Streben nach der Erkenntnis

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Von diesem Stil, von dieser Kultur der Firma Knorr bin ich ganz einfach beeindruckt. Man muss sich das einmal überlegen. Es waren fast sechs Jahre Krieg. Da erinnert sich diese Firma noch ihrer Mitarbeiter, einverstanden, mein Vater war mit ihnen in Kontakt getreten – trotzdem! Wenn ich da an die heutige Zeit denke, an den politischen Konkurrenzkampf, an das Wort Ego, welches bei 99 Prozent der Geschäftsführer auf der Stirn geschrieben steht. Zur jetzigen Zeit hätte, schlitzohrig, wie die meisten sind, teilweise korrupt, nur an sich denkend, kein Firmenchef sich der Mitarbeiter nach dem Zusammenbruch infolge eines teuflischen Krieges mit immenser Zerstörung der Moral, der menschlichen Seele und des Landes erinnert, um sie zu trösten, wieder aufzubauen und ihnen gar eine Abfindung zu geben. Ich verneige mich tiiiiief vor einer solchen Haltung!

Mein Vater hatte eine Einstellung in den Bleierzgruben Albert Funk Freiberg gefunden und die Abteilung Einkauf übernommen. Allerdings war nun für ihn folgendes Problem zu lösen: Wie komme ich möglichst schnell und ohne Umsteigen und Wartezeiten dorthin? Er kaufte sich ein kleines Motorrad mit 125 Kubikzentimeter Hubraum – eine ILO. Diese kleine Knatterkiste hatte hinter dem Fahrersitz nur einen kleinen Metallgepäckträger. Vater hatte sicherlich nicht die große Erfahrung mit Kraftfahrzeugen, auch wenn er dies immer wieder betonte. So erzählte er uns, dass er während des Krieges einen hochrangigen Nazioffizier mit einem PKW chauffieren musste. Als er ihn einmal zu einer Beratung an einem kleinen Wäldchen gefahren hatte, passierte ihm ein ziemliches Missgeschick. Der Offizier ging zu seiner Beratung. In der Zwischenzeit spürte Vater Blasendruck und stellte sich dazu an einen Baum. Plötzlich kam sein Kommandeur zurück mit dem schnoddrigen Befehl: „Eulenberger, fahren Sie retour!“ Vater suchte krampfhaft den Zündschlüssel, fand ihn weder in Hose noch Jacke. Der Offizier schnarrte: „Na, was ist denn los, Eulenberger? Aber nun, hopp!“ Vater wurde immer nervöser und erinnerte sich daran, dass er an dem Baum viel Flüssigkeit verloren hatte. Vielleicht ist da der Schlüssel herausgerutscht, dachte er sich, wahnsinnig nervös und inzwischen mit zittrigen Händen. Er kniete sich hin (während der Rückfahrt stellte er fest, dass seine Hosen an den Knien arg durchgeweicht waren) und suchte krampfhaft auf dem durch die gelbe Flüssigkeit durchweichtem Boden nach dem Schlüssel, was ihm dann auch mit mehreren Verletzung durch Tannennadeln, die ihm in die Fingerkuppen und Fingerballen eingedrungen waren, gelang. Dass sein General zwischendurch weiter knarrende Befehle gab, musste er ganz einfach verkraften. Endlich saß er wieder im Auto und wurde mit der folgenden, unwilligen Anbrüllrede konfrontiert: „Das passiert mir nicht noch einmal! In Zukunft muss das schneller gehen! Sie sind ja so langsam wie eine Schnecke – da ist ja längst der Feind da! Was riecht hier denn so komisch, fast so süßlich wie Pisse? Ist ja auch egal, ich zünde mir halt eine Zigarette an!“

Mit seiner ILO kam Vater scheinbar recht gut zurecht, allerdings schrammte er einmal – Gott sei Dank! – knapp an seinem Ende vorbei. Er kam zügig, vom Unterdorf her, angefahren, vorbei am Dorfteich links und dann rechts an der Gaststätte Leistner. Nun brauchte er nur noch den schmalen Weg mit steilem Anstieg zu unserem neuen Haus hochfahren. Schlagartig kam ein Traktor mit Hänger vom Sportplatz heruntergefahren und querte seinen Weg. Vater wollte das Gas wegnehmen aber – um Himmels willen, um Himmels willen! – er gab Gas und seine ohnehin schon schnelle ILO jagte auf den Traktor zu. Gedankenschnell fuhr er mit Schenkeldruck nach links, dann nach rechts, am Traktor vorbei, und raste den Anstieg hoch. Oben bremste er stark und stand. Sicher war er sich der Gefahr bewusst, denn er pumpte aufgeregt Luft und es dauerte ein Weilchen, bis er ruhiger wurde. Dann aber, typisch Vater, kam sein ständiger Optimismus und seine Lebensfreude sofort schlagartig wieder in ihm hoch, er lachte schallend, stieg ab und ging zügig zu dem Traktorfahrer hinunter, welcher ihn mit ernstem Gesicht erwartete. „Herbert – das war fast dein Exitus! Wie konntest du nur? Hast du mich zu spät gesehen? Für mich hast du ja noch einmal enorm Gas gegeben, als du mein Fahrzeug sahst, wiiiie das?“ Er war aschfahl im Gesicht, seine Hand zitterte, als er sie meinem Vater gab. Mit strahlendem Gesicht gab Vater ihm zur Kenntnis, dabei feixte er noch laut: „Weißt du, Arthur, das ist mein neuer Fahrstil! Sprunghaft und zügig an Gegnern vorbei und hoch zu der 78 (das war unsere Hausnummer). Du siehst doch, wie souverän mir das gelungen ist.“ Dann unterhielten sich beide in Ruhe und Vater erzählte: „Kannst du dir vorstellen, dass ich den Gänsehals aufdrehte, anstatt ihn zuzudrehen.“ Mein Vater war immer lustig, fast immer, sprach gern von Gänsehals und auf- und zudrehen, anstatt vom Gasdrehgriff zu sprechen. „Ich wollte also den Gänsehals von mir wegdrehen, also nach vorn drehen, d. h. Gas wegnehmen, und nicht zu mir drehen und damit Gas geben, Arthur. Glaub mir, auch ich war zu Tode erschrocken.“ Arthur gab ihm noch ein paar Ratschläge, in Zukunft etwas bedächtiger unterwegs zu sein. Vater versprach es.

Nun wohnten wir also nicht mehr auf dem Bauerngut, sondern in einem nicht sehr großen Mietshaus. Wir hatten eine Wohnung im Erdgeschoss, was meinen Eltern überhaupt nicht behagte. Auf meine Frage gaben sie an, lieber im, ihrer Meinung nach, vornehmen ersten Stock, logieren zu wollen. Prompt ergab sich auch später – als wir nach Freiberg zogen: In der ersten und zweiten Wohnung wohnten wir auch dort – natürlich! Ich meine – im Erdgeschoss. Vom Hausflur aus trat man rechts in unsere Küche, von der ging es weiter in die Stube und von da in die Schlafstube. Bad war nicht vorhanden, die Toilette (Plumpsklo) war draußen vom Flur aus zugänglich. Der Hausbesitzer und unser Vermieter, Herr Schnatterer, war ein älterer Mann, den ich nie einmal lachen sah. Er trug eine starke Brille und hinter der blickte er immer sehr bösartig in die Welt, flößte mir große Angst ein. Nie sagte er ein freundliches Wort zu mir und ich war immer froh, wenn ich ihn überhaupt nicht zu Gesicht bekam. Sein Charakter zeigte sich, wenn auf dem Huckelfußballfeld nebenan ein Spiel lief. Wie gesagt, dieses Spielfeld lag gleich neben einem kleinen Garten hinter unserem Haus und streckte sich von da ab längs hin, d. h., gleich hinter unserem Garten war eines der beiden Fußballtore – und dies war ein Drama und eine Tragödie, vor allem natürlich für Herrn Schnatterer. Natürlich wurde viel auf dieses Tor geschossen, wie das halt so in dieser Sportart üblich ist. Zum Schutz von Haus und Garten war ein riesiges Stahlnetz hinter dem Fußballtor aufgebaut, welches aber genauso viele freie Stellen wie intaktes Stahlnetz besaß. Infolgedessen landete der Ball häufig im Garten, mitunter knallte er auch an die Hausfassade. Lautes Schimpfen und Fluchen, danach polterndes, eiliges Hinabrennen auf der Holztreppe vom ersten Stock in das Parterre – Schnatterer rückte wutschnaubend an. Er rannte in den Garten und mit wilden Flüchen gegen die Sportler nahm er den Ball auf und verschwand im Schuppen. Meist kamen danach ein, zwei Spieler, um den Ball wieder einzufordern. Ohne ein Riesengeschrei ging dies nicht ab und meist zogen sie auch wieder ohne Ball ab. Was das in dieser Zeit nach dem Krieg, wo es kaum etwas gab, bedeutete, ist sicher klar. Auf alle Fälle war diese Streiterei recht unangenehm für uns und meist ging ich raus (manchmal ging auch Vater mit) auf den Fußballplatz, um dem Geschehen beizuwohnen. So war ich nur von dort aus Zeuge von Schnatterers Entrüstungsanfällen und seiner Kleptomanie. Das Schlimmste, was einmal passierte, war, dass ein Ball, der in den Himmel ging, an ein Fenster im ersten Stock flog – Glas splitterte. Ich war dieses Mal nicht auf dem Fußballfeld und stürmte hinaus, um meine Neugier zu befriedigen. Herr Schnatterer holte den Ball, rannte in den Schuppen, nahm ein riesenlanges, spitzes Messer und stach damit einfach hinein. Dort, wo er hineinstechen wollte, war aber das Leder noch einigermaßen dick und intakt. Die Schneide rutschte ab und stach in seinen Zeigefinger – das Blut tropfte beträchtlich. Plötzlich kamen drei Spieler und sahen das Dilemma. „Herr Schnatterer, sind Sie verrückt? Das ist unser letzter Ball. Sie haben kein Recht dazu!“ Schnatterer kam, durch seine Verletzung wahrscheinlich noch mehr, in Rage und brüllte wie ein Vieh: „Und ob ich das kann! Dies ist mein Privatgrundstück und ihr habt kein Recht, mein Fenster zu zerstören. Ich werde euch verklagen und jetzt verschwindet von meinem Grundstück!“ In erneuter Entrüstung nahm er wiederum das Messer und stach an einer anderen Stelle hinein. Diesmal glückte sein Vorhaben. Zischend ging die Luft heraus. Die Spieler schauten empört und rachsüchtig. „Das werden Sie bereuen! Da brauchen wir auch nicht ihr Fenster reparieren lassen, wenn sie unser Eigentum kaputt machen.“ Kopfschüttelnd und schimpfend gingen die drei wieder auf den Fußballplatz.

Es war aber keinesfalls so, dass es keine Steigerung mehr gab. Sonntag zehn Uhr – wunderschönes Wetter, mild und Sonnenschein. Angesetzt war das Spiel Rotation Freiberg gegen FSV Hainichen. Mein Freund Günther und ich sind pünktlich zur Stelle und setzen uns bequem auf die oberste Wölbung der Böschung. Alles läuft gut für die Heimmannschaft. Der Rechtsaußen will wahrscheinlich eine Flanke hereingeben, es wird aber mehr ein Torschuss, welcher über den Torwart hinweg ins Dreiangel geht und sich am Ende stark senkt. Wir sind begeistert und pfeifen um die Wette. Günther hat es drauf, mit einem gekrümmten Zeigefinger zu pfeifen. Ich benötige dafür vier Finger, habe aber vielmehr Dampf bei meiner Pfeiferei, d. h. es ist schriller und deftiger, was ich zustande bringe. Unsere Abwehr lässt von der Mitte des Feldes einen Befreiungsschlag los, welcher weit über das Tor geht und prompt eine Kluft im Stahlnetz findet. Sofort tritt der Hausbesitzer auf den Plan, hält beide Handinnenflächen an den Mund, um seiner donnernden Schimpfkanonade mehr Nachdruck zu verleihen. „Ihr Verbrecher – das ist das allerletzte Mal, dass ich das zulasse. Morgen gehe ich zum Regierungspräsidium, damit eure Spiele ab sofort verboten werden!“ Er nahm den Ball und verschwand wiederum laut schimpfend im Schuppen. Gott sei Dank war noch ein Ball da und somit ging das Spiel weiter. Inzwischen war Halbzeit und diese Pause nutzte der Trainer von Rotation Freiberg, um die Gegner von Hainichen zu bitten, sich etwas in der Höhe zurückzunehmen, wenn sie in der zweiten Halbzeit auf das Tor, hinter dem sich Schnatterers Grundstück befindet, schießen. Es wurde auch erläutert, weshalb – die anderen hatten das Problem schon längst erkannt. Es lief auch alles einigermaßen gut bis zehn Minuten vor Schluss. Es war wieder mal einer von den Wilden, die nie so recht hören können. Auf jeden Fall knallte der Ball in großer Höhe durch das Netz und an das Haus von Schnatterer (Glas splitterte allerdings nicht). Es passierte sinngemäß das Gleiche wie vorhin, nur dass er diesmal nicht wie ein Sprachrohr agierte. Er meckerte stark, nahm den Ball und verschwand im Schuppen. Nun war aber ein großes Problem gegeben, denn es war schlicht und einfach kein Ball mehr vorhanden. Alle schauten sich ratlos und entrüstet an. Der Trainer reagierte als Erster. „So geht das einfach hier nicht weiter! Jedes Mal haben wir das gleiche Problem und wir haben in dieser Zeit, wo es nichts gibt, einfach keine Fußbälle mehr. Hier muss das Bezirksamt eine Regelung treffen und jetzt gehen wir alle geschlossen zu diesem bösartigen Sportgegner. Ich muss aber bitten, nicht handgreiflich zu werden, denn das verschlechtert nur unsere Lage.“ Nach fünf Minuten kamen die abgekämpften Spieler mit Trainer bei Herrn Schnatterer an. Günther und ich, die neugierig hinterherliefen, haben heute noch das Geräusch, was die Fußballstollen auf dem erdigen Weg verursachten, im Gedächtnis. Es klang fast so, als wenn eine Kompanie Soldaten marschiert. Die Gespräche während des Soldatenmarsches verliefen folgendermaßen: „Der hat uns jetzt sofort die Bälle herauszugeben, sonst kriegt der eins in die Fresse. Wir wollen doch keinen Spielabbruch, noch dazu, wo wir 1 : 0 führen. Der muss einmal Angst vor uns bekommen und so sollten wir auch auftreten.“ Der Trainer klingelte – es dauerte vielleicht geschlagene fünf Minuten, bis Schnatterer sich endlich bequemte. Inzwischen kam auch der Schiedsrichter den Berg hochgelaufen und rief schon von Ferne: „Was wird denn nun? Das Spiel muss weitergehen! Das ist ja ein Skandal!“ Als Schnatterer herauskam, ging sofort der Schorsch Mächtig (so war der auch in der Realität, ein Meter und neunzig groß und wahnsinnig kräftig) auf ihn zu, stellte sich provozierend vor ihn und sagte: „Geben Sie uns sofort die Bälle heraus – ich will sehen, wo sie liegen. Die sind unser Eigentum. Und wenn Sie das nicht tun, zwinge ich Sie dazu und werde Sie altes, kleines Männlein vor mir her treiben!“ Der Trainer kam sofort angeflitzt, stellte sich zwischen Mächtig und Schnatterer. „So auf keinen Fall. Wir wollen vernünftig mit Ihnen reden, Herr Schnatterer. Ich rate Ihnen aber auch, uns sofort dorthin zu führen, wo die Bälle liegen. Handeln Sie bitte auf der Stelle!“ Das Letzte hatte der Trainer so markant und mit Nachdruck gesagt, dass Schnatterer unsicher wurde. „Kommen Sie!“ Er führte alle weiter nach hinten, machte die Schuppentür auf und da sahen alle das Ärgernis. An der Seite hing ein riesengroßes Netz mit vielleicht zwanzig Bällen darin. Die Spieler, der Trainer und der Schiedsrichter sperrten Mund und Nasen auf, als sie das sahen. Nachdem das Erstaunen gewichen war, brachen in den Sportlern alle Zurückhaltungsdämme. Alle schrien: „So ein Schuft – der Verbrecher hindert uns am Ausüben unseres geliebten Fußballspiels. Der muss sofort alle Bälle hergeben und sich entschuldigen.“ Einer, es war nicht der Mächtig, stürzte auf Schnatterer zu, fasste ihn derb am Oberarm, zerrte mit einer Wahnsinnskraft daran und forderte: „Her mit den Bällen, sonst wirst du jetzt schon und sofort erledigt, du alter verhärteter Knochen!“ Herr Schnatterer fiel hin und schaute – für mich war es das erste Mal – verängstigt in die Welt. Der Trainer und der Schiedsrichter kamen an, halfen Herrn Schnatterer hoch. „Herr Schnatterer, das wollen wir nicht! Entschuldigung! Wir sollten uns jetzt hier und sofort, damit so etwas nie wieder vorkommt, vernünftig wie Erwachsene unterhalten und eine Regelung treffen, damit für immer Ruhe wird!“ Der Trainer rannte noch schnell zu dem Oberarmzieher hin und stellte sich zackig vor ihm auf. „Ralf, noch einmal so eine verbotene Aktion und ich stelle dich nie wieder auf! Überlege es dir!“

 

„Herr Schnatterer, der Sportverein repariert das Fensterglas, Sie geben uns jetzt alle Bälle zurück und wir werden uns in Zukunft bemühen, nicht mehr durch das Schutznetz zu schießen! Einverstanden?“ Schnatterer schaute, für seine Verhältnisse, relativ ruhig. „Ich bin einverstanden, viele denken – und so wird ja fast schon im gesamten Dorf über mich geredet –, dass ich ein Stänkerer und Streitkopf wäre. Dem ist aber nicht so. Ich will auch einmal meine innere Ruhe haben. Mir ist nach alldem Hin und Her und dem Geschreie immer ganz schlecht. Allerdings muss ich verlangen, dass nicht mehr durch das Schutznetz geschossen wird!“ Jetzt schaltete sich allein der Schiedsrichter ein. „Ich schlage vor, dass das Netz unter Zuhilfenahme der Fußballspieler durch eine Firma dicht gemacht wird, so dass das Durchschießen in Zukunft ausgeschlossen wird.“ Jetzt schaute selbst Herr Schnatterer ziemlich ruhig und offensichtlich zufrieden. Mir schien es, als wenn er sogar ein ganz klein wenig lächelte. „Hier meine Hand darauf – so kann endlich Eintracht werden!“

Für mich war das Leben in der neuen Wohnung natürlich eine riesige Veränderung. Mir fehlten Lothar, Helga und meine Kumpels vom Unterdorf. Mutti ging immer früh 7 : 00 Uhr ins Gemeindeamt und kam, wenn sie nicht wieder einmal Überstunden machte, gegen 17 : 00 Uhr zurück. Vater fuhr noch früher als sie mit seiner ILO los. Urplötzlich war ich allein gelassen, bekam einen Haustür- und Wohnungsschlüssel. Das war’s dann! Ich hatte ja aber genug mit der Schule zu tun, die mich mehr, als mir lieb war, mit Unterricht und Hausaufgaben zudeckte. Der Unterricht begann im Allgemeinen 7 : 30 Uhr und endete gegen Mittag. Mit meinen Kumpels, vor allem mit meinem neuen Freund Klose, Günther gingen wir dann nach der Büffelei nach Hause. „Ich stelle nur meinen Ranzen zu Hause ab, esse etwas – mal sehen, was mir Mutti hingestellt hat – in zirka einer halben Stunde, Günther, bin ich wieder draußen und wir können etwas unternehmen!“ Günther schaute mich etwas missbilligend und leicht überheblich an. „Zunächst mache ich Hausaufgaben und erst danach gehe ich raus! Hast du nicht mitbekommen, dass wir in Deutsch den einen Textteil von Heinrich Manns Buch abschreiben und kommentieren sollen und in Mathe haben wir auch drei Aufgaben.“

„Das können wir doch später machen, Günther! Hab dich mal nicht so! Die Lehrer haben doch auch gesagt, dass wir einmal ausspannen sollen.“

„Meine Mutti hat das so festgelegt und so mache ich das auch! Kannst doch in der Zwischenzeit mal mit dem Escher, Elmar raufen, der dich immer so mit Wenn die Eule mit der Keule übern Hackstock springt und die Wurst verschlingt … in Rage bringt. Schließlich wohnt er jetzt nur dreihundert Meter von deiner neuen Wohnung entfernt – im Gegensatz zu früher.“ Mein folgender herrlicher Singsang Muttersöhnchen, Muttersöhnchen – du bist ein supergroßes Muttersöhnchen! brachte den Günther vollkommen außer Fassung, wozu übrigens nicht viel gehörte. Sein Gesicht verzog sich merklich – er war beleidigt, verletzt – und das in hohem Maße. Mehrfach passierte es dann, dass er handgreiflich wurde. Meist riss er an meinem Ranzen herum und das war deshalb so grauenhaft und ärgerlich, weil ich durch die Hebelwirkung vollkommen aus dem Gleichgewicht kam. Leider war der Günther wesentlich kräftiger als ich, aber ich wehrte mich tapfer und wenn die Sache kulminierte und ich in Wut kam, zog er meist den Kürzeren. Groll brach manchmal so plötzlich über mich herein, dass ich mich hinterher selbst wunderte und erstaunt war, wieso dieser so schlagartig in mich hineinschoss. Mit diesem urplötzlichen Zornesausbruch wuchs aber in mir eine bernalische Kraft. Ich kann mich noch gut erinnern, welch enorme Energie durch diesen Jähzorn in mir entstand, als es ihm gelungen war, mich auf den Rücken zu legen und er mit seinen überlangen Haaren in meinem Gesicht herumwedelte, indem er sein Gesicht möglichst nahe zu meinem absenkte und den Kopf bewusst hin und her schüttelte. Es gelang mir, ihn hochzustemmen, zur Seite zu drücken und als wir beide wieder auf den Beinen standen, ein Bein zu stellen, ihn gewaltig zu schubsen und als er auf den Rücken fiel, knallte ich mich drauf. Er behauptete, ich hätte ihm ein paar Rippen gebrochen, zumindest geprellt, und außerdem meinen Ellbogen in sein rechtes Auge gestoßen. Zu Tode beleidigt ging er sofort nach Hause und sprach mehrere Tage nicht mit mir. So war er halt – wollte immer der Klügste, Kräftigste, Intelligenteste und Hübscheste von allen sein. Allerdings muss ich der Wahrheit die Ehre geben – am nächsten Tag war der Bereich um sein rechtes Auge doch ein klein wenig geschädigt. Erst war der Fleck rot, dann wurde er blau, dann gelb und dann verschwand er. Günther wohnte vielleicht fünfhundert Meter von mir entfernt neben dem Feuerwehrgebäude und in der Nähe des Gemeindeamtes. Sein Vater war Baumeister, hatte dieses Einfamilienhaus gebaut. Seine Mutter ging nicht auf Arbeit, war nur zuhause und daraus resultierte die Möglichkeit, Günther zu verwöhnen. Meine Mutti war sicherlich genauso lieb wie Frau Klose, nur hatte sie nicht die Gelegenheit so wie sie, sich um mich zu kümmern. Wenn Günther, nachdem er an dem ihm zugewiesenen und extra für ihn gestalteten Arbeitsplatz an einem kleinen Pult seine Hausaufgaben erledigt hatte, sagte er seiner Mama Bescheid. „Fein, Günther! Wir trinken jetzt noch heiße Schokolade und dann kannst du spielen gehen!“ Wenn Günther dann erschien, sah er wiederum wie aus dem Ei gepellt aus. Er hatte offene Sandalen an, weiße lange Kniestrümpfe, eine kurze, braune Hose und ein schönes Nicki. Gegenüber seinem Schulgang war das Ganze jetzt schon etwas abgemildert, denn früh sah er noch schnuckeliger aus. Die Haare waren fein gescheitelt und mit irgendeiner Klebemasse in ihrer Lage ziemlich haltbar gemacht, so dass er selbst nach einer Schularbeit, wo man sich vor Verzweiflung am Kopf kratzt, noch genauso aussah wie früh, als er tadellos gepflegt ankam. Wenn ich ehrlich sein soll – das Ganze regte mich ziemlich auf. So picobello wie er hergerichtet war, benahm er sich auch – immer etwas besonders fein, arrogant und überheblich. „Was wollt ihr denn von mir, ihr kleinen Scheißer auf diesem Dorf? Ich werde euch noch zeigen, wer ich bin und vor allem, wie viel ich drauf habe, ihr kleinen Dilettanten!“ Günther war vielleicht eine Stirnbreite größer als ich, dafür etwas breiter und kräftiger. Er trug lange blondbraune Haare. Im Gesicht hatte er ziemlich viele Sommersprossen, welche besonders dicht um seine etwas zu groß geratene Nase, besonders an den Nasenwurzeln, auftraten. Mich störte auch, dass die Backenknochen etwas zu weit vorstanden. Das ging aber vielleicht noch, allerdings war seine Mundpartie eine echte Scheiße. Meine Mutter unterschied immer zwei Kategorien an Mundausführungen. Bei der einen sagte sie verächtlich: „Die oder der hat eine Überknöpflippe!“, bei anderen: „Die oder der hat eine Unterknöpflippe!“ Günther hatte auf alle Fälle eine Überknöpflippe, d. h. seine Oberlippe ragte beträchtlich über die untere hinaus. Man hatte den Eindruck, dass die Kinnlade ein klein wenig weiter nach vorne hätte geschoben werden müssen. Dem war aber eben nicht so und da sah es eben ziemlich dämlich aus, fand ich. Günther hatte ziemlich große und lange Schneidezähne, welche aber nicht, wie üblich, senkrecht nach unten gewachsen waren – nein, diese Hauer ragten etwas schräg nach vorn. Es ist deutlich erkennbar, dass ich den Günther, von Anfang an, nicht so recht leiden konnte. Schließlich war er aber der Einzige, der bei mir in der Nähe wohnte. In der Schule war ein ziemlicher Konkurrenzkampf um gute Zensuren zwischen uns, was ihn aber offensichtlich mehr belastete als mich.

Mir fällt jetzt schlagartig ein wunderschöner Witz ein, den mir mein großer Sohn Sven erzählte. Er betrifft die zwei Mundpartiekonstruktionen, welche meine Mutter offensichtlich immer sehr berührten. Mit Sicherheit ist es allerdings mehr ein Witz zum Zuhören und vor allem Zuschauen – ach was! Ich versuche es trotzdem einfach einmal! In einer Kneipe sitzen zwei junge Männer bei zwei Dingen – beim Rotwein und beim Kerzenschein. Der eine der beiden hat eine Oberknöpflippe, der andere das Gegenteil davon. Nachdem sie lange getrunken und erzählt hatten, sagte der mit der Oberknöpflippe zu dem anderen mit der Unterknöpflippe: „Lass uns nun den schönen Abend beenden. Wir sollten jetzt gehen. Blase doch bitte mal die Kerze aus!“ Der mit der Unterknöpflippe bläst auf die Kerzenflamme, aber leider geht sein warmer Luftstrahl nur vom Unterkiefer knapp am Oberkiefer vorbei senkrecht nach oben. Enttäuscht sagt er „Blase du doch einmal, bitte!“ Der mit der Oberknöpflippe bläst, aber leider geht der warme Luftstrahl nur von der Oberlippe am Unterkiefer vorbei senkrecht nach unten. Beide sind ziemlich enttäuscht, rufen den Kellner. „Herr Ober, bitte blasen Sie mal die Kerze aus!“

 

„Selbstverständlich, meine Herren!“ Der Ober bläst mit beiden Lippen, welche, schön anzuschauen, fein übereinander angeordnet sind. Dazu öffnet er leicht den Mund und der warme Luftstrahl, welcher waagerecht seine Lippen verlässt, bläst sofort das Kerzenlicht aus. Der mit der Oberknöpflippe und jener mit der Unterknöpflippe reagieren mit enormer Empörung. „Hast du diese blööööööde Gusche gesehen?“

Als Schlüsselkind, das ich war, ging ich mittags nach Hause, trat durch die Haustür in den Flur, schloss die Tür zur Küche auf und war daheim. Rasch legte ich meinen Ranzen auf das Sofa, schlüpfte in die Hauspantinen, wusch mir befehlsgemäß (laut Papa) die Hände und lief zu meinem Versorgungszentrum. Mutti hatte immer in der Sofaecke einen Topf drapiert, welcher in eine Decke eingewickelt und zur besseren Wärmehaltung in eine Menge von Sofakissen eingepackt war. Mitunter war Eintopf darin enthalten. Es kam aber auch vor, dass ich mehrere Töpfe auspacken musste und zwar dann, wenn es Kartoffeln mit Fleisch in der entsprechenden Sauce und irgendein Gemüse, zum Beispiel Spinat, zusätzlich gab. Nach dem Essen musste ich nicht aufwaschen – diese Order hatte ich nicht. Also spülte ich leidlich ab und ließ dann überall Wasser hinein, denn ich hatte mitbekommen, dass ein „Anbacken“ der Lebensmittel an den Topf sehr nachteilig war. Danach war ich dann frei für den Ausgang. Häufig kam es vor, dass Mutti im Gemeindeamt länger, d. h. sehr lange arbeiten musste. Dazu kam sie meist kurz nach Hause, um dann nach einer halben Stunde wieder zu verschwinden. Es war ein herrlicher Sommertag gewesen, sehr freundliches, laues Wetter. Mutti brachte mich 21 : 00 Uhr ins Bett. „Schlaf schön, mein guter Klausmann, ich muss noch zwei bis drei Stunden arbeiten.“

„Immer musst du länger arbeiten. Was macht ihr denn da so?“

„Wir müssen alle Viehbestände und später sämtliche Feldbelegungen pro Bauernwirtschaft zusammenstellen und alles dem Kreisamt übermitteln. Wir stellen also zusammen, wie viel Hühner, Hähne, Schafe, Schweine, Rinder, Pferde uns so weiter und so fort der entsprechende Bauer sein eigen nennt. Jetzt muss ich aber gehen. Schlaf schön, Klaus! Bis morgen früh! Die Fenster lasse ich angekippt, damit du frische Luft hast, bei dieser Wärme.“ Als braver Junge schlief ich natürlich rasch ein. Auf einmal hörte ich Stimmen, Schreien, Lachen, irgendein Gepolter und Gekreische, wurde munter. Ich ging in alle Zimmer. Niemand da! Draußen ging der Lärm weiter. Dieses Mal hörte ich bedrohlich tiefe Männerstimmen. Vor diesem lauten, krächzenden, teilweise bassartigem Geschrei hatte ich schon immer Respekt und Angst – genau diese beschlich mich jetzt. Ich wurde fahrig, nervös, hatte Manschetten. In äußerster Hast zog ich mir meine Turnschuhe an, öffnete das Erdgeschossfenster und mit dem linken Fuß von einer Fußbank abgestoßen, kam ich flott auf die Sohlbank und sprang hinaus. Haste was kannste rannte ich mit schnellen Schritten und keuchendem Atem zum Gemeindeamt, stellte mich auf die Sohlbank des Kellerfensters und konnte geradeso das Parterrefenster erreichen, damit ich an das Glas klopfen konnte. Das Fenster öffnete sich und heraus schaute – nicht meine Mutti oder die gutmütige Lisbeth, sondern der Bürgermeister. Ich erschrak und antwortete auf seine Frage „Zu wem willst du denn, kleiner Junge?“ mit zittriger Stimme: „Zu meiner Mutti – die muss doch hier drin sein.“ Der Bürgermeisterkopf verschwand und rasch erschien das aufgeregte und ängstliche Gesicht meiner Mama. „Oh Gott, Klausmann, ist was passiert?“

„Nein, ich habe aber Angst. Bei uns waren so böse, schreiende Männerstimmen.“ Mutti schloss das Fenster und kam durch den Haupteingang heraus. „Du musst keine Angst haben, Klausmann. Ich bring dich jetzt nach Hause und dann wird alles gut.“ Als wir losgingen, öffnete sich erneut das Hochparterrefenster und der Bürgermeisterkopf erschien erneut. „Du kommst aber wieder, Gretel. Spätestens 23 : 00 Uhr hören wir auf, denn da müssten wir die Listen geschafft haben. Nun habe ich endlich mal deinen Sohn kennengelernt. Bis gleich!“ Mutti brachte mich nach Hause und das Prozedere des ersten Zubettgehens von 21 : 00 Uhr wiederholte sich. Am nächsten Tag sagte Mutti zu mir: „Klausmann, bei deiner gestrigen Laufaktion im Schlafanzug zum Gemeindeamt hat dich eine große Corona gesehen. Die kamen alle vom Biertrinken bei Leistners und waren sehr erstaunt, dass Jungs in Kleinwaltersdorf im Schlafanzug durch die Gegend rennen. Hast du denn davon nichts gemerkt?“

„Klar habe ich die gehört. Die wollten mir Angst machen und haben gesagt, sie kämen vom Mummum und ich sollte nur sehen, dass ich schnell wegkomme, sonst würde der mich abfangen und in den tiefen, dunklen Wald mitnehmen. Da bin ich natürlich noch schneller gerannt.“ Mama umarmte mich. „Ach, du lieber, kleiner Klaus – du tust mir so leid.“ Vierzig Jahre später, als wir wieder mal in unserer Erinnerungsrunde mit Tante Friedel zusammensaßen, schüttelte Mutti nur den Kopf. „Wie konnte ich damals nur so gefühllos sein. Ich habe den Klaus wieder nach Haus gebracht, dann ins Bett und bin wiederum ins Gemeindeamt gegangen. Aus heutiger Sicht finde ist das ganz einfach herzlos gegenüber dem damals kleinen, zurückhaltenden Jungen. Das würde ich nie wieder tun und bereue es!“

Als ich wieder einmal meine Mutti nach der Schule im Gemeindeamt besuchte, wurde ich Zeuge einer verrückten Begegnung. Wie manchmal, wenn der Bürgermeister nicht im Hause war, durfte ich in die Büroräume gehen, indem Mutti an einer Stelle die Tresenplatte hochklappte. Ich ging zu Tante Ursula, die kurz aufschaute und mir freundlich die Hand drückte. „Ach, der Klaus ist wieder einmal da. Da wird sich deine Mutti freuen.“ Diese kam auch gleich von einem hinteren Raum hereingestürmt und drückte mir zwei schmatzende, sehr feuchte Küsse auf die Wange. „Du sollst dich doch nicht immer nach jedem Kuss abwischen, noch dazu, wenn er von deiner Mama ist, Klausmann, das beleidigt mich. Ich bin doch deine liebe Mutti.“

„Das hat doch damit nichts zu tun. Es ist einfach ekelig – diese Spuckeschmiererei!“ Mutti schaute sehr gekränkt und wollte etwas erwidern – da ging die Tür auf und ein Schwall an begeisterten Reden, enthusiastischem Gezwitscher, Tatütata erfüllte den Raum. Tante Ursula schaute äußerst missbilligend, da sie in ihrer Arbeit gestört wurde. „Hier ist das Gemeindeamt und kein Tollhaus! Ich brauche Ruhe zum Arbeiten! Der Umsatzplan für das laufende Jahr muss morgen stehen!“ Dagegen schauten Mutti und ich fasziniert auf die zwei jungen Frauen, die, wie im Theater hergerichtet, aufgeregt und vergnügt herumtobten. Wie sich herausstellte, war die eine die Susi, des Bürgermeisters Jupp junge Frau. Wie mir Mutti später erzählte, war sie erst Mitte zwanzig und damit zirka zwei Jahrzehnte jünger als er. Sie hatte sich als Schulmädchen verkleidet und sah wahnsinnig adrett aus. Mir gefiel sie sehr. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, Lippen, Wangen, Augenbrauen und Lider stark übertrieben geschminkt. Besonders gefiel mir aber ihr äußerst kurzes Faltenröckchen, knallgelbe Absatzschuhe mit vielleicht fünfzehn Zentimeter Länge. Sie hatte lange, schlanke Beine und dies gefiel sogar mir jungem Knirps. Auf dem Rücken trug sie einen Schulranzen, drehte und wiegte sich in den Hüften aufgeregt hin und her. „Komm, Gretel, du musst dich auch arrangieren! Heute ist Fasching und bei Leistners eine große Fete. Die ist aber erst heute Abend. Jetzt gehen wir erst einmal hübsche Männer küssen und an Haustüren Lieder singen und Bettelverse vortragen. Vielleicht bekommen wir zur Belohnung eine Praline oder einen feinen Likör.“ Die andere Junge bewegte sich ähnlich, ließ aber die Susi reden. Sie war ganz anders gekleidet – hatte lange dunkle Hosen an, darunter aber auch Absatzschuhe, die knallrot waren. Oben trug sie eine Jacke mit senkrechten roten und schwarzen Streifen und um den Hals wiederum ein knallrotes Tuch. Auf dem Kopf war eine Schärpe, seitlich gebunden. Der Rest dieser Schärpe hing bis auf eine Schulter herab. Nun kam das ganz Fantastische – das rechte Auge war mit einer schwarzen Binde verschlossen, wobei die Bänder, die diese Binde hielten, diagonal um den Kopf verliefen und offensichtlich hinten verknotet waren. Noch verrückter war, dass sie in der Hand eine Pistole hielt. In meiner Fantasie sah ich ein Schiff mit einer Meute an Seeräubern. Geschminkt war sie wie Susi, vielleicht noch auffälliger. Nachdem die beiden so erst einmal im Vorraum für Aufregung und Furore gesorgt hatten, stürmten sie am Tresen vorbei in die Arbeitsräume. Als Erstes kam Ursula an die Reihe. Sie erhielt von Susi einen schmatzenden Kuss auf eine Wange. Ursula war sichtlich erschrocken (hätte sie die Attacke rechtzeitig gemerkt, wäre sie sicherlich davongerannt oder hätte ihr Gesicht mit beiden Händen zugehalten), lachte aber (mir kam es etwas pflichtgemäß vor) und flitzte zum Spiegel, wo sie sofort mit Taschentuch und Spucke das kirschrote Etwas wegzumachen versuchte. Dann war ich dran. Die andere, Muttis Freundin Zielonka, Anne, kam zu mir geflitzt, gab mir zunächst die Hand, dann aber blitzplatz hatte ich auch, und zwar rechts und links, einen knallroten Mund als Abdruck auf meinen Wangen. Mutti sah zu, lachte und war sehr fröhlich. Anschließend ließ sie sich auch von Susi auf beiden Wangen markieren und fragte, ich fand, etwas zappelig: „Weiß denn dein Mann, der Jupp, davon, was du vorhast? Er ist doch zurzeit zu einer Weiterbildung in Chemnitz.“