg die Herrschaft der katholischen Jakobiten. Damit trat England, das sich 19 Jahre später mit Schottland zum Vereinigten Königreich konstituierte, in die große europäische Koalition gegen Frankreich ein. Nach über einem Jahrhundert der politischen Abstinenz war das Inselreich faktisch wieder zu einer kontinentalen Macht geworden, die sich seither die Verteidigung der südlichen Niederlande gegen die Hegemonieansprüche der französischen Krone zur ersten Pflicht machte. Trotz einer unerwartet langen, beinahe 30-jährigen Friedensphase nach dem Utrechter Vertrag (1713) war die »Glorreiche Revolution« von 1688 der Auftakt zu einem zweiten »Hundertjährigen Krieg« zwischen Großbritannien und Frankreich. Erst nach sechs Waffengängen im Ancien Régime sowie sieben weiteren Koalitionskriegen gegen das revolutionäre Frankreich endete diese epochale Auseinandersetzung mit der Schlacht von Waterloo und dem Sturz Napoleons.

Das zweite die europäische Staatenwelt prägende Ereignis war das Ende der habsburgischen Thronfolge in Spanien und die Teilung des spanischen Imperiums in Europa. In den Friedensschlüssen von Utrecht und Rastatt (1714) akzeptierten Großbritannien und Österreich nach 13 Jahren Krieg die bereits zuvor erfolgte Inbesitznahme der spanischen Krone durch den Bourbonen Philipp V., einen Enkel des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Sie setzten dagegen aber durch, dass die südlichen Niederlande (Belgien), die Lombardei, Neapel sowie Sardinien vom ehemaligen Weltreich abgetrennt wurden. Damit endete die seit fast zwei Jahrhunderten bestehende Einkreisung Frankreichs durch die habsburgische Universalmonarchie.2

Die dritte gravierende Änderung der internationalen Verhältnisse vollzog sich im Nordosten Europas. Dort hatte der junge König Karl XII. von Schweden zunächst mit einer Reihe unerwarteter und spektakulärer Siege gegen eine Allianz aus Dänemark, Polen-Sachsen und Russland ganz Europa in Erstaunen versetzt. Dann aber hatte sich im Juni 1709 das Blatt zugunsten Zar Peters I. gewendet. Den Russen gelang es, den mit seiner Armee in die Ukraine eingedrungenen König bei Poltawa vernichtend zu schlagen. Von dieser Niederlage hat sich das nordische Königreich nie mehr erholt. Nach seiner spektakulären Rückkehr aus der Türkei setzte Karl zwar den längst aussichtslosen Kampf gegen eine Koalition aus Dänemark, Preußen und Russland noch eine Zeit lang fort. Doch als im November 1718 in den Gräben vor der norwegischen Festung Frederiksborg eine Kugel seinen Kopf durchschlug, übernahm der Stockholmer Reichsrat die Macht im Lande und begann Verhandlungen mit dem Zaren. Im Frieden von Nystad (1721) musste das ausgeblutete Land sämtliche baltischen Besitzungen an Russland abtreten und büßte damit auch unwiderruflich seinen Status als Großmacht ein.

Die Friedensschlüsse von Utrecht, Rastatt und Nystad hatten somit 70 Jahre nach den Westfälischen Verträgen das Gefüge der europäischen Staaten grundlegend verwandelt. Die Triade der bisher dominierenden Mächte Frankreich, Spanien und Österreich war seither um Russland und Großbritannien zu einer Fünfergruppe erweitert worden, die man später als Pentarchie bezeichnete und die tatsächlich bis zum Ersten Weltkrieg die kontinentale Politik bestimmte. Das nunmehr bourbonische Spanien wurde allerdings schon wenige Dekaden später allgemein nicht mehr als Führungsmacht wahrgenommen, ohne dass sich für diese neue Wertung ein konkretes Datum nennen ließe. An seine Stelle trat – nach dem Siebenjährigen Krieg kaum noch bestritten – die norddeutsche Aufsteigermacht Preußen. Das neue System war jedoch alles andere als statisch. In kaum einer anderen Epoche hatte sich die europäische Staatenwelt so sehr in einem stetigen Wechsel befunden wie zwischen dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges und dem Ausbruch des Siebenjährigen Krieges. Jeder Hof konnte mit jedem anderen koalieren, kein Bündnis war in Stein gemeißelt und selbst Frankreich und Großbritannien agierten nach dem Utrechter Frieden gemeinsam gegen Spanien. Von allen politischen Umgruppierungen war aber die Annäherung der Erzrivalen Habsburg und Frankreich im Mai 1756, das sogenannte Renversement des alliances, die wohl spektakulärste Wende.

Von den fünf führenden Mächten beanspruchte Frankreich auch nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges immer noch den ersten Rang auf dem Kontinent. Es besaß mit Abstand die größte Bevölkerung, die höchste Wirtschaftskraft und mit einer Friedensstärke von 160 000 Mann nach Russland die stärkste Armee in Europa. Das europäische Militärwesen dominierten französische Offiziere in Theorie und Praxis. Frankreichs Absolutismus galt auch nach dem Tod Ludwigs XIV. vielen Staaten östlich des Rheins als konkurrenzloses Vorbild. Vor allem in Deutschland versuchte man seine zentralistische Verwaltung und seine monarchische Prachtentfaltung zu kopieren. Allerdings zeigte sich nach dem Tod von Kardinal André Hercule Fleury (1743), dem letzten großen Staatsmann Frankreichs, dass dem neuen Herrscher Ludwig XV. die Tatkraft und die fähigen Minister fehlten, um das durch seinen Urgroßvater geschaffene absolute Königtum auszufüllen. Sein Land, das der Monarch in seiner mehr als 50-jährigen Regierungszeit nur ein einziges Mal bereist hatte, stagnierte in vielen Bereichen. Obwohl die namhaftesten Vertreter der europäischen Aufklärung Franzosen waren, verharrte der Adel Frankreichs wie auch seine Bevölkerung in ihrer Mehrheit in rückständigen Vorstellungen. Es dominierten politische Willkür und religiöse Intoleranz. Der Exodus der Hugenotten bedeutete für das Land einen ungeheuren Aderlass. Der Einfluss der katholischen Kirche blieb weiterhin stark. Wirtschaftlich litt Frankreich immer mehr darunter, dass der unter Ludwig XIV. und seinem Minister Jean Baptiste Colbert perfektionierte Merkantilismus im Verlauf des 18. Jahrhunderts seine Grenzen erreichte und gegenüber einem in Großbritannien sich etablierenden freien Unternehmertum stetig an Boden verlor. Trotz steigender Gewinne aus dem Überseehandel summierten sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die französischen Budgetdefizite fast bis zum Staatsbankrott. Die Gründung einer Staatsbank als Garantieinstitution der öffentlichen Schulden misslang. Das gewaltige Heer konnte schließlich nur noch durch überteuerte Staatsanleihen finanziert werden, im Flottenbau geriet Frankreich gegenüber dem britischen Rivalen in einen unaufholbaren Rückstand. Ein ambitioniertes Aufholprogramm unter Marineminister Jean-Frédéric Graf von Maurepas kam jedoch nicht über 75 Linienschiffe hinaus. Zudem waren sie mit ihren 74 Geschützen den größeren britischen Schiffen mit 100 Kanonen kaum mehr gewachsen. Nicht allein knappe Finanzen, sondern auch fehlende Besatzungen bildeten eine kaum zu überwindende Grenze für Frankreichs maritime Rüstung.3 Die Bewahrung des kolonialen Besitzstandes in Nordamerika, der Karibik und in Indien schien unter diesen Umständen immer mehr infrage gestellt.

In Europa dagegen besaß Frankreich seit dem Frieden von Utrecht/ Rastatt erstmals sichere Grenzen. Im Osten reichte sein Territorium bis zum Rhein, im Norden schützte Frankreich eine starke Festungskette.4 Neue Eroberungen etwa in den österreichischen Niederlanden erschienen dem fünfköpfigen Kabinett Ludwigs XV., dem Conseil d’en haut, daher nicht mehr um jeden Preis erstrebenswert. Der Monarch selbst gefiel sich sogar immer mehr in der Rolle eines Friedensfürsten.

Traditionell hatte Versailles in Österreich seinen Hauptfeind gesehen, doch mehr und mehr nahm Großbritannien diese Rolle ein. Daneben beunruhigte den französischen Hof auch Russlands stürmischer Drang nach Westen. Nicht ohne Erfolg versuchte Frankreich die hegemonialen Bestrebungen des Zarenreiches durch einen Kordon osteuropäischer Verbündeter mit Polen im Zentrum einzudämmen. Um die polnische Thronfolge kam es daher 1733–35 zum ersten Mal seit dem Vertrag von Rastatt zu einem Krieg gegen Habsburg und einige Reichsständen, der nach einigen unbedeutenden Kämpfen mit einem Kompromiss endete. Frankreich akzeptierte im Rahmen der Pragmatischen Sanktion die Thronfolge Maria Theresias und erhielt dafür Lothringen. Das lange umstrittene Herzogtum ging zunächst an Stanislaus Leszczynski, den Schwiegervater Ludwigs XV. und vertriebenen polnischen Thronaspiranten. Nach dessen Tod sollte Lothringen endgültig an Frankreich fallen, was 1766 dann auch geschah.

Durch Schwedens vernichtende Niederlage im Nordischen Krieg hatte Frankreich zwar seinen traditionellen Verbündeten an der Nordflanke Europas eingebüßt, doch konnte es nach dem Regierungsantritt Friedrichs II. in Preußen (1740) einen neuen militärisch potenten Alliierten als Ersatz gewinnen. Durch die überfallartige Besetzung Schlesiens war der Hohenzollernstaat zudem dauerhaft in Gegnerschaft zu Österreich und Russland geraten und schien somit ein idealer Baustein im französischen Bündnissystem zu sein. Auch musste das spartanisch verwaltete Königreich mit seinen soliden Staatsfinanzen nicht durch aufwendige Subsidien bei der Stange gehalten werden.

 

Selbst wenn der alte Glanz seiner Monarchie schon deutliche Flecken aufwies, war es Frankreich bis zum Tode Kardinals Fleury zum letzten Mal vor 1793 gelungen, seine alte hegemoniale Stellung in Kontinentaleuropa zu behaupten. In Europa schien es unangreifbar, doch der lebenswichtige Handel mit seinen transatlantischen Kolonien war mehr und mehr dem Druck Großbritanniens und seiner überlegenen Flotte ausgesetzt. Die Bereitschaft der französischen Krone, drohende Verluste in Nordamerika durch Gewinne oder Faustpfänder in Europa zu kompensieren, nahm zu.

Großbritannien durchlebte unter wechselnden Regierungen seit dem Utrechter Friedensschluss zunächst eine Schwächephase, während der es in Europa ohne echte Verbündete auskommen musste. Besonders Österreich blieb lange auf Distanz zum Inselreich, nachdem 1710/13 die neue Tory-Regierung unter Henry Saint John, Lord Bolingbroke, vollkommen eigenmächtig aus dem gemeinsam geführten Krieg um die spanische Erbfolge ausgeschieden war. Um den Rücken für ihre koloniale Expansion freizuhaben, bemühte sich die britische Politik seither um die Aufrechterhaltung des kontinentalen Status quo, wie er in den Friedensschlüssen von 1713/14 ausgehandelt worden war. Der revisionistischen Politik Österreichs und Spaniens versuchte London entgegenzuwirken und scheute sich auch nicht, dabei gelegentlich mit Frankreich eng zusammenzuarbeiten. Erst der Abschluss des Zweiten Wiener Vertrages führte 1731 Großbritannien und Österreich wieder näher zusammen.5

Hinsichtlich der Rolle des Kontinents blieb die britische Politik dauerhaft gespalten. Während die isolationistischen Tories dafür eintraten, Europa zu vernachlässigen und stattdessen Großbritanniens Herrschaft in Übersee auszubauen (Blue Water Policy), traten die Whigs, die 1717 die Macht zurückgewonnen hatten, für ein verstärktes Engagement auf dem Kontinent ein. Der französische Rivale müsse unbedingt in Europa beschäftigt werden, um den Ausbau seiner Flotte zu verhindern. Besonders lag ihnen die Aufrechterhaltung der »belgischen Barriere« am Herzen, wofür man allerdings die Unterstützung der Generalstaaten und Österreichs benötigte.

Für ihre Politik der kontinentalen Bindung fanden die Whigs auch die unbedingte Zustimmung der hannoverischen Welfen, die seit 1714 Großbritannien regierten, aber weiterhin die Interessen ihres Stammlandes fest im Auge behielten. Eine vergleichsweise schwache Armee von maximal 50 000 Mann bildete die wohl entscheidende Hürde für ernsthafte militärische Engagements auf dem Kontinent und zwang die britischen Regierungen zu Subventionszahlungen an die verbündeten europäischen Höfe.

Eine Besonderheit der britischen Politik war das stetig wachsende Selbstbewusstsein des Parlaments. Als absolutistisch geprägter deutscher Fürst musste sich König Georg I. (1714–1727) ebenso wie später sein gleichnamiger Sohn damit abfinden, dass das britische Unterhaus einen ungewöhnlich großen Einfluss auf die Außenpolitik nahm. Die Macht des House of Commons war so groß, dass es sogar gegen den Willen von Staatssekretär Robert Walpole und König Georg II. (1727–1760) einen Krieg gegen Spanien durchsetzen konnte. Der fortgesetzte Schmuggel britischer Waren in die Karibik hatte fühlbar Spaniens Handelseinnahmen verringert. Als Madrid die illegale Praxis britischer Kolonisten gewaltsam zu unterbinden suchte, löste das in ganz Großbritannien tiefe Empörung und lautes Kriegsgeschrei aus. Der Krieg begann im September 1739 und wurde bald im ganzen Land nach einem von den Spaniern verstümmelten britischen Kapitän der »Krieg um Jenkins Ohr« genannt.6

Wegen der oft wechselnden Mehrheiten im Unterhaus misstrauten die kontinentalen Höfe grundsätzlich den diplomatischen Vertretern Großbritanniens, zumal dessen Politiker sich nicht selten aus bürgerlichen Verhältnissen emporgearbeitet hatten.7 Die Teilung der britischen Außenpolitik in eine nördliche und südliche Sphäre verschärfte die Skepsis. Mehr als einmal kam es vor, dass die Vertreter der beiden für die Außenpolitik zuständigen Staatssekretäre sich einander in ein und derselben Angelegenheit widersprachen.8 Ein erheblicher Vorteil des britischen Regierungssystems lag jedoch darin, dass außenpolitische Fragestellungen nicht allein in arkanen Zirkeln unter dem Vorsitz des jeweiligen Monarchen entschieden wurden, sondern auf der Grundlage einer breiten parlamentarischen Auseinandersetzung. Die Debatten des Unterhauses über die auswärtige Politik bildeten regelmäßig den Höhepunkt des parlamentarischen Jahres und fanden in Presse und Öffentlichkeit großen Widerhall. Ein Zeitgenosse urteilte über seine Landsleute mit ironischer Überzeichnung: »Unser Volk ist eine Nation von Staatsmännern. Jedes Alter, jedes Geschlecht und jeder Berufsstand führt seine eigene Ministerliste auf den Lippen; und Whig und Tory sind die ersten Worte, welche der Säugling an der Mutterbrust stammelt.«9

Hinter allem Disput bestand jedoch weitgehender Konsens unter allen politischen Strömungen, dass Frankreich der Hauptrivale des Vereinigten Königreiches war und die britische Regierung alles tun musste, um dessen kontinentale Hegemonie durch ein Gleichgewicht der Kräfte wenigstens einzudämmen. Als sich zu Beginn der 1740er-Jahre jedoch immer mehr herausstellte, dass Großbritannien Gefahr lief, angesichts der wachsenden französischen Macht auf dem Kontinent sein Ziel zu verfehlen, musste Außenstaatssekretär Robert Walpole nach zwei Dekaden sein Amt aufgeben.10

Mit seiner gewaltigen Ländermasse von Böhmen bis Brabant war das Haus Habsburg seit dem Ausgang des Mittelalters der ewige Rivale Frankreichs gewesen. Habsburger herrschten in den Niederlanden und im Elsass. Zu ihrem Herrschaftsbereich zählten die Lombardei sowie etliche mittelitalienische Herzogtümer, während der spanische Zweig der Familie die Iberische Halbinsel zusammen mit einem gewaltigen transatlantischen Kolonialreich in seiner Gewalt hatte. Auch wenn die Macht der Habsburger seit dem Dreißigjährigen Krieg in Westeuropa deutlich geschmälert worden war, blieben sie weiterhin ein ebenbürtiger Gegner der Bourbonen. Gestützt auf die Ressourcen der Erblande und mithilfe der Reichsstände war es den habsburgischen Kaisern seit 1683 gelungen, in langen Kämpfen an Rhein und Donau der doppelten Bedrohung durch Frankreich und des mit ihm verbündeten Osmanischen Reiches zu widerstehen. Mit den Friedensschlüssen von Karlowitz (1699) und Passarowitz (1718) konnten die Habsburger sogar das von den Türken seit fast zwei Jahrhunderten besetzte Ungarn in ihre Hand bringen. Gleichzeitig war damit im Südosten eine neue strategische Perspektive für das »Erzhaus« gewonnen worden. Auf der Sollseite der österreichischen Habsburger standen nach den beiden langen Kriegen gegen Frankreich empfindliche Verluste in Italien, die durch den Erwerb der vormaligen spanischen Niederlande – im Wesentlichen das heutige Belgien mit Luxemburg – nicht ausgeglichen werden konnten. Versuche der alten Binnenmacht, durch die Gründung einer Fernhandelskompanie im belgischen Ostende im Jahre 1722 einen besonderen Nutzen aus der entlegenen Provinz zu ziehen, scheiterten bald am Widerstand der britischen und niederländischen Konkurrenz. Der Rückschlag war nur Teil einer beachtlichen Kette von Misserfolgen, die Österreich während der langen Herrschaftszeit Karls VI. (1711–1740) zu beklagen hatte. Hauptsächlich waren hierfür die Bemühungen des Kaisers verantwortlich, durch die sogenannte Pragmatische Sanktion von 1713 die Unteilbarkeit aller seiner Länder zu proklamieren und die weibliche Erbfolge zu sichern. Statt auf eine starke Armee setzte der Kaiser dabei auf Verhandlungen mit den Reichsständen und den europäischen Mächten, was ihn erhebliche Zugeständnisse kostete, aber keine wirklichen Garantien brachte.11 Der dramatische Niedergang der österreichischen Militärmacht zeigte sich nur zwei Jahre nach dem Tod der Feldherrenlegende Eugen von Savoyen, als Österreich 1738/39 nach einem unglücklich verlaufenen Türkenkrieg den größten Teil seiner Gewinne aus dem Frieden von Passarowitz wieder verlor. Am Ende seiner langen Regierungszeit schien der Habsburgerstaat bei zerrütteten Staatsfinanzen und einer vernachlässigten Armee nicht mehr länger eine europäische Ordnungsmacht zu sein. Als Verbündeter sei das »Haus Österreich« inzwischen vollkommen nutzlos, klagte im März 1739 Sir Robert Walpole.12 Die nur lose durch die Person des Kaisers zusammengefügte habsburgische Ländermasse zog bei weiterhin ungesicherter Nachfolge zunehmend die begehrlichen Blicke seiner Nachbarn auf sich.

Durch seinen Sieg im Großen Nordischen Krieg hatte Russland seinen Einfluss bis weit nach Mitteleuropa ausgedehnt. Seine Flotte dominierte die Ostsee, seine Armee stand jederzeit eingreifbereit an der Grenze zu Polen und selbst Dänemark musste die Einmischung des Zaren in seine inneren Angelegenheiten hinnehmen. Doch mit dem Tod Zar Peters I. im Januar 1725 trat Russland zunächst in eine politische Konsolidierungsphase. Vieles, was der autokratische Herrscher in seinem brutalen Tatendrang angefasst hatte, war Stückwerk geblieben. Weder die Einführung der Kopfsteuer noch die große Verwaltungsreform hatte der Zar abschließen können. Ein erheblicher Teil des alten russischen Adels lehnte westliche Ideen und Einflüsse entschieden ab und verabscheute vor allem die brachialen Methoden, mit denen der Zar seine überkommene Lebensweise zurückzudrängen versucht hatte. Da Peter seine Nachfolge nicht eindeutig geregelt hatte und in rascher Folge seine älteste Tochter und schließlich auch sein erst 14 Jahre alter Enkel verstorben waren, gelangte Russland erst seit 1730 unter der Herrschaft von Zarin Anna Iwanowna wieder zu halbwegs stabilen Verhältnissen. Die Ruhe war aber teuer erkauft, denn die Nichte Zar Peters, eine sadistische und genusssüchtige Frau, zögerte nicht, die alte Geheimkanzlei ihres Onkels, eine Art Geheimpolizei, wieder einzusetzen. Mehr als 10 000 politische Gegner fielen dem von ihr inszenierten Massenterror durch Tod oder Deportation zum Opfer.13 In der Außenpolitik Russlands war der Westfale Heinrich Johann Ostermann lange die bestimmende Persönlichkeit.14 Als Vizepräsident des Auswärtigen Kollegiums versuchte er, Russlands Gewinne im Nordischen Krieg diplomatisch abzusichern und schwedische Revisionsversuche abzuwehren. Ein Bündnis mit Preußen und Österreich sollte ein Gegengewicht zu Frankreich und Großbritannien bilden. 1733 intervenierte die russische Armee daher auch im Polnischen Erbfolgekrieg und belagerte die Anhänger Stanislaus Leszczynskis in Danzig. Ein russisches Korps von 12 000 Mann unter dem Befehl des späteren preußischen Feldmarschalls James Keith überwinterte 1734/35 in Schlesien. Nur der Waffenstillstand zwischen Frankreich und Österreich im darauffolgenden Frühjahr verhinderte seinen Weitermarsch zum Rhein.15

1735 fühlte sich Russland wieder stark genug, in einem weiteren Krieg gegen das Osmanische Reich das alte Ziel Zar Peters aufzugreifen und die Schwarzmeerküste mit der Krim zu besetzen. Das Unternehmen scheiterte jedoch trotz einiger Anfangserfolge an Versorgungsproblemen, der Hitze sowie Krankheiten in der Truppe. Nicht zuletzt auch die militärische Schwäche des österreichischen Alliierten an der Donau bewog Ostermann, den Krieg abzubrechen. Im Frieden von Belgrad durfte Russland 1739 lediglich die Festung Azow an der Mündung des Don behalten.16

Als Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg sich am 18. Januar 1701 in Königsberg mit außergewöhnlich großem Aufwand zum König in Preußen krönte, gab es in Europa nicht wenige Spötter. Kaum ein Zeitgenosse rechnete damals damit, dass der eher ärmliche Staat im Nordosten des Reiches mit seinen drei Marken und dem entlegenen Hinterpommern nur ein halbes Jahrhundert später zum exklusiven Kreis der europäischen Großmächte gehören würde. Außer Russland gelang keinem Staat in Europa ein derart bemerkenswerter Aufstieg in so kurzer Zeit. Der Preis für die etwa 2,5 Mio. Untertanen war jedoch sehr hoch. Der seit 1713 regierende Friedrich Wilhelm I. reformierte mit außergewöhnlicher Energie, Sparsamkeit und brachialem Zwang sein Königreich. Verwaltung, Schulwesen und Steuereintreibung wurden in Preußen, wie der gesamte Hohenzollernstaat bald nur noch genannt wurde, gegen alle Widerstände vereinheitlicht. Vor allem aber verdoppelte der militärverliebte Monarch, den der französische Hof gern als roisergeant verspottete, die preußische Armee während seiner 27-jährigen Regierung auf 80 000 Mann. Bis zu 80 Prozent der Staatseinnahmen gingen in den Militärhaushalt. Rechnerisch kam damit in Preußen auf 31 Einwohner immerhin ein Soldat, in Großbritannien waren es dagegen 310 Einwohner. Doch der Soldatenkönig setzte sein militärisches Potenzial nur äußerst vorsichtig ein. Erst in der Endphase des Nordischen Krieges schloss er sich den siegreichen Russen und Dänen an und konnte 1720 den Schweden den wichtigen Hafen Stettin mit der Odermündung wegnehmen. Im Übrigen aber steuerte Friedrich Wilhelm, der sich stets als »loyaler Reichsfürst« sah, einen Kurs ganz im Fahrwasser Wiens und hatte auch frühzeitig die Pragmatische Sanktion anerkannt. Eine Entfremdung, wenn nicht sogar ein Bruch mit dem Kaiserhaus, trat erst gegen Ende seiner Regierungszeit ein, als Kaiser Karl VI. den Hohenzollernstaat entgegen seiner früheren Zusage im Jülisch-Bergischen Erbschaftsstreit einfach überging. Erstmals näherte sich der düpierte Hohenzollernmonarch nun Frankreich an, das 1739 in einem Geheimvertrag Preußens Anwartschaft auf das Herzogtum Berg bestätigte.17 Anders als Friedrich Wilhelm, der im friedlichen Gewinn der beiden rheinischen Territorien für Preußen sein außenpolitisches Vermächtnis gesehen hatte, dachte sein Sohn und Nachfolger, Friedrich II., in viel weiter ausholenden Kalkülen. Dem königlichen Philosophen, Verseschmied und nicht untalentierten Flötenspieler ging es nicht um zusätzlichen Streubesitz irgendwo im Reich. In Habsburgs Schwäche erkannte er die einmalige Chance, Preußen als eine neue mittlere Macht zu etablieren, vielleicht sogar auf Augenhöhe mit Wien zu gelangen. Schlesien, das kaum von österreichischen Truppen verteidigt wurde, bot sich ihm in zweierlei Hinsicht an. Als reiche Provinz mit einem bedeutenden Textilgewerbe und fast einer Mio. Einwohnern würde es die Macht Preußens beinahe verdoppeln. Da sich aber auch Friedrich August II. von Sachsen, und als August III. gewählter König von Polen, zumindest für einen Teil Schlesiens als territoriale Verbindung seiner beiden Herrschaftsbereiche interessierte, musste Friedrich rasch handeln. Kaum war am 20. Oktober 1740 Kaiser Karl VI. in Wien verstorben, bot der Potsdamer Monarch seiner Erbin, Maria Theresia, nicht ganz frei von Zynismus gegen die Abtretung der Provinz Schlesien und der Grafschaft Glatz einen hohen Geldbetrag und seine militärische Unterstützung gegen alle anderen Feinde Habsburgs an. Erwartungsgemäß lehnte Maria Theresia diesen Vorschlag, den sie als Beleidigung empfinden musste, kategorisch ab und der hundertjährige Dualismus zwischen Österreich und Preußen nahm seinen Anfang.