Einführung in die Psychomotorik

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■ Mit der Fortbewegung (Phase III; ab etwa 8 Monaten) erhält die perzeptive Orientierung zur Welt eine neue Dimension. Doch beginnt die Lokomotion nicht erst mit dem Laufen, entscheidend sind die Möglichkeiten, die sich das Kleinkind durch Krabbeln, Rutschen, Gehen, Laufen, Rennen und Klettern eröffnet. Es entdeckt, dass es Distanzen überbrücken kann, um Dinge zu erreichen, die bisher außerhalb seiner Reichweite lagen. Stufen, Abhänge, schwankende oder glitschige Untergrundbeschaffenheiten (Umweltangebote) beanspruchen die Aufmerksamkeitszentrierung des gesamten Wahrnehmungssystems.

2.1.4 Implikationen für die Psychomotorik

Entwicklungsaufgaben

Mit einer solchen aktivitäts- oder handlungsgebundenen Skizzierung der Wahrnehmungsentwicklung erfährt der Wahrnehmungsbegriff eine entscheidende Bedeutungsveränderung. Wahrnehmung ist nicht mehr Teilfunktion, sondern Integral der Persönlichkeitsentwicklung. Das Entscheidende in dem hier favorisierten Konzept ist nun, dass Entwicklung immer als Passung der Person-Umwelt-Interaktion zu sehen ist, wobei die von Gibson beschriebenen Phasen als entwicklungslogische Schwerpunktsetzung zu verstehen sind, bei denen beispielhaft die gelungene Passung zwischen dem sich entwickelnden Säugling bzw.Kleinkind und der personalen und dinglichen Umwelt gelingt. Man kann diese als Entwicklungsaufgaben bezeichnen, die gleichsam an das Individuum wie an die Umwelt zu stellen sind. Die Entwicklungsaufgabe entspricht dabei jener Anforderungsstruktur, die in einem Entwicklungsabschnitt thematisch vorherrschend ist. Gibson beschreibt in ihrem Ansatz diejenigen Erkundungsaktivitäten, die das Erreichen der Knotenpunkte (Entwicklungsaufgaben) ermöglichen (Zum Konzept der Entwicklungsaufgaben s. Kapitel 3.5.2). Dabei sind zwei Elemente des Gesamtkonzeptes von besonderer Bedeutung: erstens die Tatsache, dass Wahrnehmungsentwicklung immer multimodal ausgerichtet ist und zweitens, dass Wahrnehmungslernen wesentlich von der Selbstbewegung, d. h. von den eigenmotorischen Erfahrungen des Kindes abhängen (Gibson 1992; 2000; Pick 1992).

Ökologische Wahrnehmungstheorie

Was ist das Besondere an diesem Ansatz? Mit Hilfe des bei Gibson zugrunde gelegten Wahrnehmungskonstrukts lässt sich erklären, wie das Kind durch Erkundungs- und Handlungsprozesse Wissen über die Welt erwirbt und sein Wissen in Veränderungsstrategien umsetzt. Das Kernelement der ökologischen Wahrnehmungstheorie ist die Erkenntnis, dass der kindliche Wahrnehmungsfortschritt und das Wissen um die Objektbeschaffenheiten der dinglichen Umwelt geradezu an die Explorationsmöglichkeiten des Kindes gebunden sind (vgl. Schwarzer/Degé 2014, 100). Wissen gründet also auf Handlung und dieses ist die Verbindung zur aktuellen Kognitionsforschung (v. Hofsten 2009).

2.1.5 Aktuelle Entwicklungen in interdisziplinärer Blickrichtung

Dynamischsystemisches Entwicklungsverständnis

Interessanterweise wird das bei E. Gibson ausgewiesene Grundverständnis zum Kernstück des gegenwärtigen Fachdiskurses um kindliche Entwicklung. Sowohl die Entwicklungspsychologie als auch die kognitive Psychologie (Wilkening/Krist 2008; Krist 2006; Adolph/Robinson 2015; Siegler et al. 2016a; 2016d) weisen der Forschung zur motorischen Entwicklung eine „paradigmatische Bedeutung für das Verstehen der Entwicklung von Kindern“ (Michaelis 2003, 853) im Allgemeinen zu. Dabei geht die interdisziplinäre scientific community von einem dynamisch-systemischen Entwicklungsverständnis aus. Die dynamische Systemtheorie (Thelen/Smith 2006; Spencer et al. 2011; Witherington 2015) versucht, Entwicklung als Interaktion aller biologischen Funktionen des Körpersystems mit der untrennbaren Natur individueller, umweltbezogener und aufgabenspezifischer Faktoren bzw. Herausforderungen zu erklären (Haywood/Getchel 2005, 23). Dabei werden so genannte Wahrnehmung-Handlungs-Kopplungen zum strukturierenden, d.h. entwicklungsfördernden Prinzip (Kunde 2017). Diese geballte Positionsbestimmung soll im Folgenden noch etwas näher ausgeführt werden.

Der siebte Sinn

Kurz (2005) beschäftigt sich in einem sportpädagogisch-psychomotorisch motivierten Beitrag mit der Bedeutung der Wahrnehmung und nennt diesen „Der siebte Sinn“. Ausgehend von der aristotelischen Einteilung der ersten fünf Sinne Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten kommt er über den bewegungspädagogisch/psychomotorisch bedeutsamen Gleichgewichtssinn als sechsten Sinn zur Beschreibung des siebten Sinnes und tut sich damit schwer. Alle üblichen Begriffsfassungen als Stellungs-, Kraft- und Bewegungssinn sind für ihn nicht präzise oder umfassend genug, sodass er es bei der Bezeichnung „siebter Sinn“ belässt. Auch wenn man diesen Sinn offensichtlich definitorisch schlecht erfassen kann, so ist er doch allgegenwärtig und damit grundlegend für die Wahrnehmung. Er speist sich aus allen anderen Sinnen und ist – wie beim Beispiel der Wahrnehmungshandlungen eines Radfahrers auf unwegsamen, holprigen Gelände – von Prozessen der Selbst- und Umweltwahrnehmung des Akteurs gar nicht zu trennen. Das Meistern der Aufgabe gibt umfassende Informationen und ist dabei für den Handelnden subjektiv realistisch (= unersetzlicher Zugang zur Wirklichkeit). Der siebte Sinn ist multimodal (= wir sehen nicht nur mit den Augen) und ist von Verstehen und Erleben nicht zu trennen (= wir begreifen und fühlen nicht nur mit dem Tastsinn). Der siebte Sinn ist eigentlich von der Bewegung nicht zu trennen. Die Wahrnehmungsfähigkeit des Kindes entwickelt sich durch Bewegung: vielseitige Bewegung wird zum Entwicklungs-Elexier für Kinder (Kurz 2005, 233; vgl. auch Fischer 2001c).

Integration

Die aktuelle Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung bestätigt die besondere Bedeutung des Handelns für die Entwicklung des Kindes. Grundsätzlich hat Wahrnehmung die Bedeutung, den Handelnden in Beziehung zu seiner Umwelt und Lebenswelt zu setzen (er erhält Informationen über seine Position zur Welt und über die Objektbeschaffenheiten). Dabei sind alle Sinne beteiligt und liefern modale wie intermodale Erkenntnisse, die sich gemeinsam auf drei entwicklungsrelevante übergeordnete Aufgabenbereiche beziehen:

■ die räumliche Orientierung und die zielgenaue Steuerung der eigenen Bewegung, anfangs auch der Fortbewegungsmöglichkeiten;

■ das Erkennen der gegenständlichen Welt und von Ereignissen in ihrer Bedeutung für das Handeln;

■ die Steuerung der sozialen Kommunikation (Fischer 2001c).

multisensorische Wahrnehmung

Wahrnehmung ist also nicht Informationsverarbeitung, sondern ein zielgerichteter und bedeutungsvoller Akt im Dienste des Akteurs mit einer Ausrichtung auf die Welt. Die Forschung beschäftigt sich zunehmend mit Prozessen der intermodalen oder auch multisensorischen Wahrnehmung. Dabei wird zwischen multisensorischer Kombination und multisensorischer Integration unterschieden (Drewing 2017, 77). Es ergibt Sinn, wenn Stimme und Aussehen einer Person miteinander kombiniert werden (für das Wiedererkennen) oder auch wenn zusätzlich zur Betrachtung die haptischen Qualitäten eines Gegenstandes durch die tastenden Hände erfahren werden und so die die Objektwahrnehmung (Konsistenz, Gewicht, nicht sichtbare Oberflächenbeschaffenheit der Rückseite des Objekts) verbessert wird (vgl. Drewing 2017, 77). Hier optimieren komplementäre Erfahrungen aus verschiedenen Sinnen die Objekt-, Person- oder Situationswahrnehmung. Wenn eine Person beispielsweise die Absicht hat in einen Raum einzutreten und zuvor an die Tür klopft, hört, sieht und spürt sie was sie tut. Für die Handlungsabsicht, den Raum zu betreten, sind die integrierten Sinnesinformationen redundant, ermöglichen aber eine präzisere und schnellere Wahrnehmung im Sinne einer erfolgreichen Handlungsorganisation (Drewing 2017, 77; 95). Die Forschungen zur multisensorischen Informationsverarbeitung sind zukunftsweisend, vor allem weil sie in den Kontext entwicklungsrelevanter Handlungsforschung eingebettet sind.

Nach derzeitiger Vorstellung erfolgt die Entwicklung des Kleinkindes in Handlungssystemen (action systems, von Hofsten 2003), die Wahrnehmung und Handlung miteinander verbinden, nach Meinung einiger Forscher auch gemeinsam repräsentiert sind (Kunde 2017, 831). Zielgerichtetes Handeln erfolgt danach durch „sequenzielles Explorationsverhalten“ (Schwarzer/Degé 2014, 112) und den ständigen Abgleich zwischen Selbst- und Umweltwahrnehmung. Entwicklung ist dann das Ergebnis von Feedback-Schleifen zwischen Handlung und Wahrnehmung, die neben räumlichen und zeitlichen Komponenten auch affektive und soziale (Selbst-)Bewertungen einbeziehen (vgl. Kunde 2017, 834).

 

Was bedeutet das für die Psychomotorik?

1. Fragestellungen zur psychomotorischen Entwicklung sind auf dem richtigen Weg, solange ein Verständnis zugrunde gelegt wird, das Handeln und Wahrnehmen als Einheit versteht. Die Förderpraxis muss sich hüten, Wahrnehmungsförderung als Sinnestraining misszuverstehen.

2. Der veränderte Wahrnehmungsbegriff erfordert eine veränderte Förderpraxis: Erstens ist die bewegungsbezogene Förderung immer im Sinne Gibsons als mehrdimensionale (= multimodale) Erkundungstätigkeit zu verstehen und in ganzheitlichen Handlungssituationen zu vermitteln. Zweitens sind Handlungssituationen immer als Problemlösesituationen zu gestalten, die Kindern den kreativen Umgang mit Handlungsmöglichkeiten erlaubt und nicht den Nachvollzug vorgegebener Lösungswege vorschreibt.

3. Ein Handlungssystem ist nicht als rein kognitives Konstrukt zu verstehen, sondern nur in Verbindung sozial-emotionalen Verstehens. So stellt die Psychomotorik verstärkt Fragen zu den psychoemotionalen Entwicklungsprozessen, die Handeln und Wahrnehmen auch auf die Facetten der Sozialwahrnehmung und die Emotionsverarbeitung richten (Mroncz 2001). Insofern sind Fragen zur Wahrnehmungsentwicklung des Kindes nie ohne Aspekte des Identitätsbildungsprozesses (Selbstkonzept) zu behandeln.

2.2 Bedeutung und Entwicklung emotionaler Kompetenzen

Umgang mit Emotionen

Als „emotionale Kompetenzen“ (Petermann/Wiedebusch 2003, 9) werden ausgeprägte emotionale Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Kindes bezeichnet, die sich in den Bereichen Emotionsausdruck, -verständnis und -regulation widerspiegeln. Das Erlernen eines kontrollierten Umgangs mit den eigenen positiven wie negativen Emotionen und den Gefühlen anderer wird als Entwicklungsaufgabe bezeichnet (Helmsen/Petermann 2008, 8) und nimmt eine Schlüsselstellung in der Entwicklung eines Kindes ein. Emotionsverständnis impliziert ein Bewusstsein für die eigenen emotionalen Zustände sowie die Fähigkeit, die Emotionen des Gegenübers zu erkennen und zu verstehen. Kompetenter Emotionsausdruck äußert sich schließlich in der Fähigkeit, die eigenen Gefühle angemessen zeigen sowie auf die Emotionen anderer empathisch reagieren zu können (vgl. Petermann/Wiedebusch 2003, 9ff.; Braun 2014).

Kinder erleben ihre Emotionen als Widerfahrnisse, die ihnen unvorhergesehen zustoßen, die nach Ausdruck drängen und sich ihrer direkten und willkürlichen Kontrolle entziehen. Auch Erwachsene können situativ heftige Emotionen zeigen; dennoch unterliegen sie der Tendenz zunehmender Kontrolle im Einklang mit Handlungen. Dahinter steht die Absicht der Misserfolgsvermeidung infolge sozialer Bewertungen der gezeigten Verhaltensweisen. Dieses gilt gleichermaßen für das Erlebnis positiver Emotionserfahrungen. Nach Friedlmeier/Holodynski (1999, 2ff.) vermindert sich mit dem Entwicklungsalter die Spontaneität und Variationsbreite der emotionalen Verhaltensweisen, da die Erfolge mit den dazugehörigen Erlebniszuständen zunehmend vorhersagbar geplant werden. Während Kleinkinder in ihrem Handeln wesentlich von Emotionen geleitet werden, lernen Erwachsene es im Laufe ihrer Entwicklung also, ihre Emotionen weitgehend zu kontrollieren bzw. gezielt einzusetzen. Die Facetten der Emotionsregulation wurden erstmals bei Goleman (1997) als emotionale Intelligenz bezeichnet. War die Emotionalität lange Zeit als individuelles Konzept verstanden worden, scheint hier die erfahrungsabhängige und soziale Determiniertheit des Konstrukts durch. Die Emotionsforschung hat vor dem Hintergrund differenzierter Beobachtungen und Problemstellungen vier übergreifende Forschungsparadigmen entwickelt, die bezugnehmend auf Friedlmeier/Holodynski (1999) bzw. Holodynski (2006; 2014) für die weiteren Erörterungen erläutert werden.

2.2.1 Das strukturalistische Paradigma: Emotion als spezifischer psychischer Zustand

4 Formen der Emotion

Nach dem strukturalistischen Erklärungsparadigma haben Emotionen die überlebensrelevante Funktion „den Organismus in eine bedürfnis- und situationsangepasste Handlungsbereitschaft zu versetzen“ (Izard 1994, zit. n. Holodynski 2014, 441).

Der strukturelle Ansatz versteht Emotion als einen spezifischen emotionalen Zustand, der quasi als Reaktion auf einen emotionsspezifischen Anlass erfolgt. Eine solche Sichtweise kommt am ehesten einem Alltagsverständnis nahe (Friedlmeier/Holodynski 1999, 5). Der Forscher sucht nach beschreibbaren Formen oder Konfigurationen, die er als Anzeichen für das Vorhandensein einer Emotion heranzieht. Diese werden vier Klassen zugeordnet:

1. Das Gefühl: Diese Form umfasst das subjektive Erleben und wird über Selbstberichte von Personen zugänglich, z. B. Aussagen wie, „Ich fühle mich fröhlich“ als subjektives Anzeichen für Freude.

2. Der Körperzustand: Diese Form beinhaltet (peripher-) physiologische Reaktionen und wird über Blutdruck, Hautwiderstand etc. erfasst. So gilt z. B. eine erhöhte Durchblutung der peripheren Muskelgruppen als körperbezogenes Anzeichen von Freude.

3. Ausdruck: Der Ausdruck beinhaltet expressive und instrumentelle, beobachtbare Verhaltensweisen. So wird z. B. ein Lächeln oder ein Luftsprung jeweils als ausdrucksbezogenes Anzeichen für Freude bewertet.

4. Situative Kontexte und Ereignisse als Emotionsanlass: Diese Form umfasst das Wissen, welche emotionalen Reaktionen in welchen Kontexten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auftreten. So nimmt man z. B. an, dass das Ereignis „Geburt eines Kindes“ bei den Eltern Freude auslöst (Holodynski/Friedlmeier 1999, 5).

Basisemotionen

Emotionalität muss aus dieser Perspektive heraus als ein qualitativ näher beschreibbarer Zustand gesehen werden, der mit Veränderungen dieser Klassifikationsebenen einhergeht. Die Forschungen ergaben eine Differenzierung von universalen Basisemotionen – Plutchik (1991) etwa differenziert acht Basisemotionen in vier Gegensatzpaaren: Freude/Traurigkeit; Furcht/Wut; Überraschung/Vorahnung; Akzeptanz/Ekel –, die sich über Reifungsvorgänge sowie über Anregungen der Umwelt entfalten. Emotionale Entwicklung wird danach im Wesentlichen als eine Veränderung quantitativer Parameter wie Häufigkeit oder Intensität der Basisemotionen konzeptualisiert (Holodynski/Friedlmeier 1999, 7). Veränderungsprozesse münden allenfalls in Variationen und Kombinationen von Basisemotionen, die man Mischformen nennt: aus Freude und Akzeptanz wird etwa Liebe. Da Sozialisation und Erziehung lediglich auf Anlässe und den Ausdruck von Emotionen Einfluss nehmen können, müssen Kinder lernen, ihr emotionales Verhalten strukturell vorgegebenen Ausdrucksregeln anzupassen (Holodynski/Friedlmeier 1999, 7).


Kritisch muss angemerkt werden, dass dieses Paradigma empirisch nicht belegt werden konnte. Es gelang nicht, diskrete Emotionen eindeutig und valide zu identifizieren, sodass das Erklärungsparadigma angepasst werden musste.

2.2.2 Das funktionalistische Paradigma: Emotion als spezifische psychische Funktion

Handlungsregulation

Die Schwierigkeit, die Modellannahmen eindeutig zu belegen, führt zur Ergänzung um den Aspekt der Handlungsregulation. So definiert man in den 1980er-Jahren Emotion u. a. als eine „... Änderung der Handlungsbereitschaft, die auf eine Transformation der Person-Umwelt-Beziehung gerichtet ist“ (Holodynski/Friedlmeier 1999, 8). Emotion wird nun als Mittel der Sicherstellung und Überwachung der Befriedigung individueller Motive und Anliegen betrachtet. Im Gegensatz zum strukturalistischen Paradigma, in dem eine diskrete Emotion über eine Konfiguration von Emotionsformen definiert wird, definiert sich die Emotion aus funktionalistischer Perspektive über ihre Funktion im System der individuellen Handlungsregulation.

Die Veränderungsperspektive der Emotionen eines Individuums über die Zeit erfolgt also über Handlungsprozesse. Einfluss nehmen dabei drei Systemkomponenten, die für die Wirkweise von Emotionen bedeutsam sind.

■ Vorauslaufende Bewertungsprozesse (appraisals): Im Kontakt mit seiner Umwelt versucht der Mensch eine Vielzahl an Motiven zu befriedigen. Alle Ereignisse, Personen, Gegenstände werden fortlaufend auf ihre Bedeutung für die Motivbefriedigung hin überprüft. Holodynski/Friedlmeier nennen in Anlehnung an Frijda (1986) als Beispiele das Motiv sich Nahrungsmittel zu beschaffen oder das Bindungsmotiv.

■ Handlungsbereitschaft (action readiness): Emotionen stellen erlebte Handlungsbereitschaften dar, welche die Intention verfolgen, die Person-Umwelt-Beziehung derart zu verändern, dass sie der aktuellen Motivlage dient. Bei der zuvor beschriebenen strukturalistischen Analyse wird die Emotion aufgrund ihrer Unvorhersagbarkeit und Unwillkürlichkeit als ein passives Widerfahrnis verstanden. Im Fokus steht als charakteristisches Merkmal der subjektive Zustand. In der funktionalistischen Analyse ändern sich die Kriterien insofern, als sie die aktive Wirkung auf die nachfolgenden Handlungen der Person in den Vordergrund rücken. „Die Qualität der Emotion ist dabei abhängig von der Art der Bewertung, die zu einer spezifischen Beziehungsbedeutung führt und eine dieser Beziehungsbedeutung entsprechende Handlungsbereitschaft auslöst“ (Holodynski/Friedlmeier 1999, 10). Demzufolge besteht eine direkte Abhängigkeit zwischen der Art der Emotion, die ausgelöst wird und der Bedeutung, die dem Ereignis hinsichtlich der eigenen Motivbefriedigung beigemessen wird. Die Handlungsbereitschaft wiederum führt zur Auswahl geeigneter Verhaltensweisen, die unter den jeweiligen situativen Bedingungen eine Motivbefriedigung sicherstellen.

■ Die nachfolgenden Bewältigungshandlungen (coping): Für die Psychomotorik bedeutsam ist nun die Tatsache, dass der Mensch im Laufe seiner Entwicklung ein flexibel kombinierbares Handlungssystem entwickelt, das er willkürlich zur Bewältigung seiner Ziele und Motive einsetzen kann. Handlungen und Emotionen stehen also in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis.

In seiner überarbeiteten Fassung von 2006 gibt Holodynski ein eindrucksvolles Beispiel zur Illustration der regulativen Funktion von Emotionen:


„... Der fünfjährige Max führt seinem besten Freund Timo voller Stolz ein neues Rutschauto vor, lässt ihn jedoch (zunächst) nicht fahren, obwohl Timo diesen Wunsch zum Ausdruck bringt. Je nachdem wie Timo diese Situation in Bezug auf seinen Wunsch (Rutschauto) einschätzt, werden sich unterschiedliche Emotionen zeigen, die spezifische Handlungsimpulse und letztlich auch unterschiedliche Bewältigungshandlungen nach sich ziehen: Schätzt Timo die Situation allein als Nichterfüllung seines Wunsches ein, wird er mit der Emotion Frustration reagieren, einen Schmollmund und den Handlungsimpuls „sich zurückziehen" zeigen und als resultierende Bewältigungshandlung sich vielleicht zum Trösten an seine Mutter wenden. Schätzt Timo die Situation so ein, dass Max seine Wunscherfüllung absichtlich verweigert und er sich gegen Max zur Wehr setzen kann, wird Timo mit der Reaktion Ärger reagieren, um Max z. B. durch eine aggressive Drohgebärde zum Herleiten des Rutschautos zu bewegen. Steht statt dessen der Zwiespalt im Vordergrund, dass der Max etwas besitzt, das er auch gern besitzen würde, aber nicht hat, dann würde Timo mit Neid reagieren und als Bewältigungshandlung versuchen, auf irgendeine Weise in den Besitz eines Rutschautos zu kommen.

 

Während die Frustration „nur" auf die Nichtbefriedigung des Wunsches orientiert, orientiert der Ärger auf die Ursache, die ungerechtfertigte Verweigerung des Wunsches durch den anderen, und der Neid auf das begehrte Objekt selbst, das man nicht hier und jetzt nur einmal benutzen, sondern besitzen möchte. Der Ärger verschwindet, wenn Max seinen Freund Timo mit dem Auto fahren lässt. Dies wäre beim Neid nicht der Fall, da er auf den Besitz gerichtet ist.

Wie in dem Beispiel verdeutlicht, bedingt die Art der Situationseinschätzung eine je unterschiedliche Emotion und je nach Emotion wird eine unterschiedliche Auswahl an motivdienlichen Handlungen vorgenommen" (Holodynski 2006, 17–18).

Die Unterscheidung von strukturalistischen und funktionalistischen Emotionstheorien liegt denn auch in der Lernkompetenz des Menschen, Klassen von Situationseinschätzungen vorzunehmen und mit stimmigen (gelernten) Handlungsbereitschaften zu reagieren. Holodynski spricht in seiner neuesten Übersicht (2014, 444ff.) von Emotionsfamilien. Danach ist Furcht beispielsweise nicht eine Emotion mit festgelegtem Reaktionsmuster, sondern sehr unterschiedliche Reaktionsmuster auf furchtauslösende Situationen bilden eine Familie von Furchtemotionen. Entsprechend unterliegen diese auch einer Entwicklung in der Ontogenese in Abhängigkeit von der Beziehungsgestaltung des Heranwachsenden und seiner Umwelt.

2.2.3 Das kontextualistische Emotionsparadigma

Die beiden ersten Perspektiven betrachten Emotionen als intrapsychische Konstrukte. Der Fokus des strukturalistischen Paradigmas liegt auf den inneren Wirkweisen von Emotionen und vernachlässigt Effekte, die über die Körpergrenzen hinausgehen. Der Neuigkeitsgrad der Handlungsperspektive im funktionalistischen Handlungsparadigma kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese individualistisch – d. h. rein subjektbezogen – gesehen wird. Die Handlungsbedingungen der kulturellen Kontexte bleiben untergeordnet (vgl. Holodynski/Friedlmeier 1999, 16).

Emotion und Kultur

Das kontextualistische Paradigma fokussiert den Menschen als Kultur schaffendes Wesen. Kulturell tradiert werden technische Instrumente und Handlungsverfahren genauso wie Normen, Werthaltungen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Zu diesen kulturellen Bedeutungssystemen zählen nun auch die Erfahrungen hinsichtlich der Wirkung und Bedeutung einzelner Emotionsformen und Bewältigungshandlungen, also die Regeln bezüglich der kontextspezifischen Angemessenheit der emotionalen Expressivität.

Das Bewertungssystem der sozialen und kulturellen Umwelt prägt den Verlauf der Emotionsgenese. Der kulturspezifische Erwartungshorizont beeinflusst wie, warum und wo Emotionen erlebt, ausgedrückt und reguliert werden. Auch die Auswahl von Bewältigungshandlungen zur Motivbefriedigung hängt von der jeweiligen Kultur und ihren Wertvorstellungen ab. Es ist also nur verständlich, dass die kontextualistisch ausgerichtete Emotionsforschung ihr Augenmerk auf die kulturspezifische Ausprägung und auf interkulturelle Vergleichsstudien richtet. Als Beispiel führen Holodynski/Friedlmeier (1999, 20) die Entwicklung der sozialen Ängstlichkeit (Schüchternheit) an. Während in der westlichen Kultur (übertriebene) Schüchternheit als Problemverhalten angesehen wird, das mit geringer Selbstbehauptung und einem geringen Selbstbild in Verbindung gebracht wird und etwa für ein Vorschulkind nicht selten zu Zurückweisung durch Gleichaltrige führt, erfährt dasselbe emotionale Verhalten unter einer kulturvergleichenden Perspektive ein völlig anderes Erklärungsmuster. So entwickeln schüchterne Kinder in China ein positives Selbstbild und bewerten auch ihre Beziehungen zu anderen positiv. Hier erfährt ein schüchternes Kind Ermutigung in seinem Verhalten, weil dieses prosoziale Verhalten als Zeichen der Leistungsorientierung gilt und die Anerkennung der peers bewirkt.

Holodynski (2006, 34) bezeichnet den kulturellen Kontext als distale Bedingung, die Vielfalt und Variabilität der emotionalen Expressivität ermöglicht. Insofern ist die soziokulturelle Perspektive der Emotionsthematik geeignet für Fragestellungen, die der besonderen Symbolkraft von Körperlichkeit und Emotionalität (Psychomotorik) für die kindliche Entwicklung nachspüren.

2.2.4 Das dynamisch-systemische Emotionsparadigma

In seiner Überarbeitung von 2006 hat Holodynski seinem Emotionsmodell eine weitere Perspektive hinzugefügt, die sich aus der disziplinübergreifenden Betrachtungsweise ergibt. Auch Emotionen lassen sich als dynamisches System betrachten, das aus der Wechselwirkung einer Komponentenvielfalt besteht und im Laufe seiner Entwicklung seine Ordnungsstrukturen hervorbringt (Lewis/Granic 2000, zit. nach Holodynski 2006, 27). In diesem Paradigma geht es eigentlich nicht um neue Grundlagenerkenntnisse. Das Modell berücksichtigt die bekannten Systemkomponenten:

■ Motivrelevante Interpretationen emotionaler Zustände und Betrachtung der zugehörigen Handlungssysteme;

■ Veränderungsperspektive emotionaler Erfahrungen über die Zeit in Abhängigkeit spezifischer sozialer Kontexte;

■ Die Systemwirkung aller Komponenten als evolvierendes System (vgl. Holodynski 2006, 27–29).

Das Neue ist die Anwendung der Systemperspektive auf das Emotionsparadigma. Die Praxisforschung beschäftigt sich dann eher mit den Entwicklungsprozessen der Emotionen und der Überprüfung der Kontrollparameter. Wie und unter welchen Bedingungen wird aus Freude am Effekt einer Handlung Stolz über diesen Erfolg? Oder, wie wird aus Enttäuschung über einen misslungenen Effekt Beschämung über einen Misserfolg (Holodynski 2006, 32)?

Der Mensch und die Systemkomponenten der Entwicklung über handlungsbezogene Regulationsprozesse treten neuerlich in den Fokus der Betrachtung. Hier liegen die relevanten Parallelen zur Selbstwirksamkeitsdebatte in der Psychomotorik.

Die jüngste Übersicht (Holodynski 2014, 447ff.) fasst die beiden letzten Ansätze wieder zu einem „soziokulturellen Paradigma“ zusammen, in dem Emotion als sozial konstruierte psychische Funktion gesehen wird. Der besondere Blick geht auf den durch Lernen vermittelten „Erfahrungsschatz“, den Holodynski als „gelebte emotionale Praxis des Menschen“ identifiziert und der durch soziale Interaktion seine soziokulturelle Ausprägung erfährt.

2.3 Selbstkonzept und Körpererfahrung

Das Selbst

Das Selbst ist ein Konstrukt; es ist quasi als Sammelbegriff für verschiedene Positionen und Fragestellungen zu verstehen. In einer Retrospektive verortet die Begründerin der deutschen Selbstkonzeptforschung, Sigrun-Heide Filipp, das Selbst im Spannungsfeld verschiedener Kraftlinien:

„Das Selbst steht im Spannungsfeld zwischen personaler Kontinuität und situationsbezogener Adaptivität; aber auch im Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis nach Einzigartigkeit und sozialer Verortung, im Spannungsfeld zwischen Normativem („Idealselbst") und Faktischem („Realselbst"), im Spannungsfeld zwischen Wissen und Wollen, zwischen Denken und Fühlen – das Selbst im Schnittpunkt nahezu aller teildisziplinären Perspektiven unseres Faches" (der Psychologie, K. F.) (Filipp 2000, 9–10).

Das Selbst ist auch ein Schlüsselbegriff der Psychomotorik (Fischer 1996c; Zimmer 2012, 50ff.; 2002; Reichenbach 2006a; Valkanover 2015; Keßel et al. 2016), vor allem deshalb, weil das Körperkonzept ein wichtiges Teilkonzept des Selbstkonzeptes darstellt. Die nachfolgenden Ausführungen sollen Grundpositionen ansprechen und die für die Psychomotorik bedeutsamen Akzentsetzungen des Konstruktes zusammenfassen.

Erst ab Mitte der 1960er-Jahre wird das Selbstkonzept intensiver wissenschaftlich erforscht. Bis dahin ist zwar die Trennung zwischen dem Selbst als erkennendem Subjekt („I“ = ich) und dem Selbst als Objekt der Erkenntnis („me“ = mich) durch die Arbeiten von James (1890) bekannt, es wird jedoch fast ausschließlich das Selbst als erkennendes Subjekt untersucht. Die moderne Selbstkonzept-Forschung basiert auf der Grundannahme, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, sich selbst zu beobachten und wahrzunehmen und zwischen seinen Beobachtungen und Wahrnehmungen und seiner Person eine angemessene Verbindung herzustellen (Filipp 1984). Die Struktur des Selbstkonzeptes wird nach vorrangiger Fachmeinung durch ein System von Teilkonzepten des Selbst repräsentiert, das einer hierarchischen Organisation unterliegt. Dazu sollen zwei Konzepte exemplarisch vorgestellt werden.

2.3.1 Das Selbstkonzept nach Epstein

Die integrative Persönlichkeitstheorie

Im Rahmen der Integrativen Persönlichkeitstheorie Epsteins (1984) wird das Selbstkonzept als eine Theorie über das eigene Selbst verstanden. Diese Selbsttheorie muss von jeder Person für eine erfolgreiche Lebensbewältigung entwickelt werden. Die integrative Persönlichkeitstheorie basiert auf der grundlegenden Annahme, dass jeder Mensch seine Erfahrungen und Erlebnisse speichert, mit Deutungen wie Schmerz oder Freude verbindet und durch Verknüpfungen dieser Informationen ein differenziertes, integriertes und konzeptuelles System aufbaut, aus dem die Selbsttheorie hervorgeht. Er entwickelt Hypothesen über sich selbst und sein Leben, die an den neuen Erfahrungen gemessen und ggf. modifiziert werden. So entwickelt der Mensch eine eigene Theorie über die Wirklichkeit, die die Welt und das Leben für ihn übersichtlich machen und sinnvoll erscheinen lassen. Da der Mensch ein ständiges Bestreben nach positiven Erfahrungen hat, steht er vor der lebenslangen Aufgabe, ein konzeptuelles System zu konstruieren, das eine optimale Lust-Unlust-Balance gewährleistet. Dieses wird entscheidend durch die Zuschreibungen der Umwelt beeinflusst:

„Die Theorie eines Individuums von der Wirklichkeit umfaßt Subtheorien über die eigene Person (eine Selbsttheorie), über die Außenwelt (eine Umwelttheorie) und über die Wechselwirkung zwischen beiden Subtheorien. Wie das Individuum sich selbst sieht, ist natürlich nicht unabhängig von der Wahrnehmung seiner Umwelt. Wie es seine Umwelt konzeptualisiert, ist in hohem Maße eine Reflexion seiner Selbstkognitionen und umgekehrt" (Epstein 1984, 16).